Gesehen bei den Duisburger Dokumentarfilmtagen: „Nicht ohne Risiko“ von Harun Farocki
Von Michael Girke
Geldgeschäfte der neuesten Ökonomie. Lange hat Harun Farocki nach Möglichkeiten gesucht, diese filmisch fassbar zu machen. Plötzlich erteilten zwei Firmen Erlaubnis ihre Verhandlungen zu drehen. Farockis Dokumentarfilm ist ein zufällig gefundener. Man sieht den Bildern die Arbeit an, die sie gemacht haben, das enorme Geschick des Kameramanns, die Bemühung um Rhythmus. Zugleich treten Autor und Kinoapparat in den Hintergrund. Dies Verschwinden ist keine Selbstaufgabe, sondern ein Geschenk für Zuschauer. Die haben Ungewohntes vor Augen: Bilder, die zuhören, zusehen, geduldig registrieren.
Eine Firma entwickelt eine bahnbrechende Technik und braucht, um in die Produktion gehen zu können, Kapital. Eine andere Firma verleiht Geld und verlangt zur Reduzierung ihres Risikos Firmenanteile und Einfluss. Internationales Transaktionsgeschehen. Es ist bei Farocki verdichtet auf reale Verhandlungen real existierender Firmenvertreter: Ein Büroraum, ein Tisch, 6 Teilnehmer, hin und her fliegende Argumente, Einschätzungen, Probier- und Verführungsgesten, Schachzüge.
Farockis Kino ist so materialistisch, dass seine dramatischen Qualitäten leicht übersehen werden. Nicht dass Filme stets ihre eigene künstliche Wirklichkeit formen wird in ihm sichtbar, sondern wie viele filmische Eigenschaften die Wirklichkeit besitzt. Das Tischgespräch über den Geldtransfer erinnert an Pokerrunden im Western; niemand weiß, was die Mitspieler wirklich in der Hand haben; sichtbare echte Emotionen sind Verrat am Gewinnziel; Gesicht und Körpergesten müssen zu Maske und Schauspiel werden. Wenn der Firmenchef einmal das ökonomische Fachchinesisch nicht mehr versteht und hilflos ausgeliefert sich umsieht, ist ein Melodram angedeutet. Wenn die Kreditgeber berichten, ihre Tauschwertberechnung hätte rein gar nichts zu tun mit dem realen Firmenmaterial, sondern mit einer vollständig ausgedachten zukünftigen Entwicklung, dann ist der Zuschauer Zeuge, wie eine Realität und ihre Bewohner zu Gespenstern werden. Zu Objekten abstrakten Denkens.
Erstens ist der Kapitalismus eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat. Der Kapitalismus ist vielleicht der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus. Dies schrieb Walter Benjamin 1921. Diese Einsicht steht im Widerspruch zur Ökonomierhetorik von Politik, Presse und Wissenschaft. Die hämmert den Menschen täglich ein, der Kapitalismus regele sich zum Nutzen der Allgemeinheit auf strikt rationale Weise selbst. Was Benjamin mit bloß verbalen Mitteln behauptet, macht Farockis Film erfahrbar. Man sieht hochgebildete, mit allen Businesswassern gewaschene Unternehmer, wie sie mit ausgesuchten Anzügen, Büroausstattungen, Frisuren, Manieren den Schein von Rationalität zwanghaft erzeugen und zugleich eingestehen, ihre Geschäfte werden eigentlich von Psychologie, vom Bauchgefühl bestimmt und dass ihre Planungen sich nie realisieren; die haben den Charakter von Heilsversprechen. Wo Triebgeschehen in glatte Fassaden und Vokabeln gekleidet wird, ist Verdrängtes nicht weit. Ob man die Erfüllung des kapitalistischen Heilsversprechens sich selbst zugesteht, aber schon nicht mehr dem Anderen? Ob es Wachstumssucht ist, die Menschen als Funktionen betrachtet, als solche gewaltsam in Dienst nimmt oder ausspuckt – ohne Chance auf Gnade und Veränderung?
Warum die westliche Welt Wahrsager verspottet, in Nationalökonomen aber die Verwalter der Weltvernunft sieht? Vermutlich weil 15 Zeitungs- und Fernsehjahrgänge nicht annähernd so viel Realität enthalten wie 15 Minuten Kino von Harun Farocki. Seine neue Dokumentation ist wie von jemandem, der nach Jahrzehnten im Filmbetrieb das Kino noch einmal neu entdeckt. Widerstand gegen bestehende Verhältnisse sind seine Bilder aufgrund ihrer Machart. Sie entfalten sich befreit von ihrer alltäglichen Sklavenarbeit Erzählformen, normative Kategorien auszufüllen. Sie werden nicht von Theorien, von Anforderungsprofilen her gedacht. Lumiere aus Berlin. Die Realität der New Economy trifft den Zuschauer so unvermittelt wie der einfahrende Zug im ersten Film überhaupt.