Einträge von filmkritik
Dienstag, 21.06.2011
Freitag, 03.06.2011
Donnerstag, 14.04.2011
A TOUT PRENDRE (Alles in allem)
Dir: Claude Jutra
Ein Schwarzweißfilm in 1:1,33 aus Quebec, 1963. Ein Mann erzählt seine Liebschaft mit einer wunderschönen Frau – die auf einer Party, ein kreolisches Lied singend, in sein unabhängiges Singledasein hereinbricht wie die aufgehende Sonne. Pure Lebenslust, Sinnesfreude, Freiheit, Vertrauen, manchmal auch etwas Schwermut strahlen aus den Bildern ihrer Begegnungen, Bewegungen, Umarmungen. Alles ist leicht, beschwingt, fragmentarisch erzählt, in diesem frischen Atem des Aufbruchs der 60er – mit meisterhafter „Handlungslosigkeit“ und doch alles in Bewegung. Die Hälfte des Films spielt im winzigen Apartment des Mannes, das nicht viel mehr als ein Bettsofa enthält. Das schmale Fenster fungiert als Ersatztür zum Nachbarn, wenn man sich Whisky oder Schallplatten ausleiht. Und als schmaler Ausblick in die Welt, wo Kinder Cowboy spielen und Männer erschießen, die Frauen küssen.
Der autobiografische Spielfilm (Jutra selbst spielt den Protagonisten) strotzt von visuellen Einfällen und ist gedreht in cinema direct-Stil (gewidmet Norman McLaren und Jean Rouch), aufgemischt mit Phantasiesequenzen, in denen Gangster und schwule Ledertypen den Mann verfolgen, oder Ausflügen in die Filmwelt (der Protagonist agiert als Regisseur bei einem Dreh/charmant demonstriert François Truffaut der Kreolin einen Zigarettentrick). Wenig synchrone Dialogszenen, musikuntermalte Montagen, in knappen selbstironischen Sätzen kommentiert der Mann die Ereignisse.
Das Drama nimmt seinen Lauf, als die schöne Frau schwanger wird. Der bisher so verliebte Mann, der trotz mehreren Seitensprüngen doch schon selbst ans Heiraten gedacht hat, gerät plötzlich ins Schwanken. Jutra montiert Bilder eines Hausabrisses in einen langen Wortwechsel des Paares über die Zukunft zu dritt.
Der Mann konsultiert seine Mutter, eine moderne Frau, die die Finanzen der wohlhabenden Familie im Griff hält und ansonsten ihre Hunde liebt, um ihre Meinung zum Heiratsprojekt zu hören: sie schildert sehr rational, was das für ihn bedeuten wird, dass er seinen freizügigen Lebensstil ändern, finanzielle Verpflichtungen und Verantwortung übernehmen müsse… Und der Mann läßt auch die blumig moralischen Platitüden eines befreundeten Priesters über sich ergehen.
Und dann tatsächlich kündigt der Mann seine Liebe auf. Einfach am Telefon, ein Schlag ins Gesicht. Unter dem moralischen Druck der Situation (und eines alten Freundes der Frau) leiht er sich Geld von seiner Bank, kein Problem, welches er der Frau für die Kosten einer Abtreibung schickt. Sie – hockt in Tränen vor seiner Tür, schreibt verzweifelte Briefe. Später enthält einer die Nachricht, dass sie das Kind auf natürliche Weise verloren habe. Der Mann hat Selbstmordvisionen, lebt aber weiter. Und der Film endet, einfach so, und liefert keinen anderen Grund als den unlösbaren sozialen Konflikt. Ein weißer Mann aus guter Familie heiratet kein schwarzes Fotomodell.
– Dagmar Kamlah –
Montag, 21.03.2011
Zwei Texte aus dem Nachlass von Günter Peter Straschek
Zwei Texte aus dem Nachlass des Filmexilforschers Günter Peter Straschek über Fritz Lang und Lindtberg & Sirk. (Geschrieben im Sommer 2009.)
Sie wurden von Hans Hurch als Teil des Programms „Für Straschek“ bei der Viennale am 30. Oktober 2010 im Stadtkino Wien zusammen mit anderen Texten vorgelesen.
Mit einem Dank an Karin Rausch.
Freitag, 31.12.2010
2010 – 12 Listen
– Michael Baute –
Alt
Anonym – Saarbrücken (D 1905) * Allan Dwan – Manhattan Madness (USA 1916) * Werner Hochbaum – Razzia in St. Pauli (D 1932) * Allan Dwan – While Paris Sleeps (USA 1932) * Frank Wysbar (später: Wisbar) – Fährmann Maria (D 1936) * Mitchell Leisen – Easy Living (USA 1937) * Thorold Dickinson – Gaslight (UK 1940) * Allan Dwan – Trail of the Vigilantes (USA 1940) * Howard Hughes – The Outlaw (USA 1943) * Peter Pewas – Der verzauberte Tag (D 1944) * Edmund Goulding – Nightmare Alley (USA 1947) * Allan Dwan – Surrender (USA 1950) * Jacques Tourneur – Stars In My Crown (USA 1950) * Jacques Becker – Casque d’or (France 1952) * Allan Dwan – Silver Lode (USA 1954) * George Cukor – A Star Is Born (USA 1954) * Allan Dwan – The River’s Edge (USA 1957) * Youssef Chahine – Bab el hadid (Egypt 1958) * Dino Risi – Il Sorpasso (Italy 1962) * Michael Klier – Ferrari (BRD 1965) * Klaus Lemke – 48 Stunden bis Acapulco (BRD 1967) * Claude Sautet – Vincent, François, Paul… et les autres (France 1974) * Claude Sautet – Mado (France 1976) * Blake Edwards – Blind Date (USA 1987) * Clint Eastwood – Bird (USA 1988) * Georg Tressler – Sukkubus – den Teufel im Leib (BRD 1989) * Marco Bellocchio – Buongiorno, notte (Italy 2003) * Sean Penn – Into the Wild (USA 2007)
Neu
Jacques Audiard – Un prophète (France, Italy 2009) * Hakan Algül – Eyvah Eyvah (Turkey 2010) * Stefan Hayn und Anja-Christin Remmert – Weihnachten? Weihnachten! (D 2009) * Benoît Jacquot – Villa Amalia (France 2009) * Adam McKay – The Other Guys (USA 2010) * Franz Müller – Die Liebe der Kinder (D 2009) * James Benning – Ruhr (D 2009) * Manoel de Oliveira – Singularidades de uma Rapariga Loura (Portugal 2009) * Mia Hansen-Løve – Le père de mes enfants (France 2009) * Thomas Arslan – Im Schatten (D 2010)
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– Johannes Beringer –
Veduta + Festival (Jean-Claude Rousseau, F 2010, 2 Min. + 80 Min.) (Viennale)
La Vallée close (Jean-Claude Rousseau, F 1995, 143 Min.) (DVD, mit Begleitbuch bei Capricci 2008)
Ruhr (James Benning, D 2009, 120 Min.) (Kino fsk, Berlin, 1.9.2010)
Roberte + Le Secret de Monsieur L. (Pierre Zucca, F 1978, 100 Min. + F 1985, 59 Min.) (DVD)
Nikt nie wola / Niemand ruft (Kazimierz Kutz, Polen 1960, 86 Min.) (DVD)
Anna Magnani von Luchino Visconti, aus dem Episodenfilmm Siamo Donne: Ingrid Bergman – Anna Magnani – Isa Miranda – Alida Valli (Italien 1953, 93 Min.) (DVD)
Flug durch die Nacht (Ilona Baltrusch, BRD 1980, 90 Min.) (Kino Arsenal / Berlinale Forum)
Moe No Suzaku (Naomi Kawase, Japan 1997, 95 Min.) (Werkschau im Regenbogenkino, Berlin)
Forty Shades of Blue (Ira Sachs, USA 2005, 105 Min.) (3SAT, 30.3.2010)
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– Daniel Eschkötter –
Filme, Serien, Episoden 2010
Aquele Querido Mês de Agosto (Miguel Gomes, P/F 2008)
Autobiografia lui Nicolae Ceausescu (Andrei Ujica, RO 2010)
Carlos (Olivier Assayas, F/D 2010)
Dinner for Schmucks (Jay Roach, USA 2010)
Im Schatten (Thomas Arslan, D 2010)
Les herbes folles (Alain Resnais, F/I 2009)
Loong Boonmee raleuk chat (Apichatpong Weerasethakul, Thailand u.a. 2010)
My Son, My Son, What Have Ye Done (Werner Herzog, USA/D 2009)
Ne change rien (Pedro Costa, P/F 2009)
Putty Hill (Matthew Porterfield, USA 2010)
Shutter Island (Martin Scorsese, USA 2010)
Singularidades de uma Rapariga Loura (Manoel de Oliveira, P/E/F 2009)
The Bad Lieutenant: Port of Call – New Orleans (Werner Herzog, USA 2009)
The Other Guys (Adam McKay, USA 2010)
Vapor Trail (Clark) (John Gianvito, USA 2010,)
Eastbound & Down, Season 2 (Jody Hill, Danny McBride, Ben Best, David Gordon Green, HBO 2010)
Justified, Season 1, Ep. 3, Fixer & Ep. 4, Long in the Tooth (created by Graham Yost, FX 2010)
Louie, Season 1 (created by Louis C.K., FX 2010)
Mad Men, Season 4, Ep. 8, The Summer Man (created by Matthew Weiner, AMC 2010)
Rubicon (created by Jason Horwitch, AMC 2010)
Weil sie böse sind (Florian Schwarz, Tatort Frankfurt, HR 2010)
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– Michael Girke –
Es war, noch mehr als sowieso, ein Jahr der Zurückgezogenheit, der Stille, der Bücher.
Wenige Filme bloß
Kino: „Sterne“ von Frank Wierke; „Von der Vermählung des Salamanders mit der grünen Schlange“ von René Frölke;
DVD: Klaus Wildenhahn, „14 Filme (1965 – 1991)“
Bücher
Peter Waterhouse, „Der Honigverkäufer im Palastgarten und das Auditorium Maximum“;
Undine Gruenter, „Epiphanien, abgeblendet“;
Walt Whitman, „Grasblätter“;
Gerhard Meier, „Das dunkle Fest des Lebens“;
Johann Peter Hebel, „Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreunds“;
Johann Gottfried Seume, „Spaziergang nach Syrakus“;
Phillippe Jaccottet, „Antworten am Wegrand“, „Der Pilger und seine Schale“, „Notizen aus der Tiefe“;
Jürgen von der Wense, „Geschichte einer Jugend“, „Wanderjahre“;
John Berger, „SauErde“, „Hier wo wir uns begegnen“, „Geschichte eines Landarztes“
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– Bettina Klix –
Das Jahr 2010
Des hommes et des dieux, Xavier Beauvois, 2010
The Japanese Wife, Aparna Sen, 2010
Edipo Re, Pier Paolo Pasolini, 1967
Imitation of Life, Douglas Sirk, 1959
Moses und Aron, Straub/Huillet, 1974
Francesco, giullare di Dio, (Franziskus, der Gaukler Gottes), Roberto Rossellini, 1950
O Sangue, Pedro Costa, 1989
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– Rainer Knepperges –
20 Filme – im Kino
Charlton Heston > 55 Days at Peking (Nicholas Ray 1963)
Rafael Bertrand > Misterios de Ultratumba (Fernando Méndez 1959)
Vera Farmiga > Up in the Air (Jason Reitman 2009)
Demet Akbag > Eyyvah Eyvah (Hakan Algül 2010)
Robert de Niro > Everybody’s Fine (Kirk Jones 2009)
Lea Giunchi > Lea e il gomitolo (1913)
Un Monsieur qui a mangé du taureau (1909)
Carol Dempster > Isn’t Life Wonderful? (D. W. Grifftith 1924)
Jemaine Clement > Gentlemen Broncos (Jared Hess 2009)
Josette Andriot > Protéa (Victorin-Hyppolite Jasset 1913)
Cyd Charisse > It’s Always Fair Weather (Donen & Kelly 1955)
Bibi Andersson > Beröringen / The Touch (Ingmar Bergman 1971)
Ludivine Sagnier > Crime d’amour (Alain Corneau 2010)
Russell Brand > Get Him to the Greek (Nicholas Stoller 2010)
Warren William > Imitation of Life (John M. Stahl 1934)
Will Ferrell > The Other Guys (Adam McCay 2010)
Lucy Gordon > Gainsbourg (Joann Sfar 2009)
Yusuf Çatak > Namibya Şehir Iken (Ilker Çatak, Johannes Dunker 2010)
Stefan Lampadius > Thomas, Thomas (Corinna Liedtke 2010)
Marisa Tomei > Cyrus (Jay & Mark Duplass 2010)
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– Sebastian Markt –
Funny People (Judd Apatow / 2009)
Adventureland (Gregg Mottola / 2009)
Die Quereinsteigerinnen (Rainer Knepperges, Christian Mrasek / 2005)
Låt den rätte komma in (Tomas Alfredson / 2008)
Paul (Klaus Lemke / 1974)
Der Räuber (Benjamin Heisenberg / 2010)
Orly (Angela Schanelec / 2010)
Im Schatten (Thomas Arslan / 2010)
Kasaba (Nuri Bilge Ceylan / 1998)
Double Tide (Sharon Lockhart / 2010)
Swelter (Krišs Salmanis / 2009)
Fantastic Mr. Fox (Wes Anderson / 2009)
Tie Xi Qu: West of the Tracks (Wang Bing / 2003)
Plätze in Städten (Angela Schanelec / 1999)
La Rossière de Pessac (Jean Eustache / 1968 u. 1979)
Seinfeld (Larry David, Jerry Seinfeld / 1989-1998)
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– Volker Pantenburg –
2010, Neues und Altes Neues
48 – Susana de Sousa Días ¶ An Affair to Remember – Leo McCarey ¶ Autobiografia lui Nicolae Ceausescu – Andrej Ujica ¶ Aventurera – Alberto Gout ¶ Cat People – Paul Schrader ¶ Coming Attractions – Peter Tscherkassky ¶ Der lachende Mann – Walter Heynowski, Gerhard Scheumann ¶ Días de otoño – Roberto Gavaldón ¶ Double Tide – Sharon Lockhart ¶ Easy Living – Mitchell Leisen ¶ Eisenzeit – Thomas Heise ¶ Enamorada – Emilio Fernández ¶ Gap toothed Women – Les Blank ¶ Heroes for Sale – William A. Wellman ¶ Il Sorpasso – Dino Risi ¶ Im Schatten – Thomas Arslan ¶ Loong Boonmee raleuk chat – Apichatpong Weerasethakul ¶ Meek’s Cutoff – Kelly Reichardt ¶ Night Nurse – William A. Wellman ¶ Picnic – Joshua Logan ¶ Putty Hill – Matthew Porterfield ¶ Rubicon – Jason Horwitch / Henry Bromell ¶ Shadow Cuts – Martin Arnold ¶ Singularidades de uma Rapariga Loura – Manoel de Oliveira ¶ The Band Wagon – Vincente Minnelli ¶ The Fantastic Mr. Fox – Wes Anderson ¶ The Foot Fist Way – Jody Hill ¶ The Other Guys – Adam McKay ¶ Water Pulu 1869 1896 – Ivan Ladislav Galeta ¶¶
Außer Konkurrenz:
My Hand Outstretched to the Winged Distance and Sightless Measure – Robert Beavers ¶¶
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– Bert Rebhandl –
The Box (Richard Kelly) Kino
Manoro/The Teacher (Brillante Mendoza) Kino
Breaking Bad Seasons 1-3 (Vince Gilligan) DVD + Torrent
Six Colorful Inside Jobs (John Baldessari) Ausstellung
Winter’s Bone (Debra Granik) DVD
Chouga (Darezhan Omirbajew) Kino (üble Beta-Projektion)
FC Barcelona – Real Madrid 5:0 (29. November 2010) Sportbar Sky Italia HD
Des hommes et des dieux (Xavier Beauvois) Filmfestival
Inside Job (Charles Ferguson) Filmfestival
Coming Attractions (Peter Tscherkassky) Filmfestival
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– Stefan Ripplinger –
Von den Filmen, die ich 2010 zum ersten Mal gesehen habe, werde ich im Gedächtnis behalten:
Vampyr (Dreyer, 1932)
The River (Renoir, 1951)
Jalsaghar (Ray, 1958)
Quixote (Baillie, 1965)
L’armée des ombres (Melville, 1969)
Archiv der Blicke (Neumann, 1985)
El Greco in Toledo (Emigholz, 1987 / 2010)
Das letzte Jahr (Wyborny, 2003–2009)
You Will Meet a Tall Dark Stranger (Allen, 2010)
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– Stefanie Schlüter –
Milena Gierkes »Blessing Animals« (1994) und andere sehr schöne Super8-Filme
»Im Schatten« von Thomas Arslan (2010) auf der diesjährigen Berlinale
»Podwórka« von Sharon Lockhart (2009) in der Galerie neugerriemschneider
»A & B in Ontario« von und mit Joyce Wieland und Hollis Frampton (1966/1984) am Schneidetisch
»Kopfüber im Geäst« von Ute Aurand (2010) in Oberhausen
Kenneth Angers Theremin-Performance anlässlich des 40. Geburtstags der Anthology Film Archives
»Ming Green« von Gregory Markopoulos (1966) in New York
»Enamorada« von Emilio Fernández (1946) und weitere Mexikanische Melodramen im Arsenal
»Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives« von Apichatpong Weerasethakul (2010) im Kino in Berlin
Konzentrierte Werkschau von Robert Beavers im Österreichischen Filmmuseum; ein Meilenstein: »From the Notebook of« (1971/1998)
»The Band Wagon« von Vincente Minnelli (1953) im Arsenal
Freitag, 24.12.2010
Freitag, 22.10.2010
Ab Morgen im Kunsthaus Bregenz:
* Harun Farocki: Weiche Montagen / Soft Montages, 23. Oktober 2010 bis 9. Januar 2011.
Neu auf der Langtextseite:
* Matthias Rajmann: Hin und Her. Auszüge aus den Recherchen zu „Vergleich über ein Drittes“ und „Zum Vergleich“ von Harun Farocki.
Dienstag, 12.10.2010
Paul Schrader
Kann ich gar nichts behalten? Was ist von mir noch übrig? So könnten viele Figuren in Paul Schraders Filmen fragen. Das tun sie aber nicht.
Sie fragen »Was bin ich wert?«, wenn sie vergeblich hoffen, sich freikaufen zu können. Oder sie sagen: »Einige meiner Illusionen wurden zerstört«, wenn ihr bisheriges
Leben in Trümmern daliegt.
Ihnen werden existenzielle Entscheidungen in Form drastischer Bedrohungen aufgezwungen.
Einer muss zum Mörder werden, wie John LeTour in »Light Sleeper«. Manche sehen ihre bisherige Existenz vernichtet, ihren Ruf ruiniert und finden sich des Mordes angeklagt, wie Julian Kay in »American Gigolo« oder Carter Page III in »The Walker«. Eine Figur muss gar ihren menschlichen Körper aufgeben: Irina Gallier in »Cat People«.
Das bisherige Leben der Figuren war, bevor der Film sie in die Hände bekommt, ganz erfreulich, oft sogar erfolgreich, sie genossen eine gewisse Unabhängigkeit, waren gut vernetzt, doch enthüllt sich bald, dass sie etwas Entscheidendes übersehen oder den Falschen vertraut haben. Während ihnen ein Privileg nach dem anderen genommen wird, oder eine Sicherheit nach der anderen, müssen die Figuren ihre Werte neu definieren. Sie werden auf das reduziert, was sie sind, wobei sie oft noch gar nicht wissen, wer oder was das ist, und erfahren dabei bis zur letzten Konsequenz den Verlust ihrer bisherigen Identität. Aber genauso sicher hängt davon auch die Hilfe, die Lösung, die Erlösung ab, dass sie den Weg zu Ende gehen oder sich ihrem Schicksal ergeben. Dann erhalten sie ein neues Leben, eine neue Liebe, einen neuen Körper.
Schraders Filme zeigen uns verschiedene Formen von Gefangenschaften, solche außerhalb von Gefängnismauern, in sozialen Gefängnissen, in Abhängigkeiten, von öffentlicher Meinung in Schach gehalten. Sie zeigen ein Entführungsopfer, das durch die Freiheitsberaubung und Gehirnwäsche von sich selbst getrennt wird.
Aber sie führen auch vor, wie jemand im eigenen (menschlichen) Körper gefangen ist. Dass Menschen in ihren Körpern eingesperrt sind, das scheint für Schrader die Voraussetzung, von der er ausgeht. Ganz in der platonischen Tradition, die der Calvinismus (Schraders konfessioneller Hintergrund) nicht unterbrochen hat. Seine Filme behandeln jedoch besondere Ausnahmen.
Viele der Filme haben kurze Episoden, meist gegen Ende, die in einem Gefängnis spielen, und immer versprechen diese Räume ein Aufatmen, eine neue Freiheit. Oft finden viele vorherige Suchbewegungen im Film an diesem Ort ein Ende.
In Schraders Filmen gibt es viele Formen des (Sich-) Suchens und Findens. Manche Suche ist geradezu selbstzerstörerisch und die Suchenden können von Glück sagen, dass äußere Hindernisse den Weg versperren. Oft haben wir es mit Figuren zu tun, die in der Freiheit ihre Suche begannen, aber nicht beenden konnten, keine Entscheidung treffen konnten. Manchmal wussten sie nicht, dass sie nach sich selbst suchten.
Wenn ein Paar nicht zueinander finden konnte, und einer der beiden gefangen gesetzt wurde, beginnt auch der Suchende, der sich noch in Freiheit befindet, wieder klar zu sehen.
Im Epilog seiner Filme bringt Schrader oft zwei Figuren zusammen, die durch eine Geste der Erlösung verbunden sind: In »American Gigolo« Julian Kay und Michelle Stratton, in »Light Sleeper« John LeTour und Ann, in »Cat People« Irena Gallier und Oliver Yates.
Es wird beschrieben, wie Schrader seine Figuren preisgibt – und rettet.
* Vorwort zu Bettina Klix, Verlorene Söhne, Töchter, Väter. Über Paul Schrader, Reihe Filit, Band 6, Verbrecher Verlag, 2010.
* Buchvorstellung am 19. Oktober, 20.30 Uhr, Monarch, Skalitzer Str. 134.
Donnerstag, 07.10.2010
Langtexthinweis
* „Der gehende Mann“ von Aurelia Georges – Anmerkungen und Notizen
Manfred Bauschulte zu „L’homme qui marche“ (Der gehende Mann), Regie und Buch: Aurelia Georges, Frankreich 2007
Dienstag, 20.07.2010
DOURO, FAINA FLUVIAL (dt: Harte Arbeit am Fluss Douro), stumm, 1931, von Manoel de Oliveira
Ein Film über einen Fluss, der nicht an der Quelle beginnt, sondern dort wo er endet, im Meer. Ein blinkendes Leuchtturmlicht, die Brandung, die Mole. Den Schiffen folgend, die stromauf gleiten. Jedoch nur bis in den Hafen, die alte Stadt Porto, wo die hohe Ponte Dom Luis I den Fluss überspannt. Eine imposante Stahlkonstruktion für Bahn und Fußgänger, 1886 eingeweiht, erbaut von einem Partner Gustave Eiffels. Der Film zelebriert die Industrialisierung in einer sowjetisch-ekstatischen Montagesequenz über diese Brücke, fast wie in einem Zitat, unter ihrem hohen Bogen breitet sich im Folgenden jedoch der fast mittelalterlich anmutende Alltag einer Hafenstadt aus. Schiffe manövrieren, legen an, entladen ihren Fang, Möwen, Lastenträger, Karren, Marktfrauen. Vor der Kulisse der Stadt, die die steilen Berghänge hinaufgewachsen ist, ihre Straßen führen zurück in den Fluss.
Portugal 1930. Von heute aus: welche Armut, das Volk in Lumpen. Die Fischhändlerin wedelt lüstern einen Fisch in der Luft, beäugt von einem hungrigen Tagelöhner, er kratzt zwei Münzen aus der zerfetzten Tasche, knallt sie auf den Stand zwischen all die andern Fische wie eine Anklage: wovon soll ich leben?!
Die kleinen Geschichten weben sich unmerklich in den strukturell orientierten Bilderstrom. Eine Frau hat einem jungen Arbeiter das Essen gebracht. Sie hocken nebeneinander, sein Blick fällt auf ihre zur Seite geknickten bloßen Beine. Zwischenschnitt auf einen Poller. Der Mann berührt die stramme Wade. Die Frau packt das Essgeschirr zusammen.
Eine dramatische Szene fast am Ende des Films. Im Hafenchaos geht ein Ochsenkarren durch, ein Mann (der Kutscher?) will die schweren Tiere mit einem Knüppel aufhalten, wird aber überrollt. Die Menge läuft zusammen, selbst die Kohlenschipper im Bauch des Lastkahns unterbrechen die Arbeit. Der bewußtlos auf dem Pflaster liegende Mann wird aufgerichtet, scheint nicht schwer verletzt, Schnitt auf den etwas entfernt liegenden Knüppel. Der Mann reißt sich los, greift nach dem Knüppel, will wütend auf die Tiere los, er wird von anderen Männern gehindert. Alles geht furchtbar schnell. Kurz darauf kitzelt jemand – ist es der Kutscher? – die Nase eines Ochsen, bis die Zunge seine Wange leckt.
Diese Miniaturen lassen sich erzählen, während der Film eigentlich unablässig weiterrollt, in schönstem natürlichen Licht, in überbordender Montage. Der Regisseur war inspiriert von Ruttmanns Berlin-Sinfonie.
– Dagmar Kamlah –