„Über 90 Jahre Geisterbahn-Erfahrung – Neue und Traditionsgeister eingetroffen!“ (Kirmes in Düsseldorf, im Juli 2014)
Freud schreibt 1919, „dass der Sprachgebrauch das Heimliche in seinen Gegensatz, das Unheimliche übergehen lässt, denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist.“
Fritz Wepper, Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn (1967 Rolf Olsen)
Hinter den Büchern: eine Pistole. Hinter dem Anschein: der Machtbeweis. Hinter dem Sohn: der Vater. „Dieser Film ist ein Tatsachenbericht“, ein St. Pauli-Krimi und ein Anti-LSD-Melodram. Kein Generationskonflikt, sondern die Verschmelzung von Vater und Sohn forciert das Drama. Eine Hamburger Ophelia halluziniert folgenschwer, sie verwechselt ihren Angebeteten mit dessen Papa! Die Alten und die Neuen, ununterscheidbar im Jahre 1967! Rolf Olsens Genrefilme sind – meist von ihm selbst geschrieben – so brachial wie subtil. Chirurgische Meißel.
Sein Mondo-Film Reise ins Jenseits (1975) ist ein weltumspannendes Grusel-Kompendium voll zwielichtiger Gestalten: Zahnärzte, Exorzisten und Elektroplasma-Experten, lauter schräge Onkels. Programmatisch ist die leibliche Präsenz des Gespenstigen, in Fleisch und Blut. Die internationalistische Geisterbahnfahrt rund um die Welt führt zuletzt in einen brasilianischen Verein, in dessen Partyräumen einander alle gegenseitig rituell und exzessiv vom Wahn befreien.
Margaret Rutherford in The Stately Ghosts of England (1965 Frank de Felitta): „Shakespeare“
Ein kleiner Exkurs. Ein dokumentarisches Road-Movie. Die Miss-Marple-Darstellerin und ihr Ehemann (Stringer Davis), beide als sie selbst, sind unterwegs auf Gespensterjagd. Die Stationen ihrer Reise sind malerische Spukschlösser, deren Bewohner höflich Auskunft geben, während Portraits von den Wänden herabschauen. In einem leeren Flur, der so leer ist und furchteinflößend ausdrucksvoll wie sonst nur die Flure in Freddie Francis‘ Filmen, wird über Nacht eine Filmkamera als Wächter aufgestellt. Eine verborgene Treppe hinterm Bücherschrank ist in dieser Atmosphäre nichts weiter Bemerkenswertes. Unter gotischen Bögen soll der Gesang toter Zisterziensermönche mit einem Nagra-Tonbandgerät aufgezeichnet werden. Man lauscht ins Dunkel der Nacht. Bis der Abspann vorbei ist. Dann huscht noch die Schriftspur eines Fettstifts über den Filmstreifen. *
Die New York Times berichtete 1965, es seien 7.000 Meter Film beim Entwickeln flaschengrün geworden.
„Durch Rigipswand und Verstand / Nicht nur über die Leitung von der Telefonschnur / Die Mutter hört stundenlang stur Telefonstimmen zu und sagt: Ja, Ja./ Irgendjemand benutzt sie.“ (Das weiße Pferd: Inland Empire – „Höhere Gewalt“, 2013)
Sebastian Haffner schreibt über die Dämonen: „Sie haben sich in den Maschinen häuslich niedergelassen und verwirren von dort aus in althergebrachter Weise das Leben der Menschen.“ („Der Dämon in der Hörmuschel“, 1936)
Derrida hat ganz Ähnliches weniger gut formuliert. Sein Buch über „Marx‘ Gespenster“ griff ich mir aus einem Regal und las drin rum, bis ich endlich was fand, das mir gefiel: „… dass jeder mit seinen Gespenstern liest, denkt, handelt, schreibt, auch wenn er es auf die Gespenster des anderen abgesehen hat.“ Marx ereifert sich über Max Stirner, „der wie er von den Gespenstern besessen“ … „noch vor ihm “ … „alle Exorzismen ausprobiert, und mit welcher Eloquenz, mit welchem Jubel, mit welchem Genuss!“ In Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“ (1844) spukt Alles; „auch die sogenannte Menschheit ist als solche nur ein Gedanke (Spuk); ihre Wirklichkeit sind die Einzelnen.“
Dana Andrews in Night of the Demon (1957 Jacques Tourneur)
Wovon Marx tatsächlich besessen war, erfuhr ich erst aus Günter Schultes „Kennen Sie Marx?“ (1992). In vergleichbar „aufschlussreiches Erschrecken“ versetzte mich nur „Die grausame Wahrheit der Bibel“ (1995).
Ich hatte ja keine Ahnung, wie sehr es im „Kapital“ spukt. Dass dort ein Tisch nicht lange „ein ordinäres sinnliches Ding“ bleibt, denn „sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.“
Die Ware ist ein Weibsteufel, ein Nachtgespenst namens Lilith. So bedrohlich weiblich wie Pamela Prati in Sukkubus (1989 Georg Tressler). Die Ware zerrt ihren Erzeuger in den Vergleich und durchs Verglichenwerden ins Verderben.
Und was geschieht mit den Töchtern? Das ist die wilde Sorge in einigen der schönsten Gruselfilme. Der gleiche brennendheiße Kummer befeuert aber auch Rolf Olsens Anti-LSD-Melodram Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn – und die Marxschen Schriften und den Fundamentalismus.
„Pelikan und Igel wohnen dort, darinnen hausen Eule und Rabe. Die Messschnur der Leere spannt er darüber aus…“ (Jesaia 34/11)
Zughalt auf der Strecke Köln – Nürnberg, in Stockstadt am Main.
Es wäre doch schön, wenn ein solcher Wohnungsbau mal gleichermaßen effektvoll in Szene gesetzt würde, wie es einst mit den Spukschlössern gelang.
„Bei allem, dessen ich bisher Zeuge gewesen bin, und ebenfalls bei all den Wundern, die von den Amateuren des Geheimnisvollen in unserem Jahrhundert berichtet worden sind, wurde ein menschliches Medium benötigt.“ (Edward Bulwer-Lytton: „The Haunters and the Haunted“, 1859)
Reginald Beckwith in Night of the Demon (1957 Jacques Tourneur), Zelda Rubinstein in Poltergeist (1982 Tobe Hooper), Geraldine Chaplin in El Orfanato (2007 J.A. Bayona), Vera Farmiga in The Conjuring (2013 James Wan). Diese vier Medien fallen mir ein, ohne lange nachzudenken.
Stefan Ertl gab mir den Hinweis auf Rolf Olsens Dokumentarfilm über den schwedischen Jenseitsforscher Friedrich Jürgenson. Schon vor langer Zeit war ich in „Gdinetmaõ“ auf dessen Autobiografie eingegangen. Nun protokollierte ich in SGE#23 den von Olsen verfassten Kommentartext seines nur auf VHS vermarkteten und deshalb recht unbekannten Films.
Last Gate To Eternity – Die Brücke zur Unsterblichkeit – Friedrich Jürgenson und seine andere Welt (Gestaltung, Kommentar und Realisation: Rolf Olsen; Regieassistenz: Ilse Olsen-Peternell; Schnitt: Barbara Riekel; Kamera und MAZ-Bearbeitung: Hubert Eisner; 1987 Scout Movies Production, München. Länge: 62 Minuten). *
Abtippen ist nicht mein Plaisir, aber Sätze wie die folgenden machen mir Freude: „Spätherbst – auch im Leben dieses Mannes, der in der Weisheit seines Alters, dem Frieden seiner Umgebung, nunmehr sein Lebenswerk vollenden möchte… Der ehemalige Opernsänger, Historiker und Archäologe verdient sich seinen Lebensunterhalt als Maler, dessen Bilder sich großer Beliebtheit erfreuen. Das versetzt ihn in die Lage, sich sein bedeutsames Hobby, die aufwendige Tonbandstimmenforschung, leisten zu können und dafür auch die nötige Zeit und Geduld mitzubringen.“
The Conjuring (2013 James Wan)
Teleskop und Mikroskop machten vor langer Zeit das Unsichtbare sichtbar. In diese Traditionsreihe stellt Friedrich Jürgenson sein Instrument: das Audioskop, das Unhörbares hörbar macht. Die Stimme der verstorbenen Mama war es, die er eines Tages mit Vogelstimmen zusammen aufzeichnete, und die ihn mit Nachdruck auf die vielen anderen hinwies, mit denen es von nun an zu kommunizieren galt. Der Empfang der Totenstimmen verlief über eine Mittelwellenfrequenz, auf der Skala zwischen Moskau und Wien. Das Unvermeidliche, der Tod, das Schwert über uns, es verliere seine Bedrohlichkeit, sagt Jürgenson, sobald man die Toten singen und scherzen hört.
Friedrich Jürgenson, Jahre der Forschung in Mölnbo
HÖÖR, SÜDSCHWEDEN, NOVEMBER 1986. „Heute lebt Jürgenson mit seiner Lebensgefährtin im beschaulichen Städtchen Höör im gemütlichen Haus seines ehemaligen Freundes, des dahingeschiedenen Mannes von seiner jetzigen Partnerin.“ Dessen Mitteilungen aus dem Jenseits sind die schönsten im ganzen Film, weil sie durch einen lauten Sturm von Mittelwellenrauschen hindurch vom frohen Viervierteltakt eines Schlagers getragen und von Jürgenson einmal nicht geduldig wiederholt werden, bis mit Mühe zu verstehen ist, was er versteht, sondern hier der Forscher schubweise in den rhythmischen Gesang des Geistes einfällt in munterem Schwung. Es muss auch erwähnt werden, dass der Anblick von Jürgensons rotem Pullover neben der mit Pferden bedruckten roten Bluse seiner Lebensgefährtin vor dunkelroten Topfpflanzen im Bildhintergrund, als wildharmonische Bildvariante trauten Glücks, hier in der Mitte des Films einem Sich-Sträuben auf die Sprünge hilft, nicht mehr nur ganz Ohr zu sein, stattdessen schauen zu wollen – an diesem beschaulichen Ort namens Höör.
Blick aufs Meer in The Uninvited (1944 Lewis Allens)
Als Friedrich Jürgenson zu Besuch bei einer Anhängerin, die Radiobotschaft „Hundekontakt in Vemmenhög“ erläutert, rauscht mitten hinein ins mühsam Unverständliche eine diagonale Wischblende und entführt uns von einem weißgetünchten, offenen Kamin auf eine regennasse und laut befahrene Straße. „Düsseldorf. Hier in der lebendigen Großstadt, Zentrum für Mode und zeitgemäße Industrie, ist auch der Sitz von Deutschlands größtem Tonbandstimmenforscherverein.“
Der Vereinsvorsitzende, Diplompsychologe und Schriftsachverständige Fidelio Köberle nahm Jürgensons Buch mit dem Titel „Sprechfunk mit Verstorbenen – Praktische Kontaktherstellung mit dem Jenseits“ als Skeptiker in die Hand, aber schon nach wenigen Seiten war er bekehrt und fand: „Der Mann ist echt, da ist was dran.“ – „Wie können Sie denn feststellen,“ wird Köberle gefragt, „ob es sich um ein paranormales Phänomen oder um einen Irrtum oder gar um eine Täuschung handelt?“ Nach nüchterner Darstellung zahlreicher verläßlicher Kriterien spricht der Experte von hochprozentiger Sicherheit. Aber auf die Frage „Kann man also Irreführungen aller Art so gut wie ausschließen?“ antwortet Köberle mit einem überraschend gutgelaunten: Nein. Man kann tricksen. Das ist sogar leicht, sagt er schmunzelnd. Gegen einen tricksenden Fachmann wären die Prüfer machtlos, sagt er ernst. Gefragt, ob es denn Betrüger gäbe, sagt er nachdenklich: „Im Anfang war es sicher kein bewußter Betrug, sondern Selbsttäuschung.“ Der Mann ist echt, das möchte man auch über Fidelio Köberle sagen.
Fidelio Köberle
Mir gefallen auch die Räume, die Köberle bewohnt, die wahlweise mit Holzfurnier oder mit Audiokassetten dicht an dicht getäfelt sind.
Die großen Gespensterfilme, von The Uninvited (1944) bis The Conjuring (2013), stellen in ihr architektonisches Kraftfeld hinein, mitten ins ängstigende Mobiliar, die Maschinen der Melancholie: ein Klavier oder einen Kassettenrekorder.
13 Monde gingen vorüber, bis sich mein Interesse am „NSA-Skandal“ regte. Die Radiomeldung, der NSA-Untersuchungsausschuss erwäge, um sich vor Ausspähung zu schützen, den Rückgriff auf mechanische Schreibmaschinen, hielt ich erst für einen Scherz. Dann las ich es schwarz auf weiß. Bei einem der letzten Treffen wurde aus Gründen der Abhörsicherheit bereits laute Musik eingesetzt: Griegs Klavierkonzert.
Was wird gespielt, und was wird zu hören sein, wenn sich nach der Sommerpause ein Nordrhein-Westfälischer NSU-Untersuchungsausschuss dem ungleich größeren, dem NSU-Skandal widmet?
Der 91jährige Lewis Allen gab im Interview mit Tom Weaver, 1997, Auskunft über das Geheimnis, wie man einen wirklich guten Geisterfilm macht: „Nun, ich denke das Entscheidende ist, so ehrlich und geradeaus zu sein, wie Du kannst. Kein Schwindler zu sein. Ich behandelte The Uninvited, als ob ich daran glaubte. Das ist meine ganze Erklärung.“
JLG in Room 666 (1982 Wim Wenders)
Fernsehen und Video waren die Gespenster im Hotel Martinez in Room 666, während der Filmfestspiele in Cannes (1982). Godard nahm sich Zeit, um das Kleine (den TV-Schirm), das Große (Hollywood) und das Kurze (die Werbung) als böse Mächte zu benennen, vor denen die Menschen machtlos „wie Kinder“ seien. Unter den vielen, die auf Wenders‘ Wunsch über den nahenden Tod des Kinos nachdenken sollten, bekamen nur zwei Musikuntermalung: JLG und RWF*. Fassbinder zog einen Bannkreis um sich und beschwor das „ganz nationale Kino Einzelner“.
Spielberg hingegen warnte vor Investoren, die das Zehnfache des Ausgegebenen als Einspielergebnis fordern. Sie seien geradezu gefährlich in ihrem Desinteresse an Filmemachern, die beispielsweise von ihrer Schulzeit erzählen wollen, oder davon wie es war, zum ersten Mal zu onanieren.
E.T. ist trotzdem entstanden, und lief als Abschlussfilm in Cannes.
Das „Heimliche-Heimische“ kehre als Unheimliches aus der Verdrängung wieder, schrieb Freud 1919. Doch: „Nicht alles was an verdrängte Wunschregungen und überwundene Denkweisen der individuellen Vorzeit und der Völkerurzeit mahnt, ist darum auch unheimlich.“
Ich versuche mir vorzustellen, Rolf Olsen (1919 – 1998) wäre mit einem Film in Cannes gewesen. Immerhin war 1982 Romero mit Creepshow eingeladen. Aber Olsens letzter Spielfilm – im Jahr zuvor – trug den Titel Ein Kaktus ist kein Lutschbonbon.
Georg Gerlich, „Schloss am Meer“, 1965, Museum Charlotte Zander, Bönnigheim. Mein Lieblingsmuseum.
Im Archiv: Mehr Verborgenes hinter Bücherregalen und mehr über E.T.