Einträge von Ludger Blanke

Montag, 19.11.2001

Eine Frage ist allerdings, ob das Versagen der Elektrik beim Langtextposten [M.B.] nicht auch als ein ernstzunehmender Hinweis auf die Beschränkung des Mediums zu deuten wäre, ob also grundsätzlich ein solch langer Text unsere Bereitschaft fürs Lesen im Internet nicht sehr fordert.
Ja! Meine jedenfalls. Fast alles, was mehr Platz als einen Screen einnimmt erregt die Ungeduld des „Flaneurs, der über die Strasse will und warten muss, bis die Rollerblader vorbeigezogen sind“ (Benjamin). Diese Texte, so sie interessant sind, kopiere ich oder drucke sie aus und lese später .
Dazu kommt dass -das fällt mir erst jetzt auf- jeder neue Text sich über die Vorhergehenden stellt, sich also mit je länger um so breiteren Ellenbogen Platz schafft und die anderen somit immer näher an das Fegefeuer des Archivs herandrängt.
Auch das ist nicht nett.
Wie also damit umgehen?
Ich gehe mit gutem Beispiel voran und stelle erst mal nur die Frage in den Raum.

Heute steht in der FAZ wieder etwas zur Kooperation von „Hollywood“ und „Washington“ („Gemeinsamer Feldzug: Wieder einmal haben sich Politiker aus Washington und Studiochefs aus Hollywood zusammengesetzt, um gemeinsam über die Rolle der Unterhaltungsindustrie im Krieg gegen den Terrorismus nachzudenken. VERENA LUEKEN, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.11.2001, Nr. 269 / Seite 52. Das seltsame Comeback von Hollywood als handlungs- und kriegsfähiges Subjekt hält an – bzw. eine ehemalige Sicherheit im Gebrauch des Begriffs Hollywood scheint wiedergefunden. Ich hatte mir dazu vor ein paar Wochen anläßlich des Film PASSWORT SWORDFISH Gedanken gemacht, der in den deutschen Kinocharts so auf Platz 4 liegt derzeit:
Mittendrin statt nur dabei,
nochmal editiert, hier in der knappesten, trotzdem vollständigen Form.
[11/19/2001 2:29:41 PM | Jan Distelmeyer]

Donnerstag, 15.11.2001

jesse james und heidegger
für j.d.

Samstag, 10.11.2001

autofahren [1]

Sie haben das Dispositiv des „autofahrenden Menschen“ (l’homme en voiture) erfunden. Bezieht sich das auf die kulturelle oder religiöse Tradition der Suche, der Idee des suchenden Menschen?

Wir haben eine Religion zweier Geschwindigkeiten: eine zurückbleibende/zurückblickende, in der so etwas wie die Suche/die Frage nicht existiert, und eine andere, entwickeltere, wo die Suche/die Frage existiert. In der ganzen mystischen Poesie des Irans gibt es so etwas wie die initiatorische Reise, die zur Vervollständigung führen soll. Das kommt aus der/ das ist der Vorzug der iranischen Kultur, mit ihrem Reichtum, und die religiöse Kultur läßt solche Ideen erscheinen. Die Religion macht nichts anderes, als das iranische Denken wieder aufzunehmen/zu beantworten.
Zudem ist das Auto einfach eine schöne Idee. Es ist nicht nur ein Beförderungsmittel, etwas, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Es repräsentiert auch eine kleine Wohnung, ein sehr intimes Zimmer, mit einem großen Fenster, dessen Ausblick sich von Moment zu Moment verändert. In der Realität gibt es solche Wohnungen überhaupt nicht, der Blick, den man aus dem Fenster seiner Wohnung hat, ändert sich nie. Die Wohnung ist dazu verdammt, ewig den gleichen Blick zu zeigen. Die Windschutzscheibe des Autos aber hat eine viel größere Dimension; und sie kann außerdem die Bewegung reflektieren-wie ein Scope-Schirm/eine Scope-Leinwand. Autos haben einen weiteren Vorteil: wenn man aus dem Inneren des Autos filmt, haben die Leute draußen keine Ahnung, dass sie Teil deines Films werden. Das ist wie ein permanentes Travelling, mehr noch: wie eine Kranfahrt. Wenn der Mann im Auto [in Geschmack der Kirsche] den Hügel hinauffährt, macht er eine Kranfahrt, mit einem Kran, der sehr lange Arme hat. Außerdem ist das Auto eine Art Sitzbank. Zwei Leute können nebeneinander sitzen und sich die selbe Landschaft anschauen, den selben Blick teilen. Selbst wenn sie nicht miteinander sprechen, heißt das nicht, dass sie sich verkracht haben. Man kann jemanden in seinem Auto mitnehmen, ohne dass man befreundet ist oder sich anfreunden muss. Der andere kann von einem Moment auf den anderen aus dem Auto aussteigen.
[Cahiers du Cinéma Nr. 518 (1997), Gespräch zu „Geschmack der Kirsche“; hier aus: Abbas Kiarostami – Textes, Entretiens, Filmographie Complète, Pétite bibliothèque des Cahiers du Cinéma, 1997; S. 82f)]
übersetzung michael baute

Irgendwo steht bei Julie Burchill, in einem der frühen Texte, die noch Clara Drechsler übersetzt hat, dass früher die Mädchen, die Stars werden wollten und zum Film drängten, unzählige Bewerbungscouches und Blow Jobs hinter sich bringen mussten, aber dann, wenn sie oben waren, im Sternenhimmel, da mussten
sie das nicht mehr, nie mehr. Die heutigen Stars sind verheiratet mit den Regisseuren, was heisst, dass sie weiter auf die Couch müssen, für immer.
Figuren wie Amelie sind wie Feen. Die haben keine eigene Geschichte. Die kommen herbeigewünscht, ins Elend, in die Ausweglosigkeit und entschwinden wieder. Erzählt wird immer die Geschichte der Wünschenden, der Verzweifelten und die der Bösartigen und Ausbeuterischen.
In einer Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat.
Vielleicht hilft es heute nicht mehr, nicht einmal mehr in der Geschichten.
Aber ich denke, dass es auch keine Geschichten geben kann von Personen, die sich nichts wünschen und nichts sind. Selbst der Pinocchio, der nichts ist, wunschloses Holz, wird ja, im Märchen. Am Ende ein Mensch. Der schönste Film und der härteste, der Deiner Idee am nächsten kommt, ist Vivre sa Vie. Nichts ist die Nana. Kein Nachname. Ein Tauschwert. Aber aus ihm brechen die Tränen und die Verhältnisse machen weiter. Der andere ist WANDA. Auch Wanda ist nichts. Driftet. Und der Film erzählt, wie in diesem Drift zwei Menschen, die gar nicht gut sind, eine Wölbung finden, unter der sie sich einen Moment lang verbergen und leben können.
c.p. posted von l.b.

Donnerstag, 08.11.2001

Stelle mir vor ein Märchen mit einem Mädchen, das nix kann und nichts weiss und nichtmal besonders schön ist und nach oben kommt, weil sie das irgendwann aus neugier und abenteuerlust und langeweile einfach so beschlossen hat. So wie ne Wette mit sich selbst. Alle sagen: aus dir wird nix, wollen wir doch mal sehen! Und dann geht’s los, auch mit sex und sich verkaufen und mit allen fiesen Schwindeln die dazugehören. Hochgeschwindigkeitspop. Das würde in Wirklichkeit ja auch funktionieren. Erstaunlicherweise wird das Mädchen bei diesen ganzem aber immer klüger und geschickter und schöner und reicher.
Affirmativ bis man es kaum noch aushalten kann, schöner, bösartiger aber wahrer Kitsch.
Denn in Wirklichkeit ist es ja genau so. Die Blöden und Bösen, wenn sie nur die Augen offen halten: lernen, hören mit der Zeit auf böse zu sein und werden gut und klug.
Das Falsche ist eigentlich, wie uns diese Geschichte sonst immer erzählt wird, moralisch, mit hochgezogenen Augenbrauen. Verbrechen zahlt sich nicht aus. Genau das stimmt aber nicht, ist die Lüge. Das hätten die Herrschaften gerne, dass wir das glauben. Stimmt nur für blöde und gierige Verbrecher.
Die Geschichte könnte gleichzeitig zeigen wie einfach und schlicht dieser gesellschaftliche Aufstieg ist, vielleicht kann das ganze wie ein Zwillingsexperiment funktionieren. Neben dem Glamourgirl beschliesst die Schwester Spiesserin zu werden wie jemand anders Steuerberater. Das ist aber nicht unbedingt einfacher, weil die Spiesser werden langsam wirklich exoten. Und sind ja irgendwie auch gefährlicher, wie der 11.9. gezeigt hat. Sie könnten Schläfer sein. Aber beide Mädchen sind klug.

Mittwoch, 07.11.2001

Ghostworld

Ghostworld
Zwei Anläufe bevor die Geschichte beginnt: eine Fahrt an den Fenstern eines Mietshauses entlang wie ein kleines Gesellschaftsbild aus dem dann eine Figur herausgeholt werden wird, aus der Gesellschaft einsamer amerikanischer Individuen vor dem Fernseher. Dann gibt es diese zweite, dagegengeschnittene Sequenz mit dieser irrsinnigen indischen Musicalausschnitt, diesem Bollywoodtanz, so ein ziemlich krasses Gegenbild zu dem Anderen, ganz einfach hintereindergeklebt und man sieht Thora Birch ja noch gar nicht, hat so auch nicht die geringste Ahnung, was diese irrsinnigen Inder mit den Fernsehstuben-Bewohnern zu tun haben sollen. Aber diese Inder erzählen was, was man sonst in diesem Film nie wieder sieht: eine Leidenschaft und sogar Extase und dann geht das Bild zurück und wir sehen Enid, Thora Birch, beziehungsweise nur deren wilde Haare, weil sie zu den indischen – was wir jetzt erkennen- Videobildern aus ihrem Fernseher wild tanzt. Das sieht man ja nie wieder, dass sie tanzt. Das macht sie zu Hause alleine, in der Öffentlichkeit würde sie das nicht wagen, das fände sie uncool.

Warum wird dieses Travelling benutzt? Das hat was damit zu tun, dass hier, im Gegensatz zum Comic, der mitten in eine Szene hineingeht der Film immer noch einen Anfang braucht. Die Kleinstädte z. B. in einem Spielbergfilm, die fangen immer von oben an und das heisst dann: das ist der Ort, an dem unsere Geschichte spielt. Die Versuchsanordnung des Zwischenmenschlichen. Hier spielt die Geschichte. Wie ein Romananfang aus dem 19. Jahrhundert.

Wenn wir am Ende der Fahrt in Enids Zimmer sind blicken wir durch keines von diesen Fenstern im Mietshaus, sondern wir befinden uns, wie wir später sehen, in einem Einfamilienhaus in einer Suburb. Ganz woanders. Das ist ein Fehler. Aber der Fehler ist schön.

Thora Birch, Enid. Wie sie geht. Ein Winkel in dem sie den Oberkörper leicht vorbeugt und ihren dickem Hintern hinterherzieht. Ein Mädchen, dem der Körper noch gar nicht gehört, der ihr noch gar nicht folgt, in die Richtung, in die der Kopf will. Wobei der Kopf hier auch noch gar nicht genau weiss, wo er hinwill. Einmal liegt sie auf dem Sofa und hört die Platte die sie Steve Buscemi abgekauft hat und dann beugt sie sich nach hinten und legt die Platte nochmal neu auf und fällt ganz langsam in die genau gleiche Position wieder hinein. Als ob sie dadurch den Moment wiederholen und das Glück verlängern könnte.

Dann die Verzweiflung mit der Thora Birch die missverständliche Retro-Meta-Post-Punkfrisur wieder zurückfärbt in Schwarz. Denn die Codes funktionieren nur, wenn es jemanden gibt, der die Codes lesen und verstehen kann. Ein grosses Unglück, diese Unmöglichkeit sich in diesen Ebenen von authentischen Jugendstilen und deren ironischen Wiederkünften zurechtzufinden.Aber wenn man sich einmal darauf eingelassen hat, auf diese Codes, dass die Farbe der Haare und der Schnitt des Kleides was bedeuten, dann gibt es kein Zurück.

Im Comic gibt es die Szene mit einem bösen Streich, einem gefaketen Anruf auf eine Kontaktanzeige. Da sitzt nun dieser Mann und wartet in diesem FiftiesRetrodiner und ein paar Tische weiter sitzt die Gang der Mädchen die ihn beobachten. Dieser Mann wartet und merkt irgendwann, dass er umsonst gekommen ist. Er entdeckt die Mädchen und weiss in diesem Augenblick, dass er von ihnen verarscht worden ist. Er geht aber nicht an den Tisch der Mädchen sondern verlässt das Restaurant, stellt sich von aussen vor die Scheibe, kuckt alle an, allen in die Augen… und geht. Alle verstummen und können nicht mehr weiterreden. Dann sieht man Allen, diesen Kellner mit der Vokuhilafrisur, den sie immer Alien nennen, und der Kellner geht zu dem Platz, an dem der Mann gesessen hat und findet dort die Rose, die der Mann der Frau mitgebracht hat. Da taucht ein Zeichen auf, ein so triviales und abgenutztes wie die Rose, das plötzlich eine ungeheure Wahrhaftigkeit und Eindringlichkeit bekommt. Das lässt alle verstummen. Dann ist diese Episode zu Ende. Der Mann taucht dann im Comic nie wieder auf. Im Film spielt Steve Buscemi diesen Mann und aus der Figur wird das Objekt dieser hoffnungslosen Liebesgeschichte von Enid.

Dabei wäre eigentlich alles ganz einfach, denn Enid liebt den Supermarktverkäufer Josh, den guten Freund, der sich immer bereitwillig von den Mädchen als Chauffeur missbrauchen lässt. Und der liebt anscheinend auch Enid, denn als jemand in den Supermarkt kommt und behauptet dass Enid jetzt endlich einen Freund gefunden hat lässt er vor Schreck diese riesige Portion Eis fallen. Aber irgendwie würde daraus nie eine wirkliche Liebesgeschichte werden können. Zu naheliegend.

Dann zwingt sie irgendwann Buscemi in diesen Pornoladen und findet alles erst mal ganz grossartig und staunt über die Kunden und sagt begeistert: Alles Perverse! Was Enid vermutlich ohne weiteres auch auf den Rest der Gesellschaft ausserhalb des Pornoladens behaupten würde. Sie holt dann irgendeine Onaniervorrichtung aus einem Karton und fragt: Wer fickt denn sowas? Auch diese Frage bezieht sich dann auch auf alle anderen Dinge in diesem Film. Wer fickt denn die? Wer kann denn noch eine Leidenschaft dafür entwickeln? Für Retrofiftiescoffeeshops, für Splattermovies. Sie hat diese absolut tödliche Hipstercoolness einer 17-jährigen, die ganz genau sieht was auf sie zu kommt. Ein ödes Leben.

Es ist erstaunlich mit wieviel Abscheu der Film Popmusik behandelt. Ganz, ganz weit hinten im Indien der vielleicht siebziger Jahre ist für Enid eventuell noch Musik zu finden, die wirklich toll ist, oder eben Skip James auf den sie durch Buscemi stösst: Devil got my woman. Ein Blues aus den dreissiger Jahren. Aber wie verwellt die Platte ist. Der Tonarm geht rauf und runter und arbeitet sich durch die Rillen einer inzwischen schon antiken Neuauflage aus den 80ern einer Schelllackplatte aus den 30er Jahren. Auf allem liegt eine dicke Schicht Staub.

christian petzold und ludger blanke über ghostworld von terry zwigoff / comic von daniel clowes


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