Donnerstag, 24.08.2023

Menschen im Deutschland von 1932

 

Filmtitel: Menschen im Deutschland von 1932

FWU-Film: Ja (FT 2000; 32 200 F)

Produktionsland: BR Deutschland

Produktionsjahr: 1932/1968

Filmdauer in Minuten: 25

Filmmaterial: SW, Ton

Originalformat: 35mm, 1:1,37

Produktion (Firma): FWU-Fassung: Ikaros-Film, Berlin

Regie (bzw. „Gestaltung“): Wilfried Basse, Wolfgang Kiepenheuer

Pädagogischer Sachbearbeiter im FWU: Wolfgang Scheidacker

Seite des Films auf filmportal.de

 

Daten zur Kopie

Kopienherkunft: DFF

Sichtungsformat: 16 mm, Acetatfilm, SW, Lichtton

Filmdauer: 26 Min.

Vermerkte Mängel: Filmriss beim Vorspann

Augenscheinliche Mängel: Schleifspuren

Weitere Materialien: Begleitheft, Laufkarte (Ausleihkarte) der Landesbildstelle Frankfurt/Main

Anmerkungen: Laut Laufkarte gab es 10 Ausleihen zwischen 1988-1997. Das Beiheft enthält Texte von Dr. Fritz Terveen und Gertrud Basse, der Witwe von Wilfried Basse.

 

Zum Inhalt:

In einem großen Rundumschlag – von der eher ländlichen Kleinstadt über das Leben in der Großstadt bis hin zu den Ballungszentren und Arbeitervierteln – zeigt der Film die Gesellschaft der Weimarer Republik. Er beginnt mit einem eher ländlichen Bild:

Klarinettenduett sorgt zu Beginn für eine sehr entspannte, beruhigte Atmosphäre → Schlafende Katzen, leere Straßen. (FG)

Kinder, Musiker auf der Straße zu sehen, Leute am Arbeiten, während im Hintergrund eine Art Folkmusik läuft. (FH)

Bald sind unterschiedliche Paraden im Bild zu sehen, die beim Zuschauen nur schwer eingeordnet werden können.

(Jagdverein?, öffentliche Würdenträger?). Danach dritte Parade -> Diesmal deutlich kirchlicher Natur; höchstwahrscheinlich Fronleichnam wegen der Monstranz, die der Pfarrer trägt. (FG)

Es scheint so, als wären viele Marschkapellen in der Stadt unterwegs. (TK)

Bei diesen Paraden werden viele Flaggen geschwenkt, jedoch immerzu lokale oder zeremonielle, keine Reichsflaggen. (FG)

Anschließend springt das Bild von der Altstadt in die moderne, automobile Großstadt.

Es existiert nur wenig Natur in den Innenstädten. Oder sieht das nur so aus, weil die Filme in schwarz-weiß aufgenommen wurden? (TK)

Von da an pendeln die verschiedenen Aufnahmen immer wieder zwischen Darstellungen von Armut, Arbeiterschicht und (gehobener) Mittelklasse hin und her.

Gerahmt durch die Darstellung der verschiedenen Stände bzw. Milieus, lassen sich u. a. die Auswirkungen der Industrialisierung erkennen. Das idyllische Landleben, steht dem schnellen Tempo der Großstadt mit einem breiten Konsumangebot gegenüber. (CM)

Der Film versucht die Modernisierung der Gesellschaft und die Lebensrealitäten / Auswirkungen auf die unterschiedlichen Klassen darzustellen. Es werden Urlaubsbilder am Strand neben Bildern eines Mannes und einer Frau, die ihre Karre selbst schieben müssen, gezeigt. (FH)

Während die klassische Ständepyramide an niedrigster Stelle die Bauernschaft bzw. den Arbeiter hat, geht der Film sogar weiter, wobei er jene zeigt, die erst die Arbeitslosigkeit trifft und welche dann schließlich vollends aus den Strukturen der normativen Gesellschaft fallen. (CMM)

Immer wieder Fokus auf spielende Kinder (im Dorf, im Park, auf der Kirmes) (FG)

Das FWU-Beiheft macht für die pädagogische Arbeit mit dem Film folgende Vorgabe: „Die Betrachtungsweise des Films ist unpolitisch; dem heutigen Publikum aber mit seinem Wissen um das Geschehen in den Jahren danach muss er in hohem Maße politisch erscheinen.“ Die kritische Prüfung dieser Behauptung war ein roter Faden in der Seminardiskussion. Auf den ersten Blick erscheint der Film zwar unpolitisch, er greift aber durchaus gesellschaftlich relevante Themen wie Klassengegensätze auf.

Alles in diesem Film sieht sehr alltäglich aus. Es hat nichts Dystopisches an sich. Das unterstreicht, wie „normal“ die Zeit war, wie wenig sich von der Machtübernahme und dem Krieg an der Lebensrealität der durchschnittlichen Bürger*innen ablesen ließ (TK)

Es verwundert allerdings wirklich zunächst, dass auch die politischen Verwerfungen, welche es bereits 1932 in der Weimarer Republik gab nirgends zu sehen waren. Zu jener Zeit war die NSDAP bereits stärkste Partei und die Republik wurde bereits seit 1930 von Hindenburg und seinen Reichkanzlern als Präsidialkabinett über Notverordnungen regiert. Das verzwickte politische Geschehen zwischen den Parteien und politischen Akteuren hätte evtl. dargestellt werden können – oder auch nicht. (CM)

Obgleich der Film unpolitisch erscheint – wahrscheinlich nicht zuletzt aufgrund der staatlichen Filmzensur durch das NS-Regime – und nichts von den politischen Unruhen im Rahmen der Wahlen von 1932 zeigt oder andersartig auf die außerordentliche Situation der Regierung verweist, welche seit 1930 nur noch von Hindenburg und seinen Reichkanzlern als Präsidialkabinett über Notverordnungen regiert wurde, greift dieser dennoch verschiedene soziologische Themen auf. (CM)

Bilder des Arbeitsamtes zum Ende hin verweisen deutlicher auf die Wirtschaftskrise und kontextualisieren noch mal die dargestellte Gesellschaft. (FH)

In unserem Forum wurde noch einmal darauf aufmerksam gemacht, welche politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Film abgesehen vom NS-Regime ausgelassen hat.

Dass der Chaco-Krieg, die japanische Invasion der Mandschurei oder der Große Emukrieg von 1932 nicht auf die Lebensrealität der Bevölkerung der Weimarer Republik einwirkten, befremdet aufgrund des räumlichen Abstands sowie des zeitlichen Versatzes nicht. (CM)

Auffällig ist, dass die Musik auf die gezeigten Bilder abgestimmt zu sein scheint.

Der Film versucht auch auf der musikalischen Ebene das Abgebildete zu repräsentieren → unterschiedliche Musik für unterschiedliche Klassen/Gruppen und Stimmungen (FH)

Schnelle Musik zum belebten Treiben der Stadt (TK)

Musik schwillt erneut an bei Militärmarsch (FG)

Sommerliches Volkslied setzt ein zu Bildern einer Urlaubssiedlung am Meer/See (FG)

Der Film endet mit einer Aufnahme von überwiegend jungen Leuten, die draußen Zeit verbringen, auf einer Wiese sitzen und rauchen. Die letzte Aufnahme ist ein Close-Up eines jungen Mannes, der in die Ferne schaut. Warum wurde sich ausgerechnet dieses Ende ausgesucht? (TK)

Dazu gab es zwei unterschiedliche Interpretationen in unserem Seminar:

Vielleicht eine Anspielung auf die fehlende Arbeit und Perspektivlosigkeit der Jugend? → Der Film versucht hier die Frage zu stellen: Wo liegt die Zukunft der Jugend in Deutschland? (FH)

Im Laufe des 19. Jh. erlangte [das Rauchen] wieder eine größere soziale Akzeptanz und galt für das aufstrebenden Bürgertum als Zeichen von Gelassenheit, Rang und Freiheit. Das Tabakqualmen stellte quasi ein Zeichen des bürgerlichen Emanzipationsstrebens dar. Das Recht auf öffentliches Rauchen war Teil der Deutschen Revolution 1848. […] Erst unter den Nationalsozialisten wurde das Rauchen allerdings wieder, auch aus medizinischen Gründen (vgl. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/8973234/ ), stigmatisiert und insbesondere für Frauen als Unart gekennzeichnet. […] Unter diesem Hintergrund lässt sich das Ende sowohl als Metapher für den freien Bürger und die Entledigung des wilhelminischen Kaiserreichs aber vielleicht sogar auch als unterschwellige Kritik der Filmemacher gegen die Erstarkung der Nationalsozialisten verstehen. (CM)

Weiteres:

Der Film Menschen im Deutschland von 1932 (1968) von Wolfgang Kiepenheuer ist die gekürzte FWU-Version von Deutschland – zwischen gestern und heute (1932 -1934) von Wilfried Basse. Der Originalfilm wurde für die Reichsstelle für Filme gedreht, dann jedoch während der NS-Zeit zensiert. Basse starb 1946. Signifikant unterscheidet sich diese Fassung von der ursprünglichen Version durch die fehlende Unterteilung in einzelne Kapitel wie auch den dazugehörigen Einblendungen von erklärendem Text. Ebenso kennzeichnend für den Neuschnitt sind teilweise abrupte Zäsuren in der Hintergrundmusik. Keine didaktische Struktur im Film durch den assoziativen Montageschnitt (FH). Dieser weist jedoch vermutlich auch daraufhin, dass für die Produktion der Neufassung nur eine Positiv-Kopie der geschnittenen Langfassung vorlag und kein weiteres Ausgangsmaterial wie Bild- oder Tonnegative. Dies wird auch nahegelegt durch die weißen Kreise (Überblend-Zeichen), die manchmal im Film auftauchen, und die darauf hinweisen, dass der 16mm-Kurzfassung eine 35mm-Verleihkopie zugrunde lag. Auch gibt es in der Neufassung keine Einstellungen, die in der früheren Fassung nicht enthalten waren.

Die Langfassung Deutschland zwischen gestern und heute ist im Bundesarchiv archiviert. (TH)

 

Teil des Dossiers „Sichten, Schreiben, Beschreiben: Zur Arbeit mit analogen Filmarchiven anhand von 16mm-Kopien aus der Bildungsarbeit der BRD“

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