Einträge von Johannes Beringer

Dienstag, 25.02.2014

Détresse

Es ist natürlich nicht so, dass es in der Spassgesellschaft keine Abgründe mehr gäbe – im Gegenteil. Am Himmel der Tag (Pola Beck, D 2012) ist ein Film, der das leistet: zu zeigen, wie eine junge Frau in einen solchen Abgrund fällt. Wie das benennen? Was ist das für ein Zustand? (Mir fällt dazu das französische Wort ‚détresse’ ein.) Die Architekturstudentin Lara (Aylin Tezel), die man beim Herumalbern mit ihrer Freundin und im Amüsierbetrieb des Nachtclubs sieht, hat kurzen Sex mit einem Unbekannten (der in der Disko hinter der Theke steht) – und wird schwanger. Nach einiger Zeit besinnt sie sich ernsthaft: sie will das Kind austragen, ihr Leben auf die Reihe kriegen (was sie schon mal von ihrer vorherigen Umgebung entfernt). Dass aber das Kind nach sechs Monaten sich nicht mehr rührt in ihrem Bauch, darauf ist sie nicht vorbereitet – das stürzt sie in eine Gemütsverfassung, mit der sie nicht umgehen kann. Das ist wie die Schwärze des Nichts. (Es gibt kein „über-lebens-training im abgrund“.)
Besonders stark deshalb die Szene, in der sie ihr totes Kind in einem Körbchen nochmal in die Arme gelegt bekommt, sich von ihm verabschieden kann. Sie muss das Unglück annehmen, sonst kommt sie nicht darüber hinweg.
(Will der poetisierende Titel des Films Bezug nehmen auf dieses Danach?)

Dienstag, 28.01.2014

Mary Pickfords Locken

Ich staune, wie viele Mary Pickford-Filme Stefan Ripplinger gesehen hat und welche Zusammenhänge da aufleuchten zwischen Pickfords Leben, den Filmen und dem Publikum. Eine Etüde über Bindung meint nämlich schon die Bindung des damaligen Publikums an diese Filme (auch gegen etwaige Vorbehalte der Kritik). In Amarilly of Clothes-Line Alley von 1918 etwa (siehe meinen Text dazu in ‚shomingeki’ 17/2006) wird ohne Umschweif für die Unterklasse Partei bezogen und zwar mit jener Art von derbem und trotzdem feinfühligem Humor, der später – als nur noch der Drang nach oben, der Erfolg um jeden Preis und das Gesetz des Dschungels zählen – zu fehlen beginnt. (Zu entdecken noch bei John Ford.) Die Karriere bestimmter Regisseure, wie z.B. Marshall Neilan (der den genannten und andere Pickford-Filme inszenierte), nahm wohl auch unter anderem deswegen ein Ende, weil die Art ihrer Darstellung des Arbeitermilieus nicht mehr gebraucht wurde.
Und am 21. Juni 1928 liess Mary Pickford sich in einem demonstrativen, von der Presse begleiteten Akt ihre berühmten achtzehn Hängelocken abschneiden …

Stefan Ripplinger, Mary Pickfords Locken. Eine Etüde über Bindung. Verbrecher Verlag, Berlin 2014 (Filit 11).

http://www.verbrecherverlag.de/date/detail/1274

Lesung heute Abend im:
Fahimi
im 1. OG
Skalitzer Str. 133
10999 Berlin

Three Poems By Spoon Jackson (Film von Michel Wenzer, Schweden 2003, 14 Minuten)

Gedichteschreiben als Überlebenskampf eines zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe Verurteilten: das ist es, wovon dieser Film etwas zeigt. Spoon Jackson, ein Schwarzer, ruft aus einem Staatsgefängnis in Kalifornien den Filmemacher Michel Wenzer an (Aufnahmen im Gefängnis sind nicht gestattet worden) – der wird von einer Telefonistinnenstimme gefragt, ob er den Anruf annehme und mit der Aufzeichnung des Gesprächs einverstanden sei, und wenn er das bejaht, ist die Verbindung hergestellt. Kurze Begrüssung und Vorstellung im ersten Teil, die Gesprächspartner wissen, dass die Zeit auf drei Minuten limitiert ist; dann liest Spoon Jackson sein Gedicht – bei allen drei Teilen des Films wiederholt sich dieser Vorgang. Jacksons Sprache muss sich wie durch ein Dickicht hindurch behaupten: Pieptöne, das Rauschen der Leitung, die automatisierten Ansagen (eine tieflagige, männliche Stimme), welche die verbleibenden Minuten nennt, stören das Lesen nicht nur – es gerät fast in so etwas wie einen Strudel. (Ein extremer Gegensatz tut sich auf an der Schnittstelle zwischen der zerdehnten Zeit des Gefängnisses und der gehetzten Zeit des Draussen. Wenzer unterstützt dieses Halluzinative durch eine Bild- und Musikmontage, die sich hie und da etwas zu sehr verselbständigt.) Das in der Sprache gut vertäute Gedicht ist jedoch da, hörbar und als Aufnahme wiederholbar, im Film existent; zugleich erscheint darin, dahinter – im Gedicht selbst und durch die Begleitumstände – etwas von der Unmenschlichkeit dieses Gefängnissystems, das den Insassen Jackson lebenslang, also bis zu seinem Tod, festhalten wird. (Eine Perversion sondergleichen, LWOP = Life without the possibility of parole – eine ausschliesslich weisse Jury hatte dem Neunzehnjährigen Ende der siebziger Jahre wegen eines Tötungsdelikts diese drastische Strafe auferlegt. Jackson sitzt heute also über 35 Jahre im Gefängnis – verschiedenen Gefängnissen, er er wird ja, nicht zu seinem Vorteil, immer wieder verlegt.)

Helmut Heißenbüttel hatte im Nachwort zu Ludwig Hohls Ausgabe von „Nuancen und Details“ (1964) von der „erleidenden Beispielhaftigkeit“ der „subjektiven Erfahrung“ gesprochen, die „das äusserste und allein noch gültige Objekt“ der Darstellung sei – Worte, die wie auf den Dichter Spoon Jackson gemünzt sind und von seinen Gedichten jedesmal neu bezeugt werden. Selten auch, dass einem eine existentielle Situation so klar gesehen vorkommt – also ihren richtigen sprachlichen Ausdruck gewonnen hat und von allen verstanden werden kann.

Die letzten Einstellungen des Films: die Telefonverbindung steht noch, aber es ist nur Rauschen zu hören – im Bild sieht man Kinder beim Ballspiel. Welch eindrückliche Visualisierung des Weggeschlossenseins, der Unmöglichkeit der Teilnahme am Draussen!

Mit einem Dank an Rainer Komers.
Spoons Blog:
http://realnessnetwork.blogspot.de/
Spoons Seite im Poetenladen:
http://www.poetenladen.de/spoon-jackson.htm
Deutsche Welle Sendung:
http://www.dw.de/worldlink-crime-and-punishment-2013-10-26/e-17123516

Freitag, 22.11.2013

DIE WELT FÜR SICH UND DIE WELT FÜR MICH. Film von Bernhard Sallmann (D 2013, 45 Minuten).

Ein Film, der mit schönen Aufblenden und Abblenden arbeitet – und dann gibt es da einen Schnitt (ins Schwarze hinein), ungefähr in der Mitte des Films, der heftig ist, fast wie ein Stich. Der sowohl eine Trennung, ein zerrissenes Band – zwischen Strindberg und Frau und Kind – wiedergibt, als auch den Film zweiteilt: in ‚Donau I – Labor und Leidenschaft’ und ‚Donau II – Hölle’. (Nach den Büchern „Kloster“ und „Inferno“ von August Strindberg.)

Ein Film also, der streng ordnet und zugleich, innerhalb der Episoden, sich fast schwelgerisch gehen lässt – in diese oberösterreichische Fluss- und Auenlandschaft hinein, Stimmungen und Jahreszeiten aufnehmend, mit Strindberg verbundene Orte. Die Erzählstimme (von Judica Albrecht), als Stimme Strindbergs (aus den genannten Büchern), scheint erstmal von aussen hinzugesetzt, legiert sich aber den Bildern und Tönen bis hin zu dem Punkt, dass man sagen kann: die Landschaft steht für die Texte und die Texte stehen für die Landschaft. – Strindberg in seiner Ehe mit Frida Uhl, der gemeinsamen Tochter, 1893 und danach, erscheint wie im Präsens (auch über das sparsam eingesetzte ‚Strindberg-Material’: Gemälde, Photogramm, Celestographie, alchimistisches Experiment, Porträts von ihm und dem Kind). Einmal, im ersten Teil, spricht er von sich in der „Er-Form“, im zweiten Teil in der „Ich-Form“: und jedesmal so, dass diese Gegenwart und die ländlich-beschränkten, auch gewalttätigen Verhältnisse überaus plastisch werden. (Der „schwedische Ketzer“, der Zuflucht bei den Schriften von Swedenborg sucht, war in dieser streng katholischen Gegend nicht wohlgelitten.) Ein ungemein genauer Erforscher von Befindlichkeiten und seelischen Zuständen, der auch das nicht ausspart, was er selbst an Wahnhaftem produziert.

Der ‚heftige Schnitt’: man hat sich, vor allem durch das ruhig fliessende Wasser der Donau, so sehr eingelassen auf den Rhythmus des Films, den Rhythmus der Strindbergschen Prosa, dass man diesen Schnitt eben so empfinden muss – ein bisschen, wie wenn einem der Atem genommen wird. Das schöne Klavierstück, das dann einsetzt, hat absolut nichts Versöhnlerisches, hebt allerdings das Geschehen auf eine andere, vielleicht objektivere Ebene. Gibt dem Film seinen freien Atem zurück: die Frauenstimme, die über dem Abspann (und darüberhinaus) zu hören ist – Strindbergs ‚Lied des Wassermanns’ vor sich hin summend – ist dessen Verkörperung.

(Uraufführung beim 56. Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm, 28.10. – 3.11.2013.)

Sonntag, 20.10.2013

Winter Soldier

Ein Lehrstück in Sachen Krieg.
Der Film mit dem irgendwie ‚mythischen’ Titel kam 1972 heraus und war eine Produktion des Winterfilm Collective mit den Vietnam Veterans Against the War (zu denen auch John Kerry gehörte; er hat im Film einen kurzen Auftritt als Befragender). ‚Mythisch’ mutet das Wort ‚Winter Soldier’ an, weil man weiss: da war doch irgendwas, ein Film, eine Bewegung – aber was genau, scheint sich verloren zu haben im Lauf der Zeiten.
Dringend nötig, es wieder zu beleben. Denn immerhin gibt es ja die DVD des Films, der die Aussagen der noch ganz jugendlichen Vietnam Veteranen an drei Tagen (31. Januar bis 2. Februar 1971) vor Publikum und Presse in Detroit festhält. Bestimmt der spannendste Film mit ‚talking heads’, den ich je gesehen habe. Wenn man das hört, weiss man, dass das Massaker von My Lai, das im November 1969 durch die Presse ging (aber schon im März 1968 geschah), nicht das war, als was man es darzustellen beliebte (der ‚bedauerliche Einzelfall’). Nicht zuletzt auch gegen diese offiziöse ‚Behandlung’ der US-amerikanischen Kriegsverbrechen – Second Lieutenant Calley allein wurde abgeurteilt, dann von Nixon zu Hausarrest begnadigt (die Befehlsstrukturen verschleiernd) – war diese ‚Winter Soldier Investigation’ gerichtet.

Das Phänomen nämlich ist: da sitzen lauter Ex-Soldaten, die offen über ihre Beteiligung an Greueltaten und Massakern (an Zivilisten) berichten. Es wird klar: das war der Normalfall – von oben her so gewünscht. Es galt ja, wie einer sagt, kein Land zu erobern, sondern das Land von den Kommunisten zu säubern – hohe Raten an gegnerischen Leichen standen für den ‚Erfolg’. Zwischen der Zivilbevölkerung und dem Vietcong war nicht zu unterscheiden, alles ‚gooks’.
Das Lehrstück besteht darin, wie derselbe Mensch, der in dieser Tötungsmaschinerie mitmacht (ohne sich viel dabei zu denken, ein Rädchen im Getriebe), sich im Nachhinein seiner zum Verbrechen führenden Verblendung bewusst wird (es ist da auch von militärischem Drill, Gehirnwäsche und Rassismus die Rede). Wie das gelingt, sogar während des Redens, wäre im einzelnen nachzuvollziehen … Die meisten haben ja, ist später gesagt worden, hier überhaupt zum ersten Mal über ihre Beteiligung an diesen Taten gesprochen – und dazu gehörte Mut. Die Ereignisse waren so, dass das dringende Bedürfnis entstand, all diesen Schrecken zu verdrängen. Ein Lichtblick in der Geschichte also – und ein Verweis auf ähnliche Arten von Involvierungen in Drucksituationen. (Parellelen zum Irak-Krieg drängen sich geradezu auf.)
Im übrigen heisst es (bei Wikipedia): „Mainstream media all but ignored the Winter Soldier Investigation.“

Der ‚Winter Soldier’ verdankt sich einem Zitat von Thomas Paine (aus „The American Crisis“ von 1776): „These are the times that try men’s souls: The summer soldier and the sunshine patriot will, in this crisis, shrink from the service of their country; but he that stands it now, deserves the love and thanks of man and woman.“

Sonntag, 04.08.2013

Barfuss und ohne Hut

Ein kurzer Film von Jürgen Böttcher: Prerow an der Ostsee, Sommer 1964. Jugendliche, im Urlaub, im Wasser und am Strand herumtollend, redend, sich abends um den Guitarristen und Sänger scharend, sich gegenseitig bewundernd, miteinander gehend, sich liebend – da sind Momente reinen Glücks, fast paradiesisch, versammelt. (‚Fast paradiesisch’ weil natürlich lange nach dem biblischen Sündenfall – gerne würde man einmal hören, wie die weibliche Perspektive auf den Sündenfall aussieht.) Das Meer, die Luft, die Sonne, der Tag, der sanfte Abend: man hat das Gefühl, so könnte es gehen, so wäre auch das Verhältnis der Geschlechter wieder im Lot … Nach dem Urlaub wartet allerdings wieder ein anderer Alltag, der von Beruf und Ausbildung, auf die Jugendlichen (über den sie auch Auskunft geben).

Barfuss und ohne Hut mutet wie eine Vorstudie zu Böttchers Spielfilm Jahrgang 45 an (DDR 1965/66). Und Peter Naus Text zu diesem Film (im gerade erschienenen Bändchen „Irgendwo in Berlin“) könnte man in einigen Passagen Zeile für Zeile übernehmen für den Barfuss-Film: „Schön ist das Licht in diesem Schwarzweissfilm (Kamera: Roland Gräf), da es als Tageslicht nicht nur den Ort sichtbar macht, sondern auch, indem es an den Tagesablauf gebunden ist, die Zeit spüren lässt. Der ganze Film ist wie ein einziger Sommertag, wie jene Reihe von schönen Tagen, von denen Adorno schrieb, daß sie uns glücklich macht, indem sie das Versprechen enthält, dass alles in Ewigkeit so weitergehen könnte, ohne je eine Trübung zu erfahren.“ Von „purer Lebensfreude“ ist da noch die Rede und davon, dass „die Menschen ihr innerstes Recht auf Werden“ behaupten.
„Ostwestlicher Filmdiwan“ nennt sich das Berlin gewidmete Bändchen im Untertitel, wo es doch bei Goethe so steht: „West-östlicher Divan“. Aber nein, bei Weg ohne Umkehr (dem Film von Victor Vicas von 1953) wird klar, dass Nau das von Gunter Groll hat, dessen damalige Kritik in der ‚Süddeutschen’ mit „Der ostwestliche Iwan“ betitelt war. Und da nun noch Naus Lieblingsschauspieler Ivan Desny die Hauptrolle spielt (allerdings ohne ‚w’), muss es sich so gefügt haben.

Dies alles wäre jetzt in Beziehung zu setzen zu dem, was da als Zweites steht in einer neuen Folge von Helmut Färbers „Das Grau und das Jetzt“:
„Der BRD ist geglückt bis auf den heutigen Tag, sich über sich selbst zu belügen.
Der DDR ist es missglückt; dabei sind ihre Mittel die unmenschlicheren und ihre Ziele die menschlicheren gewesen.“
(In: ‚manuskripte’, 200. Heft der Gesamtfolge, Graz, Juni 2013, S. 93. – Mit einem Dank an Michael Girke für die Übermittlung.)

Barfuss und ohne Hut in: „Spurensuche: DDR-Dokumentationsfilme im Abseits.“ Edition Dok Leipzig. Icestorm 2007.
Peter Nau, „Irgendwo in Berlin. Ostwestlicher Filmdiwan“, Berlin (Verbrecher Verlag) 2013.

Mittwoch, 19.06.2013

Super8-Filme von Harald V Uccello

Die so gut wie unbekannten Filme von Harald V Uccello sind einzigartige Gebilde: das spezifisch Farblich-Stoffliche des Super8-Materials und die Dimension des Tons legieren sich auf schöne Weise mit dem, was da gezeigt wird und wie es gezeigt wird. (Helmut Färber hat schon in einem Gespräch mit Karl Heil und Harald Vogl vom 27.9.1980 diese für ihn besonderen Qualtitäten des Super8-Materials angesprochen; siehe ‚Filmkritik’, Dezember 1980, S. 556.) Entscheidend war sicher auch der Entschluss zum spielfilmmässig Inszenierten – Motive etwa nach Samuel Beckett / Sylvia Plath, Hans Henny Jahnn, Georges Bataille, Patricia Highsmith, Voltaire (Dear Jimmy, Henny, Anabel, Only You, Güle Güle, 1978-1985) –, die sorgfältige Kamerarbeit von Harald Vogl, der mit diesen beschränkten Mitteln (z.B. was das Licht in Innenräumen angeht) wunderbare Einstellungsfolgen geschaffen hat. Die fixen und leicht bewegten Kadragen sind immer so, dass man gerne hinschaut – das Bildliche nimmt gefangen. Dann das Halluzinative der Tonspur: auf den Strassen, in der Stadt, ist der Autoverkehr von einer fast nervtötenden Präsenz, oft setzt eine Einstellung mit übersteuertem Ton ein (den die Automatik dann runterregelt) und jeder Einstellungswechsel und Schnitt ist natürlich von Tonsprüngen begleitet. (Ein Huillet-Straub-Effekt; die Aufnahmebedingungen mit Super8 erforderten anscheinend, je nach Gerät, den Einsatz der ‚Automatik’.) Das ist nun nicht mehr rückgängig zu machen und katapultiert diese Filme in eine Region, in der die Stimmungen des Lichts, die farblichen Nuancen, der Ablauf des filmisch Amalgamierten sich mischt mit diesem Halluzinativen – wie wenn in all diesem einmal gegenwärtig Gewesenen nur immer die neue Gegenwart aufgerufen würde.

Die „Motive“ (nach den genannten Autoren) gehen so in die Filme ein, dass sie mal mehr mal weniger bemerkbar sind: wichtiger scheint, dass da eine bestimmte Figurenkonstellation entsteht oder hergestellt wird. Die als Darsteller verpflichteten Freunde, Nahestehenden, Personen machen sich diese Konstellation zu eigen – bringen jedoch (kommt einem vor) auch ihre persönliche Ausgangslage mit rein. Sie sind Darsteller ihrer Figur und ihrer selbst. Über diese Doppelung erhalten sie eine eigenartige Präsenz – und zwar alle, ausnahmslos, auch diejenigen, die nur kurz auftreten und wenig oder nichts sagen. ‚Eigenartige Präsenz’ ist wörtlich zu nehmen: sie sind wirklich da in ihrer Art, der Eigenart ihrer Person. Das Fiktive geht völlig im Dokumentarischen auf – oder eher: eins ist ganz im andern aufgehoben.

Ein kleiner Schritt noch (davor oder danach) und die Darsteller sind nur noch sie selbst: bringen sich ein als Person, tragen etwas vor von sich oder extemporieren vor der Kamera (Mono von HVU, 1979, Mmh von Karl Heil, 1981). Das sind immer auch kollektive Werke, in denen ein Raum organisiert oder zur Verfügung gestellt wird (von dem, der den Film macht), der dem Ausdruck dieser Personen dient. Und ein weiterer Schritt: beim letzten Super8-Film – Aufnahmen in Turin und Branca Leone (Kalabrien) – werden keine ‚Motive’ gesucht, es genügt, dass die Bücher von Cesare Pavese im Kopf des allein Reisenden und Filmenden vorhanden sind (Settanta Panini a Roma, 1985).

Freitag, 12.04.2013

Peter Brückner, „Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945“ (Wagenbach, Berlin 1980)

Ich lese das Buch erst jetzt – wieder darauf gestossen durch eine Stelle in „Vermischtes / Notiertes 1981-1984“ (newfilmkritik 25.3.2013). Das ist kostbar, wenn man die Nazizeit ‚von innen’ her verstehen will – Peter Brückner war ja ein wirklicher Aussenseiter, 1938 gerade mal 16 Jahre alt.
Nicht gerade einer hat wie er, denke ich, die intellektuellen Fähigkeiten gehabt, diese ‚internen Auseinandersetzungen’ darzustellen: zwischen seiner Dissidenz, seiner wirklichen Illoyalität dem Nazi-Staat gegenüber, und der notwendigen Anpassung, den Anfälligkeiten, dem Fassade-Wahren, Sich-Durchlavieren (in Schule, Internat, Hitlerjugend, Heimatfront, NSDAP, Wehrmacht). Ein permanenter Kampf war das, der Jugendliche musste gedanklich ‚voraus sein’ – dem Terror und der „Technik der kleinsten Schritte“ gegenüber, die der Staat praktizierte, um die Volksgenossen und vor allem die Abseitsstehenden immer lückenloser zu vereinnahmen. Das klappte natürlich nicht immer, mal für mal gab es Hitlersche Weisungen und Massnahmen der Bürokratie, die unversehens kamen – das Abseits war ganz und gar kein sicherer Ort. Aber es konnte auch mal für mal, und sei es durch glückliche Umstände, Zufälle, Fügungen und natürlich eigenes Zutun, Geschicklichkeit, wieder hergestellt werden. – „Antifaschismus im Wildwuchs“ und nicht als ‚Parteidisziplin’: „… ich hatte eine fast zum Instinkt gewordene Abneigung gegen Macht und Befehlsverhältnisse erworben, die eine diktatorische Praxis ausschloss – oder mich von ihr.“
Schöne Szene, wie der siebzehnjährige Peter Brückner in Zwickau vor der Auslage eines kleinen Buchladens steht, „vom nachlässig hochgezogenen Verdunkelungsrollo halb verdeckt lag da ein antiquarischer G. B. Shaw“ – und von einer älteren, kleinen, schwarz gekleideten Frau angesprochen wird. Dies und die nun folgenden stunden- und nächtelangen Gespräche zu Hause mit ihr (Paula bzw. Pawel Lenk) eröffneten ein „alternatives Milieu“: „ihre Kulturdepots waren unerschöpflich“, „in den hohen, meist offenen Bücherregalen entdeckte ich im Laufe weniger Monate die ganze verbotene Literatur.“ In einem weiteren Schritt kommt es dann auch zur Geburt der ‚politischen Person’ – Brückner lernt über seine Freundin deren Tante kennen, eine in der Stadt bekannte und beliebte Theaterschauspielerin, „eine glühende, leicht outrierte Antifaschistin“, die Feindsender hört. Bei ihr wiederum macht er die Bekanntschaft von zwei Artzehepaaren, die kommunistische Kontakte hatten, verliebt sich in die Zahnärztin Elfriede H.: „Frau H. war Kommunistin, als sehr junges Mädchen politisiert, und hatte einige Jahre in Prag gelebt – es war ein Prager Intellektuellen-Kommunismus, der sie in den zwanziger Jahren geprägt hatte.“ – Die Frage, wie Widerstand möglich sein sollte, wenn „die überwiegende Mehrheit des eigenen Volkes“ in Komplizenschaft mit dem Faschismus aufging, war wohl keine Frage mehr.
Eine weitere Gefährdung kam hinzu: „eine Verwaltungsangestellte der Universität“ hatte in einer Urkunde den vollständigen Namen von Brückners Mutter gefunden: Sara Constance Barlin, ihn als Sara Berlin gelesen und die Unterlagen an das Judendezernat weitergegeben – was ein sofortiges Studienverbot nach sich zog. Der Fall war aber schwierig zu klären: Brückners Mutter, Engländerin und tatsächlich Jüdin, war 1935 in ihr Heimatland „zurückgewandert“ – aber „1941 waren wegen des Krieges Recherchen in England ausgeschlossen, die Schwächen des Meldewesens ausserdem amtlich bekannt“. Durch die Einberufung zum Militärdienst blieb die Situation pendent – und Brückner hatte insofern nochmal Glück, als er durch einen, wie er sagt, selten vorkommenden Irrtum nach Wien einbestellt wurde und als einziger ‚Preusse’ bei einer österreichischen („ostmärkischen“) Einheit Dienst tat.

„Den sechzigsten Geburtstag hat er nicht mehr erlebt“, beginnt ein Artikel von Hans Mayer in der ‚Zeit’ vom 22.11.1984, der an Peter Brückner (1922-1982), Professor der Sozialpsychologie an der Universität Hannover, und an die zehn Jahre der „disziplinarischen Massnahmen“ und „Suspensionen“ erinnert, die sein Leben verkürzt haben. – Hier sei also nachdrücklich daran erinnert, dass Peter Brückner durch seine Person und seine Bücher ein wichtiger Mentor der ’68er war, vielmehr: einer derjenigen, der da mittendrin stand und sich exponierte.

Montag, 04.02.2013

Le Bachfilm

bachfilm

© Sammlung Heiner Roß / Nachlaß Joachim Wolf (Kinemathek Hamburg) im Filmmuseum München


Reichhaltiges Material ist erschienen zur Chronik der Anna Magdalena Bach und zu Jean-Marie Straubs achtzigstem Geburtstag: 2 DVDs, ein Begleitbuch von 154 Seiten, viele bislang unbekannte Fotographien und Dokumente. (Subskriptionsangebot bei éditionsmontparnasse)

Danièle Huillet und Jean-Marie Straub sind, wie Benoît Turquety in seinem Aufsatz „Jeunesses musicales. L’invention de Chronik der Anna Magdalena Bach“ ausführt, durch die Musik zum Film gekommen: die Chronik war ihr erstes Projekt, zu datieren auf den November 1954. Schönbergs Moses und Aron, ihr zweites Projekt, geht auf die Jahre 1958/59 zurück. Die Chronik, schreibt Turquety, war entscheidend für alles, was danach gefolgt ist: „Die Idee war, mit einem musikalischen Text so zu verfahren, wie Bresson es mit einem literarischen Text – dem Tagebuch eines Landpfarrers (1951) – von Bernanos gemacht hatte. Musik sollte darin als Materie wahrgenommen und als solche respektiert werden, keine ‚Filmmusik’ sein, sondern das Angebot eines besonderen Hörens durch die Kinematographie.“ Eine Tat war es dann, den noch unbekannten Musiker und Dirigenten Gustav Leonhardt zu entdecken und dreizehn Jahre später mit ihm, Nikolaus Harnoncourt, Christiane Lang-Drewanz und vielen andern den Film zu realisieren. Die frühe Wahl erfolgte, Turquety hebt das hervor, ausschliesslich über das Hören einer Platte Leonhardts: „Der ist es!“ Wie dieses Medium (und das Medium Film) die Musik erneut hören lässt (im einmaligen historischen Zugriff), so sei es darum gegangen, Bach neu und so zu hören, wie er seit langem nicht mehr gehört worden sei. Es habe sich nicht darum gehandelt, „Bach auf historischen Instrumenten so zu interpretieren, als sei seither nichts passiert, sondern diese Interpretation gegen das zu stellen, was seither gemacht worden sei.“ (Er nennt die Namen Karajan oder Gould.) In dem der Chronik vorangestellten Péguy-Zitat sieht Turquety einen Ausfluss dessen, was da musikalisch vor sich geht und sich dann politisch auflädt: „Faire la révolution c’est aussi remettre en place des choses très anciennes mais oubliées.“

Die Chronik der Anna Magdalena Bach (BRD 1967; Uraufführung 3.2.1968 in Utrecht) gibt es in der deutschen Originalversion mit Untertiteln in vier verschiedenen Sprachen: aber so ziemlich vergessen war, dass Huillet & Straub damals den Off-Kommentar auch französisch aufgenommen und nur die Dialoge untertitelt haben. „Dann sind wir auf den Geschmack gekommen“, sagt Straub, „und haben die niederländische, die englische und die italienische Version des Kommentars erarbeitet.“ Die Chronik – Chronique – Cronicle – Cronaca – Kroniek der Anna Magdalena Bach gibt es also nun in fünf Sprachversionen auf DVD 1, auf DVD 2 eine Filmdokumentation von Henk de By (Signalement de Jean-Marie Straub, 1968, 41 Minuten; einer der drei Kameraleute war Johan van der Keuken), ein Gespräch mit der ‚Anna Magdalena’ des Films, Christiane Lang-Drewanz (2012, 30 Minuten), Erinnerungen von Nikolaus Harnoncourt an die Dreharbeiten (2012, 21 Minuten), Gilles Deleuzes „Qu’est-ce que l’acte de création?“ (Vortrag bei der Femis vom 17. März 1987, 8 Minuten) plus unbekannte Fotographien und Dokumente.

Unbedingt erwähnenswert noch das ausführliche Gespräch (passagenweise übersetzt von Bernard Eisenschitz), das Helmut Färber mit Jean-Marie Straub über die Chronik an drei Tagen im Mai 2010 geführt hat: es geht hier wirklich, Rolle auf Rolle, um Einstellungen und Zusammenhänge, die sich nur aus diesem Blick aufs Detail ergeben. (Färber stützt sich dabei auf das Cinemathek-Bändchen 23 von 1969 über die Chronik, das ja von ihm damals im Verlag Filmkritik redaktionell betreut worden ist).
Dies alles, ebenso wie ein einführender Text von Barbara Ulrich und eine „découpage intégral du film“, also im Begleitband der Kassette.

Mittwoch, 03.10.2012

Kritik und Klinik

Die Ausgabe der Schriften von Serge Daney – „La Maison cinéma et le monde. 1. Le Temps des Cahiers 1962-1981 (Paris 2001) und „2. Les Années Libé 1981-1985 (Paris 2001) – ist jetzt komplettiert worden durch „La Maison cinéma et le monde. 3. Les Années Libé 1986-1991 (P.O.L. éditeur, Paris 2012). Dieser Band, 870 Seiten stark, samt Index, ist angeordnet in dreizehn Komplexen, es geht also nicht nur um Texte am ‚Leitfaden der Filme’, sondern auch um Wiederbesichtigungen, Filme am TV, Dreharbeiten, Gespräche, die ‚politique des auteurs’, die ‚poétique des acteurs’, Figuren, Buchbesprechungen, Bilderpolitik, um dies und jenes (‚Ici et ailleurs’), Kunst und Industrie, um das, was sich im ‚Innern der Medien’ abspielt, um Tennis, rumänische Telechroniken und den Golfkrieg. (Bereits in frühere Bücher aufgenommene Texte oder Teile – „Le Salaire du zappeur“, 1988 und 1993, „Devant la recrudescence des vols de sac à main“, 1993, „L’Amateur de tennis“, 1994 – sind in diesem Band 3 nicht enthalten.)
Der Schritt von den ‚Cahiers’ zur Tageszeitung ‚Libération’ (wo Daney den Bereich ‚Cinéma’, später die Seiten ‚Rebonds’ betreute) war sicher einer ins Ungewisse, vielleicht auch ins Freie – das tägliche Schreiben (in den Niederungen des Tagesjournalismus) stellte einen andern Anspruch an die eigene Formulierungsgabe, forderte sie heraus. Es kam darauf an, das Schreiben geschmeidig zu halten und dennoch Konsistenz zu erreichen, den bei den ‚Cahiers’ geprägten Stil in der täglichen Auseinandersetzung zu formen und zu stählen. (Nur ein Beispiel für die Vielzahl der Sujets: am 30. Januar 1986 schreibt Daney einen Nachruf auf die am Vortag verstorbene Lilli Palmer.) Wo ich auch blättere, in diesen Seiten, – es kommt mir immer interessant vor, sicher wäre da (wie im Tagesjournalismus von André Bazin) mancher Theoriebrocken zu heben.
Ich übersetze noch einen Abschnitt aus ‚Serge Daney, le voyeux’ von Pierre Eugène (‚artpress’, Nr. 391, Paris, Juli/ August 2012), der diesen Band 3 vorstellt (und unter anderem auch eine „Parallele“ Serge Daney – Saint-Simon zieht). „Es bedarf einer längeren Lektüre, um das schätzen zu können im Schreiben von Daney, was durch ein fragmentweises Lesen nicht unbedingt erscheint. Das sind seine Beunruhigungen und Besorgnisse. So gibt es eine permanente Sorge um die ‚Gesundheit’ (so wie man sich um die Gesundheit des Königs sorgt): die schlechte Gesundheit des Kinos, die ‚falsche gute Gesundheit’ des Fernsehens, die Krise der Drehbücher und der Ideologien, das Ende der grossen Erzählungen, Identitätswirren, das Erstarken der Rechten, der Zerfall der UdSSR … Ein Subtext, der sich immer stärker bemerkbar macht. Die Kritik, wie Daney sie sieht, wird zu einer Art Klinik, die den Zustand des Kinos zum Zeugnis für den Zustand der Welt nimmt. Eine Kino-Hypothese, an der Daney eisern festhalten wird, – der dokumentarische Blick (auch der an der Seite der Fiktion) als Vermittlung [‚passeur’] einer Erfahrung der Welt.“


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