Einträge von filmkritik

Montag, 31.01.2005

Viel zu spät aber immer wieder

Meine 17 Kinoinseln 2004 (ohne Hierarchie):

DIES IRAE – Carl Theodor Dreyer; MYSTIC RIVER – Clint Eastwood; THE FUGITIVE – John Ford; THE SUN SHINES BRIGHT – John Ford; WAGONMASTER – John Ford; EIN BESUCH IM LOUVRE – Straub/Huillet; LAND DER VERNICHTUNG – Romuald Karmakar; BIG BUSINESS – Leo McCarey; WHAT TIME IS IT THERE? – Tsai Ming-Liang; SOBIBOR – Claude Lanzmann; ELEPHANT – Gus Van Sant; ALBUM – Matthias Müller; JARMARK EUROPA – Minze Tummescheit; HAT WOLF VON AMERONGEN KONKURSDELIKTE BEGANGEN? – Gerhard Friedl; DOWN WITH LOVE – Peyton Reed; NICHT OHNE RISIKO – Harun Farocki; 21 GRAMS – Alejandro Inarritu.

MICHAEL GIRKE

Freitag, 26.11.2004

film hinweis

Sonntag, 28.11.2004, ab 21:00
Pirate Cinema Berlin
Ziegelstrasse 20

21:00 Uhr – Dziga Vertov: Three Songs About Lenin, Sowjetunion, 1934, 59 min, mit englischen Untertiteln

22:00 Uhr – Groupe Dziga Vertov: Vladimir and Rosa, Frankreich, 1970, 94 min, mit englischen Untertiteln

„Was den Film zu einem der unterhaltsameren Werke der Groupe Dziga Vertov macht, sind die Auftritte von Godard als Lenin und Gorin als Rosa Luxemburg, die während eines Tennismatches am Netz auf und ab laufen und über Revolution und Kino diskutieren.“ (mehr hier)

Mittwoch, 24.11.2004

Im Bauch des Kapitalismus

Gesehen bei den Duisburger Dokumentarfilmtagen: „Nicht ohne Risiko“ von Harun Farocki

Von Michael Girke

Geldgeschäfte der neuesten Ökonomie. Lange hat Harun Farocki nach Möglichkeiten gesucht, diese filmisch fassbar zu machen. Plötzlich erteilten zwei Firmen Erlaubnis ihre Verhandlungen zu drehen. Farockis Dokumentarfilm ist ein zufällig gefundener. Man sieht den Bildern die Arbeit an, die sie gemacht haben, das enorme Geschick des Kameramanns, die Bemühung um Rhythmus. Zugleich treten Autor und Kinoapparat in den Hintergrund. Dies Verschwinden ist keine Selbstaufgabe, sondern ein Geschenk für Zuschauer. Die haben Ungewohntes vor Augen: Bilder, die zuhören, zusehen, geduldig registrieren.

Eine Firma entwickelt eine bahnbrechende Technik und braucht, um in die Produktion gehen zu können, Kapital. Eine andere Firma verleiht Geld und verlangt zur Reduzierung ihres Risikos Firmenanteile und Einfluss. Internationales Transaktionsgeschehen. Es ist bei Farocki verdichtet auf reale Verhandlungen real existierender Firmenvertreter: Ein Büroraum, ein Tisch, 6 Teilnehmer, hin und her fliegende Argumente, Einschätzungen, Probier- und Verführungsgesten, Schachzüge.

Farockis Kino ist so materialistisch, dass seine dramatischen Qualitäten leicht übersehen werden. Nicht dass Filme stets ihre eigene künstliche Wirklichkeit formen wird in ihm sichtbar, sondern wie viele filmische Eigenschaften die Wirklichkeit besitzt. Das Tischgespräch über den Geldtransfer erinnert an Pokerrunden im Western; niemand weiß, was die Mitspieler wirklich in der Hand haben; sichtbare echte Emotionen sind Verrat am Gewinnziel; Gesicht und Körpergesten müssen zu Maske und Schauspiel werden. Wenn der Firmenchef einmal das ökonomische Fachchinesisch nicht mehr versteht und hilflos ausgeliefert sich umsieht, ist ein Melodram angedeutet. Wenn die Kreditgeber berichten, ihre Tauschwertberechnung hätte rein gar nichts zu tun mit dem realen Firmenmaterial, sondern mit einer vollständig ausgedachten zukünftigen Entwicklung, dann ist der Zuschauer Zeuge, wie eine Realität und ihre Bewohner zu Gespenstern werden. Zu Objekten abstrakten Denkens.

Erstens ist der Kapitalismus eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat. Der Kapitalismus ist vielleicht der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus. Dies schrieb Walter Benjamin 1921. Diese Einsicht steht im Widerspruch zur Ökonomierhetorik von Politik, Presse und Wissenschaft. Die hämmert den Menschen täglich ein, der Kapitalismus regele sich zum Nutzen der Allgemeinheit auf strikt rationale Weise selbst. Was Benjamin mit bloß verbalen Mitteln behauptet, macht Farockis Film erfahrbar. Man sieht hochgebildete, mit allen Businesswassern gewaschene Unternehmer, wie sie mit ausgesuchten Anzügen, Büroausstattungen, Frisuren, Manieren den Schein von Rationalität zwanghaft erzeugen und zugleich eingestehen, ihre Geschäfte werden eigentlich von Psychologie, vom Bauchgefühl bestimmt und dass ihre Planungen sich nie realisieren; die haben den Charakter von Heilsversprechen. Wo Triebgeschehen in glatte Fassaden und Vokabeln gekleidet wird, ist Verdrängtes nicht weit. Ob man die Erfüllung des kapitalistischen Heilsversprechens sich selbst zugesteht, aber schon nicht mehr dem Anderen? Ob es Wachstumssucht ist, die Menschen als Funktionen betrachtet, als solche gewaltsam in Dienst nimmt oder ausspuckt – ohne Chance auf Gnade und Veränderung?

Warum die westliche Welt Wahrsager verspottet, in Nationalökonomen aber die Verwalter der Weltvernunft sieht? Vermutlich weil 15 Zeitungs- und Fernsehjahrgänge nicht annähernd so viel Realität enthalten wie 15 Minuten Kino von Harun Farocki. Seine neue Dokumentation ist wie von jemandem, der nach Jahrzehnten im Filmbetrieb das Kino noch einmal neu entdeckt. Widerstand gegen bestehende Verhältnisse sind seine Bilder aufgrund ihrer Machart. Sie entfalten sich befreit von ihrer alltäglichen Sklavenarbeit Erzählformen, normative Kategorien auszufüllen. Sie werden nicht von Theorien, von Anforderungsprofilen her gedacht. Lumiere aus Berlin. Die Realität der New Economy trifft den Zuschauer so unvermittelt wie der einfahrende Zug im ersten Film überhaupt.

Freitag, 29.10.2004

langtexthinweis

Viennale 04 (Teil 2)
Wien, Samstag bis Montag, 23. bis 25.10.04
Von Simon Rothöhler

Freitag, 15.10.2004

langtexthinweis

JOHN FORDS Horizont. Von Manfred Bauschulte & Michael Girke

Aus dem Prolog:
„John Ford steht da als Monument des Kinos und ist doch zugleich ein großer Unbekannter. Er ist Hollywoods erfolgreichster Regisseur, vier Oscars für Regie erhielt er selbst, unzählige weitere Oscars und Nominierungen seine Filme. Er brachte Leinwandikonen hervor wie John Wayne, der Western wird auf ewig mit seinem Namen verbunden bleiben und ganze Bücher ließen sich füllen mit der Aufzählung all der Regisseure, die Ford bis heute ehrerweisend zitieren, ihn beklauen, kommentieren oder überbieten wollen. Aber wer wüsste schon, dass Ford Filme machte seit 1917, dass seine Karriere also beinahe die ganze Filmgeschichte umfasst, oder, dass er über sich selbst sagt, nicht seine Western sind wirklich gut, sondern seine billigen kleinen Filme ohne Stars über einfache Leute?
Fords Unbekanntheit begann offenbar schon zu Lebzeiten (er starb 1973). 1965 drehte er „7 Women“, seinen beinahe ausschließlich mit Frauen besetzten letzten Film, der in den von Veränderungsgeist bewegten 60ern heftig ignoriert wurde. Als Manfred Bauschulte und ich uns Anfang des Jahres aufmachten, „7 Women“ anzusehen und zu würdigen, begann ein Abenteuer. Dank der Unterstützung von Klaus Volkmer, ergab sich ein intensiver und regelmäßiger schriftlicher Austausch mit Tag Gallagher, dessen „John Ford – The Man & His Films“ eines der besten Filmbücher überhaupt ist. Gallagher schickte Videos, dank deren wir Filme wie „The Sun Shines Bright“, „Battle Of Midway“, „Wagonmaster“ im Original und ungekürzt sehen konnten, was zu Einsichten verhalf, von denen wir vorher nicht einmal etwas ahnten. Immer mehr verdichtete sich der Eindruck: Trotz einiger sehr verdienstvoller Arbeiten, wie der Hartmut Bitomskys in der FILMKRITIK, ist Ford im deutschen Sprachraum nie wirklich angekommen. Um so aufregender ist es, dass Danielle Huillet und Jean Marie Straub den Anstoß gaben zu einer Ford-Retrospektive bei der diesjährigen Viennale.
Warum diese umfassende, zeitraubende Beschäftigung mit einem Regisseur, der lange tot ist? Vielleicht muss man jeder Kinogeneration das Recht zugestehen, Vorgänger geflissentlich zu übersehen oder von ihnen gelangweilt zu sein. Gerade an John Ford aber lässt sich zeigen, wie fragwürdig eine Kinologik ist, die das jeweils Neueste auch für den höchsten Stand der Entwicklung hält. Filmgeschichte verläuft zugleich vorwärts und rückwärts. Holt man Kinomonumente wie Ford von ihren Sockeln und erlöst sie aus kanonischer Erstarrung, so lassen sich beim Betrachten alter Filme eben nicht nur „Meisterwerke“ oder vergangene Welten und ihre Probleme entdecken, sondern, es wird auch möglich, die Gegenwart mit anderen Augen zu erfassen. Und nur einer der Effekte dabei ist, dass manche Anmaßung und Ignoranz des heute selbstverständlichen und gültigen (Film-)Denkens sichtbar wird.
Wir hoffen, unser Gespräch zu „7 Women“, kann ein wenig dazu beitragen, zwei Brücken zu bauen; eine für das heutige Publikum zu Ford und erst recht eine Brücke für John Ford in die Gegenwart.“ (mehr hier)

Freitag, 27.08.2004

Cammell – Wild Side (100 Worte)

Am Ende des Films kann ich mich nicht entscheiden, ob ich ihn mochte oder nicht. Die Überfülle an Überdrehtheiten fügt sich zu dem Mangel an klarer Motivation der Erzählung. Überraschendstes Element für mich bleibt auch zwei Tage danach immer noch die Liebesgeschichte zwischen den weiblichen Protagonisten: der Ehefrau Brunos und seiner Lieblingsprostituierten. Stoff für einen weiteren pathologischen Auswuchs mit Bruno als seinem Zentrum. Tatsächlich jedoch: die wahre Liebe im naturalistischen Gewand gefilmt, durchgehalten bis zum Schluss. Für M. der Tod einer jeden Erzählung, für mich ein bisschen von beidem: Erzählungskiller und Überraschungsstifter – der erwartete Twist, die nächste Intrige bleibt aus.

(Stefanie Schlüter)

Cammell – Wild Side (100 Worte)

Doch wieder kurz an Fred Jameson und die „new representational situation“ gedacht. Dass es Cammell in seinem Abschiedsgruß an die Produktionsökonomie ‚des Systems‘ um spätkapitalistische Dereferentialisierung geht, wäre zuviel gesagt. Nur weil sich die Hochfinanz exaltiert und ein wenig geerdetes Verhältnis zu den eigenen Kapitalressourcen kultiviert. Andererseits: cash- und lovestreams werden so penetrant enggeführt, bis sich dieses immer wieder eingeschnittene Geldbündel-Bild noch einen Dreh weiter aus allen erzählerischen Sinnzusammenhängen verabschiedet. Zeigt nicht mal mehr Fetisch oder Tauschökonomie an. Auf der Montage-Ebene geht es aber eine heimliche Allianz mit dem ziellosen Privatjet ein: I’m a frequent flyer, I’m a notorious liar.

(Simon Rothöhler)

Donnerstag, 08.07.2004

Am Samstag, 10.7., 19.00 Uhr werden im Filmkunsthaus Babylon die beiden Cézanne-Filme von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, „Une visite au Louvre“ (2004) und „Paul Cézanne im Gespraech mit Joachim Gasquet“ (1989) gezeigt. Zu diesem Anlaß hat Klaus Volkmer eine umfangreiche Materialsammlung zusammengestellt, die Texte von Danièle Huillet, Stefan Hayn, Ingo Hohnhold, Jean-Charles Fitoussi, Jean Louis Schefer, Klaus Kanzog und eine Montage von Äußerungen Straubs bei verschiedenen Pariser Vorführungen von „Une Visite au Louvre“ versammelt. Zudem: Ein Text von Johannes Beringer, der die Filme auch im Babylon vorstellen wird, und unter dem Titel „Kassiber aus der idealen Stadt“ Auszüge aus einer Radiosendung mit Jean Rouch, in der er über die Filme von Straub / Huillet spricht. Dank an Klaus Volkmer!

Mittwoch, 26.05.2004

Rainer Knepperges schenkt uns einen Tipp:

Werkschau Louis de Funes – im Filmclub 813 in Köln
Zu entdecken: Gesicht und Körper eines Mannes, der in komplexester wie dümmster Situation stets ein – und zwar genau ein einziges – Gefühl ausdrückt, in unnatürlich kurzem Abstand aber dann das nächste, ganz andere, ebenso scharf akzentuiert. Und zwischen den Attacken seines pur artifiziellen Spiels – das Wunderbarste: die Pausen, um deren Bedeutung er weiß, und die er deshalb mit reiner Leere füllt.
Informationen unter Filmclub813.de

Donnerstag, 22.04.2004

langtexthinweis

* Wie man das 21. Jahrhundert erzählt – Michael Girke zu Heinz Emigholzs neuem Buch Das Schwarze Schamquadrat


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