Einträge von Wolfgang Schmidt

Sonntag, 26.10.2008

Kann Film forschen? oder: Wie hinters Licht führen?

Im Sommer 2008 wurde der Film AUFSCHUB (2007) von Harun Farocki in der Humboldt-Universität zur Aufführung gebracht. (TAZ-Interview) Allein aus vorliegendem und nur zum Teil geschnittenem Filmmaterial des jüdischen Lagerinsassen Rudolf Breslauer stellt Farocki einen 40 minütigen Stummfilm zusammen, der die vorhandenen Einstellungen auf darin enthaltene Informationen befragt und untersucht. Breslauer arbeitete im Auftrag der deutschen Lagerleitung an einer Dokumentation über das Durchgangslager Westerbork in den Niederlanden. Dieser Film, der als Anschauungsmaterial für das Besucherzentrum gedacht war, wurde tatsächlich nie vollendet. Breslauer selbst wurde weiter nach Osten deportiert und ermordet.

In Farockis Film AUFSCHUB gibt es die Einstellung eines Kindes hinter Glas in einem Wagonabteil. Dieses Kind schaut nach draußen in Richtung Kamera und hebt wie zum Gruß winkend die Hand. – Ich schreibe dies aus der Erinnerung, die Einstellung liegt mir nicht als Kopie vor. Die Details sind hier aber auch nicht entscheidend. – In der Diskussion nach der Vorführung bemängelten verschiedene Zuschauer den sentimental-suggestiven Charakter der Montage dieser Einstellung innerhalb des Films, der doch vorgibt, sich dem Material zuvorderst rational, begrifflich nähern zu wollen. Farocki wies diesen Einwurf zurück und parierte die Diskussion an einer Stelle sinngemäß damit, er mache diese Arbeit schon seit dreißig Jahren und man müsse ihm schon zugestehen, dass er weiß, was er tut.

Wie auch immer: Diese Situation macht klar – die Auslegung oder Wirkung einer Montagefolge ist auch nach Jahrzehnten Schnitt- und Filmanalyseerfahrung nicht eindeutig kontrollierbar. Und ich bin sicher, niemand weiß das besser als Harun Farocki. Seine Reaktion ist vielleicht mehr als ein Aufschrecken zu verstehen, wie: hier ist mir etwas aus der Hand geglitten, das dingfest gemacht werden muss – so wie Mütter zuweilen Diskussionen zu beenden versuchen unter dem nicht hintergehbaren Hinweis: Aber ich bin doch Deine Mutter!

Wenn Film das aber nicht kann, eindeutige Bestimmungen herbeizuführen, selbst mit Hilfe eindeutig sinnvoller Sprache nicht schafft, kalkulierbare Wirkungen hervorzurufen, ist er dann überhaupt wissenschaftsfähig? Selbst das amerikanische Kino als das kalkulierteste, von dem gesagt wird, auf 10 Hollywood-Großproduktionen kommen immerhin 9 Flops, bestätigt den filmischen Irrationalismus. Damit ist vielleicht auch der apodiktische Gestus vieler Off-Dokumentarfilmkommentare erklärbar – der Gestus des so und nicht anders, friss oder stirb, ran an Sarg und mit geheult und auf jeden Fall: hier geht es lang und es gibt kein zurück, der Film läuft nur in eine Richtung – aus der Angst einfach, den Ariadnefaden zu verlieren, der Theseus wieder aus dem Labyrinth an den Ausgansort zurückführt.

Nun kann man natürlich fragen, wen interessiert das? Warum sollte Film überhaupt Wissenschaft sein? Ich komme darauf, weil bei Farocki, bei Didi-Huberman (BILDER TROTZ ALLEM, München 2008) völlig berechtigt gefordert wird, bestehendes Film- und Bildmaterial neu zu befragen und selbst bei einem Projekt wie KUNST-DER-VERMITTLUNG geht es ja letztlich um eine Befragung bestehenden Materials. Und die Frage davor ist: Wie geht so etwas mit Film?

Mit Ausnahme von Erkenntnisverfahren wie Offenbarungsreligionen, bei denen man von vorneherein im Licht sitzt und Gewissheit hat, ist die Bewegung bei Verfahren wie Wissenschaft und Kunst, und hier zumal beim Film, zunächst eine sehr ähnliche. Man könnte sie beschreiben als HINTERS LICHT FÜHREN. Der Beobachter, der Wissenschaftler, der Regisseur, der Kameramann, ja selbst das Kinopublikum sitzt hinterm Licht oder mit dem Licht im Rücken, guckt quasi aus dem Dunklen auf das ausgestellte Objekt im Licht. In der klassischen Wissenschaft geschieht das in emotionaler Quarantäne, in Methoden wie Handlungs- und Aktionsforschung ist das Eingreifen des Forschers unter Auflagen gestattet, wenn nicht sogar gefordert, und Bestandteil des Settings. Wie alle Wissenschaftler und Künstler ist der Filmemacher zunächst Analytiker; denn zum Arbeiten wird in jedem Fall eine Hypothese gebraucht und die setzt eine Analyse voraus – wie fundiert auch immer. Traditionell geht es darum, Zuschauer emotional zu binden und zu führen. Avanciertere Methoden versuchen sich dabei selbst zu reflektieren, dem Filmemacher und dem Zuschauer seine Verstrickung zu verdeutlichen und so einen emanzipierteren Erkenntnisgewinn zu verschaffen, was in der Psychoanalyse nicht anders vonstatten geht. Das alles will nur sagen: Film ist ein Erkenntnisverfahren – auch wenn man es manchmal nicht glauben mag.

Wo Wissenschaft allerdings unter der Maxime der Verallgemeinerungsfähigkeit steht, liefert Kunst nur ästhetische Lösungen für ein spezielles Problem, für einen speziellen Ort. Es handelt sich um Vorschläge, die erst zum Leben erweckt werden, wenn Sie in den Diskurs gelangen, erst in der Diskussion auf allgemeine Praxis hin geprüft werden, so dass man sagen kann: Ein Film, über den nicht gesprochen wird, den gibt es eigentlich gar nicht. Solange bis ihn jemand entdeckt und davon berichtet.

Als die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin in der Mitte der achtziger Jahre wieder einmal um ihr Existenzrecht kämpfen musste, hatte man sich in Teilen des Studentenrates auf die Formel geeinigt, die dffb als Filmforschungsinstitut zu verkaufen, an dem Filmforscher ausgebildet werden. Nur einer der Studenten ging dann allerdings meines Wissens soweit, den Radius dahingehend zu erweitern, die Projektion seines Abschlussfilms bei geöffnetem Saallicht vorzunehmen.

Christoph Willems – DER MANN AUS DEM OSTEN (1990)

Freitag, 15.08.2008

Ursprung der Musik

Nach dem Anschauen und -hören von LA FRANCE von Serge Bozon – zu Tränen gerührt – Erinnerung an eine Stelle bei Adorno:

„Wie das Ende, so greift der Ursprung der Musik übers Reich der Intentionen, das von Sinn und Subjektivität hinaus. Er ist gestischer Art und nah verwandt dem des Weinens. Es ist die Geste des Lösens. Die Spannung der Gesichtsmuskulatur gibt nach, jene Spannung, welche das Antlitz, indem sie es in Aktion auf die Umwelt richtet, von dieser zugleich absperrt. Musik und Weinen öffnen die Lippen und geben den angehaltenen Menschen los. Die Sentimentalität der unteren Musik erinnert in verzerrter Gestalt, was die obere Musik in der wahren am Rande des Wahnsinns gerade eben zu entwerfen vermag: Versöhnung. Der Mensch, der sich verströmen lässt im Weinen und einer Musik, die in nichts mehr ihm gleich ist, lässt zugleich den Strom dessen in sich zurückfluten, was nicht er selber ist und was hinter dem Damm der Dingwelt gestaut war. Als Weinender wie als Singender geht er in die entfremdete Wirklichkeit ein. „Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder“ – danach verhält sich die Musik. So hat die Erde Eurydiken wieder. Die Geste der Zurückkehrenden, nicht das Gefühl des Wartenden beschreibt den Ausdruck aller Musik und wäre es auch in der todeswürdigen Welt.“

Adorno: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt/M 1978, S. 122

Mittwoch, 10.01.2007

Bildbeschreibung

(Eine Hausarbeit für die Berliner
Schule der Neuen Innerlichkeit)

In einer Glasschale
Rosenblätter – rot rosa weiß –
alle ins Braun trocknend
mit dem noch gehüteten Duft

Riecht es so in den Loggien
bei alten Damen aus der
Mommsenstraße oder
an der Garderobe
im Café KRANZLER

Wenn man sich traute
ginge man fragen
…………………………zaghaft

Detlev Meyer – 50 Gedichte – Eine Nacht im Dschungel – Berlin 1981 – S. 16

Samstag, 30.12.2006

Vorsätze

Announcing your plans is a good way to hear God laugh!
DEADWOOD, Episode 12

Samstag, 18.11.2006

Wider und wieder DIE NACHT oder MARCUMAR

Als die Zukunft des Mannes noch die Frau war, hätte sich eine Frage wie diese nie gestellt: Können die Männer den Frauen jemals verzeihen, dass sie genauso hilflos sind, wie die Männer selbst? Was wie eine Abwandlung eines Zvi Rex Zitates klingt (Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen), erwuchs aus der Hoffnung auf die Entfaltung des kreativen Potentials der Frau, angefangen bei Büchners DANTONS TOD, PUPPENHEIMEN und SOMMERGÄSTEN – hier nur als Versuch, eine Reihe zu beginnen. Einhergehende Überhöhungen und Idealisierungen machten es den dann tatsächlich raumgreifenden Frauen nicht unbedingt leichter. Luxemburg, Kollontai, Spielrein – ein ebenso willkürlicher wie unvollständiger Reihungsanfang. Sich die Rettung im Gegenüber zu erhoffen und dessen unerfahrbar Anderes nach getaner Arbeit zu feiern, erlaubt das eigene Verharren im Status quo. Das gilt natürlich in beiden Richtungen. Doch der Topos der intuitiv erkennenden Heilsbringerin feiert je wieder Konjunkturen von Jeanne d’Arc bis Marilyn Monroe. Ende eines Parforceritts.

Ein nicht gelungener Beischlaf auf der Rückbank eines VW-Transporters brachte die Erinnerung an eine ähnlich unglücklich gelagerte Situation am Rande eines Sandlochs auf dem Golfplatz. „Ich liebe Dich nicht mehr, ich liebe Dich nicht mehr!“ sagte die Frau zum wiederholten Male vor etwa 45 Jahren zu einem Mann, den das unbeeindruckt ließ. Vielmehr wurde sie für ihn noch umso begehrenswerter, je mehr sie Widerstand leistete. Er lag auf ihr, sie war unter seinem Gewicht gefangen. Das Paar im Auto dagegen kann weder sich selbst noch irgendjemandem anderen Auskunft über seine Befindlichkeit geben; es ist nicht sich sondern einem Geschehen ausgeliefert, an dem es keinen Teil zu haben scheint. Zwei Ehepaare am Wendepunkt ihrer Beziehung und gleichfalls am Ende des jeweiligen Films. Sieht man AM MONTAG KOMMEN DIE FENSTER aus der Perspektive von LA NOTTE, fällt auf, dass Ulrich Köhlers Film aus abgewandelten Motiven LA NOTTEs gebaut ist. Es gibt hier wie da die abrupte Loslösung der Frau aus dem gemeinsamen Ehealltag, den Weg durch die Welt mit dem Versuch der Erfahrung einer eigenen Sinnlichkeit, die Party mit satten dekadenten Gästen – beide Feste enden im Pool und mit einem nicht vollzogenen Seitensprung; Intellekt wurde durch Sport ersetzt, aber beide verkaufen sich ans Kapital. Die Aufregung und Spannung, die ein Film wie LA NOTTE noch heute hervorrufen kann, rührt her von einer Verheißung – der Verheißung, dass Intuition und Unerschließbarkeit der Frau den Keim zur Rettung der Welt bergen. Und Jeanne Moreau kann dieser Idee einen Körper geben. Dieses bereits in den sechziger Jahren von Antonioni und Godard abgearbeitete Motiv übernimmt Köhler hingegen nicht. Niemand ist in seinem Film grandios im Tun des Ungetanen oder verlässt womöglich den Rahmen über Gebühr. Einzig ein betrunken hingeworfenes JA auf die Frage ihres Mannes: „Findest Du mich eigentlich langweilig?“ scheint als großer Moment auf. Die Geschlechterverhältnisse haben sich verflüssigt, nivelliert. Gefühlstod und Entropie sind die Folge. Dafür lässt sich im Film eine Metapher finden. Sie offenbart sich in einem weiteren Motiv, das zu LA NOTTE parallel läuft: Ein Freund des Ehepaares kommt ums Leben. Während Bernhard Wicki bei Antonioni wahrscheinlich an Krebs stirbt und sein Medikament Morphium nur palliative Bedeutung hat, ist das Medikament in AM MONTAG KOMMEN DIE FENSTER dazu bestimmt zu kurieren, führt aber in den Tod. Der Blutgerinnungshemmer Marcumar macht Blut liquide, seinen Konsumenten allerdings auch zum Bluter. Alles hat zwei Seiten und nichts ist umsonst. Paracelsus: „All Ding‘ sind Gift und nichts ohn‘ Gift; allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“

Montag, 05.06.2006

Über Scheiße

Natur, die durch uns hindurchgeht, uns von innen her betrachtet und anschließend als mehr oder weniger verdichtetes Stoffwechselprodukt verlässt, ist faktisch eher selten in Filmen anzutreffen. Nachdem man sechshundertfünfzig Jahre lang Hügel nur im Gedenken Petrarcas erklomm, um im Angesicht der Natur als Landschaft Gedichte und Reiseberichte zu verfassen, konnte man bass erstaunt sein, als Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts ein junger Mann in IM LAUFE DER ZEIT in einer Landschaftstotalen einen Hügel bestieg, die Hosen runterließ und für alle sichtbar dort hinschiss. Im Gegenlicht der Abendsonne entwich die Scheiße dem Körper eindeutig identifizierbar. … to find I’m king of the hill, head of the list, cream of the crop at the top of the heap (New York, New York) oder … an groten dutt schieten, wie es bei uns zu Hause hieß und meine Großmutter diesen Vorgang höchstwahrscheinlich beschrieben hätte. Viel stärker tabuisiert als Nacktheit und geschlechtlicher Verkehr handelt es sich hier um ein wohl heute noch atemberaubendes Ereignis, das im Zusammenhang des Films als ganz unschuldiger Anschluss an und Einordnung in Naturabläufe gemeint war.

In einer gewagten Analogie kann man vielleicht so weit gehen, den Schließmuskel, der diesen Vorgang kontrolliert und einen kontinuierlichen Fluss unterbricht, als die Flügelblende menschlichen Daseins zu betrachten. Beim Scheißen hält das Leben kurzzeitig inne – wie etwa beim Schwarz zwischen den Bildern. Dem Mythos der Kinematographie zufolge soll dabei ja irre viel passieren. Beiden Vorgängen ist gemeinsam, dass Vorher und Nachher gesellschaftlich determiniert sind, die Sache selbst sich aber jeder Kontrolle entzieht, zum einen im Dunklen bzw. in der westlichen Kultur zum anderen einsam vonstatten geht. Vor dem Muskel allerdings hat sich die Gesellschaft niedergelassen, die ihm den Auftrag der Zerstückelung diktiert. In der Art der Travestie spricht DER DISKRETE CHARME DER BOURGEOISIE von diesem Akt. Und in WEEKEND ist der sexuellen Besetzung dieses Unterbrechungsapparates die obszöne Beichte des Mädchens in BH und Höschen gleich am Anfang gewidmet. Analverkehr, damals wahrscheinlich noch unter pervers geführt, heute als sexuelle Praxis verbreitet und anerkannt – selbst SEX IN THE CITY widmete ihm eine Folge – und damit dem Stigma der Entartung entronnen, deutet hin auf den Wunsch nach Teilhabe an der Scheiße des anderen, auf das, womit er nichts anfangen kann, von dem er sich trennen und Abstand gewinnen möchte*. So ist die in BROKEBACK MOUNTAIN praktizierte Analpenetration – so der ingenieurtechnische Ausdruck für Arschfickerei** – auch als mehr denn als mechanisch naheliegende Notlösung zu verstehen. Es handelt sich nicht um zur Tugend gewandelte Notdurft, sondern die Sache hat ihren eigenen Sinn – Eigensinn eben. Die Leidenschaft der Cowboys zueinander entzündet sich im gegenseitigen Erzählen ihrer Jugendtraumata. Und da es sich in beiden Fällen um unüberwindbar erscheinende Geschichten von aggressiven Vätern handelt, die ihren Söhnen keinen Platz einräumen wollen, fallen diese Erzählungen jeweils auf fruchtbaren Boden, sie werden verstanden. Hier wird ein Anschluss hergestellt zur Scheiße des Gegenübers und Müll aufbereitet im Beisein eines Vertrauten – ein Vorgang, der ihnen im Hinblick auf ihre jeweiligen Ehefrauen verwehrt ist.

Der Film legt durch drei Rückblenden auf einer dem Übrigen enthobenen Ebene nahe, dass eine repressive Gesellschaft dem Glück der beiden letztlich im Wege steht. Wie in SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD ist das Jugendtrauma in der Slow Motion Rückschau der zentrale Angelpunkt, wenn hier auch der Vaterbezug konträr besetzt ist. Diese Flash-Backs haften dem Film allerdings an wie Zugeständnisse an die Konvention politischer Korrektheit, letztlich überflüssig, denn im Parterre der Erzählung passiert etwas anderes. Das Zögern und letztlich die Weigerung von Ennis, seiner Liebe ein reales Leben zu geben, scheint nicht nur der Angst vor gesellschaftlicher Vernichtung zu gehorchen, sondern auch der Ahnung, dass der nicht viel Interesse an der Auflösung und Entsorgung von Scheiße haben kann, der seine Liebe auf die Trauer und Melancholie ihrer Unüberwindbarkeit begründet. Beide brauchen einander, um die Vergangenheit auszuhalten. Ist die einmal abgearbeitet, hätte ihre Verbindung keinen Gegenstand mehr, wäre nicht inzwischen ein tragfähiges Zukunftsprojekt formuliert. Selbst Jacks Unterfangen, das er vor seinem Freund im Geheimen betreibt, die Farm seines Vaters gemeinsam mit Ennis zu übernehmen, wäre nur einer Einrichtung im Status quo der verletzten Kinderseele gleichgekommen, einer Terra incognita, Betreten verboten und jedweder Entwicklung unhold.

Wenn John Travolta in PULP FICTION auf dem Klo sitzend erschossen wird, dann ist das sicher keinem Verismus geschuldet, sondern als Parodie zu verstehen auf die Leugnung des Tatbestandes, dass das Verzehren von Natur mit Abfall verbunden ist, und zwar in jeder Form. Scheiße zu thematisieren hieß einmal, gegen die Aufrechterhaltung des Warencharakters von Film und Filmfiguren zu arbeiten, die in der Konvention stets als geschlossene Entitäten daherkommen. (So habe ich als Kind z.B. aufgehört zu beten, als ich mir klarmachte, das Robert Wagner als AL MUNDY so einen Quatsch bestimmt nicht machen würde.) Dustin Hoffman durfte sich in MIDNIGHT COWBOYS noch kurz vor seinem Tod in die Hose scheißen, um seinen völligen Verliererstatus zu unterstreichen. Das Warenkritische daran dürfte sich inzwischen allerdings selbst verzehrt haben.

Zur Beugung:
im Netz hängen – diverse
in der Tinte sitzen – diverse
in der Scheiße sitzen – DIE 120 TAGE VON SODOM
Scheiße fressen – PINK FLAMINGO

* Die rein technokratische Ebene von Formen der Potenzierung von Lustgewinn wird hier nicht diskutiert.
**Wie bei allen sexuellen Begrifflichkeiten gibt es nie einen mit angemessenem Ton

Sonntag, 07.05.2006

Kamerarhetorik und Zwischengesichter

Aus Angst vor der nicht hintergehbaren Rhetorik seiner Muttersprache flüchtete sich Samuel Beckett zunächst ins Französische, bis ihm auch diese Sprache zu redegewandt erschien und er nur dem Deutschen genügend Sperrigkeit für seine Arbeit zugestehen mochte. (vgl. Peter Hughes: WORTFLUCHTEN, SPRACHRÄUME, NZZ 8.April 2006) Das im Sinn betrachtete ich einen Animationsfilm aus dem Zeitalter der entfesselten Quantenelektronendynamik, will heißen, Filme auf der Basis einer masselosen Kamera, bei denen der mechanische Aufnahmevorgang durch einen Algorithmus ersetzt wurde. Unter den Filmen sind die Animationsfilme sicherlich die rhetorischsten, da sie sich der Alltagsphysik mit Leichtigkeit entheben und somit alle Ecken und Kanten, die sich der klobigen Kamera in den Weg stellen, nahtlos umschiffen können. Und das konnten sie von Anbeginn an. Die Digitalisierung hat lediglich die Variationsbreite vervielfacht, indem sie die Trägheit der Handarbeit überwindet. Animationsfilme sind so etwas wie Prototypen, die zeigen, was man machen würde, stellte die Welt der Dinge sich nicht bockig. Sie sind umfassend gelungene Verdinglichung. Und das umso mehr, als sie versuchen, sich einer Natürlichkeit anzuverwandeln. Was verliehen wird ist mitnichten Seele, sondern mechanisch dirigierbare Beweglichkeit.

Ich entdeckte mein Filmbeispiel im Kaufhaus, wo es zu Demonstrationszwecken auf bereits veralteten Plasmabildschirmen lief, die zu reduzierten Preisen notwendig verkauft werden müssen. Animationsfilme eignen sich hierzu besonders gut, da sie zumeist recht zahlreich monochrome Farbflächen enthalten, für die eine geringere Bildpixelanzahl kein Problem darstellt. Alle Lichtsituationen sind beherrscht und entschieden. Und sie produzieren zuweilen wie dieser – THE POLAR EXPRESS – einen Sog, der außerhalb bewusster Kontrolle des Zuschauers liegt. Das ist gemeinhin ein Wesensmerkmal der Werbung. Klaus Heinrich hat von der Sucht zum Sog gesprochen. Ideologisch gesehen indiskutabel macht dieses Weihnachtsmärchen – von allen christlichen Konnotationen und Geistern verlassen – abhängig wie Achterbahnfahren. Und tatsächlich kann es der Zauberzug im Film mit diesen Jahrmarktsgefährten ohne weiteres aufnehmen. Einen Tick schneller noch ist allerdings die virtuelle Kamera, die in halsbrecherischen Plansequenzen den Fortgang der Ereignisse in ihren Bewegungen jeweils behände vorausahnt. Um das Verhalten der Figuren dem Leben anzunähern, wurde das Performance-Capture-Verfahren – Darstellung in Gefangenschaft klingt ja zunächst einmal gar nicht unsympathisch – angewandt. Der verbliebene Rest an Unnatürlichkeit führt zu einem Hauch von Stilisierung, der das süßliche Geschehen auch für Diabetiker konsumierbar macht. Aber diese Dinge sind letztlich alle nicht neu.

Es gibt eine Einstellung, die die Hauptfigur beim Lesen zeigt. Und zwar bildet die Kamera das Gesicht des Lesenden aus der Perspektive des Buches ab, fährt aber gleichzeitig zurück und kommt zwischen Buchstaben und Papier zum Halt, so dass vor dem Gesicht des Lesenden ein spiegelverkehrter Schriftzug zu sehen ist. In diesem Fall steht dort: DEVOID OF LIFE (spiegelverkehrt), was in der deutschen Version mit OHNE ANZEICHEN VON LEBEN übersetzt ist. Der Kameraverismus ist so weit getrieben, dass sogar die Interferenzen und Reflexe im Linsensystem zu sehen sind, denn der Lesende leuchtet mit einer Taschenlampe direkt ins Buch, also in die Sichtachse. Man könnte zunächst meinen, dass es sich hierbei um die von der Kamera ersetzte weggeräumte vierte Wand handeln könnte, die diesmal eben Papier ist. Nun sagt aber alle Alltagserfahrung, dass Buchstaben in Büchern an das Papier gebunden sind, und im Normalfall wird auch die vierte Wand mitsamt Hängeregal und Tapete entfernt. Die Atmosphäre ist sehr intim und hat etwas von Überwachungskamera – der Augenblick, in dem für den Leser aus Zeichen Bedeutung entsteht. Für diese Kameraposition macht der Begriff INTERFACE Sinn, ein Zwischengesicht, fast schon ein Zweites Gesicht. Der Vorgang wiederholt sich in einer wilden Showszene, in der ein Kellnerballett parterre-akrobatischen Tap Dance aufführt, während gleichzeitig heiße Schokolade serviert wird. Hier befindet sich die Kameraposition unter dem Tanzenden, die Bewegungen des Fußes und die metallbeschlagenen Sohlen sind von unten zu sehen, das Klackern zu hören. Da aber die Kameraebene mit dem Fußboden identisch ist, gibt es keinen Fußboden – der Kellner klackert ins Leere. An dieser Stelle ist das Zwischengesicht mehr zur Herstellung sensationeller Atemlosigkeit benutzt worden, so dass die meisten Zuschauer sich wahrscheinlich gar nicht daran erinnern werden. Eine aus den Fugen geratene Welt. Eine Erziehung hin zu unmöglichen Missionen, die einmal mit Jahrmarktsspäßen beinahe unschuldig angefangen haben. Das Auseinandertreten von Bezeichnendem und Bezeichnetem ist Merkmal der Neurose, sagt Derrida. Das passt hier nicht hundertprozentig hin und steht auch in einem ganz anderen Buch. Die eloquente Geschwätzigkeit der Kamera in diesem Film kopiert dann auch eher eine kindliche Überflussproduktion: Guck mal, was ich auch noch kann!

Freitag, 13.01.2006

FESTIVAL:

… a young man in his early 20’s, heads towards his victim’s apartment
in order to get his revenge. This act will lead to the collision of three different lives.

*** MITTAGSPAUSE ***

Freitag, 17.06.2005

Nach SULLA

„Ich möchte nicht in die Welt, um den Leuten die Welt zu zeigen, ich möchte selber die Welt sein.“
Helge Schneider, Süddeutsche Zeitung, 04.06.2005

Könnte ein Verständnisschlüssel sein zu SULLA (2002) von Klaus Wyborny

Dienstag, 03.05.2005

Es geht

Something made just to confuse people.
GERRY – Farce von Gus van Sant

Die Behauptung ist die von ungetrübter Natur, gleichgültig gegenüber der Kreatur und bar jedes menschlichen Einflusses. Trotzdem ist der Schauplatz bis ins letzte kulturell geformt; er sagt in etwa: ICH BIN DREI WÜSTEN, eine geologische Wunderwelt sondergleichen. Ebenso ein wunderliches Wetter, launischer als um Kap Horn, ständige Verschiebungen und atmosphärische Turbulenzen jenseits jeglicher Kontinuität. Wenn es denn so etwas geben kann wie den Archetyp Wüste und den Archetyp Wetter – hier liegen sie vor. Eine unaufhörliche Kette von Verdichtung und Entspannung. Hier wird Natur nicht angeschaut, sie wird beschworen. Kreiert aus Versatzstücken aus dem Setzbaukasten. Sie ist instrumentalisiert zum Durchlauferhitzer und zur Geisterbahn, als Vexierspiel. Doch letztlich ist sie eingesetzt als Vergrößerungsglas zur Untersuchung von Mikrostrukturen, die in der dumpfen Aufdringlichkeit des Banalen gar nicht erkennbar wären, sind sie doch selbst ein Bestandteil desselben. Diese Manipulationsmaschine galaktischen Ausmaßes basiert auf ähnlichen Prinzipien wie die Ablenkung des Lichts durch Gravitationsfelder super-massiven Ursprungs: Plötzlich wird sichtbar, was dahinter ist, obwohl man nicht hindurchschauen kann. Aber ist etwas dahinter?

Zunächst einmal macht GERRY deutlich, dass ein Film dann entsteht, wenn eine Sammlung gewählter Prinzipien durchgehalten wird, unabhängig vom Inhalt. Einmal etablierte Prinzipien können dann wiederum auch außer Kraft gesetzt werden, aber das muss kontrolliert geschehen, als Akt der Komposition. Zentrales Interesse gilt dem Gehen. Das ist dramaturgisch flüchtig begründet, der kausale Zusammenhang wird im Verlauf aber immer unwichtiger. Es geht. Zwei Männer werden gegangen. Und wir werden auf die Schiene gesetzt als Mitläufer, als Untersuchungsteam vor Ort. Forschung am lebenden Objekt. Bei James Benning sitzt man behütet im Kasten und imitiert den Blick aus dem Herrenhaus in den Park. GERRY hingegen gibt durch die Kameraarbeit vor, teilnehmende Beobachtung, Feldforschung zu sein, was der Film natürlich nicht ist. Zuweilen entsteht Irritation dadurch, dass man ein Spiel bei den Darstellern zu erkennen meint, wo nur Gehen sein sollte. So in der dreieinhalb Minuten Einstellung, Parallelfahrt als Naheinstellung auf die Gesichtsprofile der beiden Gerrys, in der Affleck zum Ende hin zu schmunzeln beginnt. Diese Aktion gefährdet den fast reinen Materialcharakter dieser Szene. Die Fahrt hebt an in der Unschärfe des Landschaftshintergrundes. Die Gerrys stoßen erst dazu und verlassen das Bild noch bevor es sich wieder in Unschärfe verliert. Zunächst ist die Bewegung; die Darsteller verleihen ihr nur Ausdruck. Um was es geht, ist Bewegung. Der Mangel an psychologischem Spiel hat natürlich das Heraufziehen bombastischer Assoziationsgewitter zur Folge, ähnlich dem unablässigen suggestiven Grollen auf der Tonebene. So wie das Gehirn die fehlenden Frequenzen jenseits der 20 MHZ auf einer CD angeblich permanent dazu erfinden muss und deswegen ermüdet, will es offensichtlich die für uns ungeklärten Verhältnisse in der Personenkonstellation entschlüsseln. Aber ist da was? – Was es gibt, ist ein Hierarchiegefälle: Der eine Gerry bittet zweimal um Hilfe und beim dritten Mal wird ihm erlösend geholfen. Am Anfang der Irrfahrt ruft er ein übermütiges FUCK THE THING! – FUCK THE THING! aus, so dass, als sein Freund Hand an ihn legt – und genau das tut er – , sowohl als reine Wortassoziation aber auch zum Inhalt sich die Oscar-Wilde-Zeile anbieten will: YET EACH MAN KILLS THE THING HE LOVES. Aber das bleibt ohne jeden immanenten Anhalt im Film wie alles andere pure Spekulation.

Wenn die Wolken ziehen und an uns vorbeisausen, wenn die Sonne aufbraust und flugs verschwindet, dann meint man gemeinhin in solcherart geraffter Animation die Vergegenwärtigung von fließender Zeit zu sehen. Das ist hier aber nicht der Fall, ganz im Gegenteil. Das Licht kommt und geht, ein Tag folgt auf den nächsten, darin ist kein Zweifel. Was hier präsent ist, heißt Ewigkeit, also die Abwesenheit von Zeit. Zeit ist eine Kategorie der menschlichen Natur und offenbart sich so auch nur in der zunehmenden Mattigkeit beider Gerrys. Für die Natur ist sie völlig obsolet. Aber eine Natur ohne Menschen ist für uns obsolet, eigentlich nicht denkbar und auch uninteressant. Van Sant hat sich ein Set hochgradiger Asozialität gewählt, gaukelt es uns vor, ein Forschungsdesign. Die Titel der bis zur Einfältigkeit homophonen Musikeinspielungen von Arvo Pärt, SPIEGEL IM SPIEGEL und FÜR ALINA , zusammen mit den zahlreich applizierten Eulenschreien, legen eine Eulenspiegelei nahe. GERRYS IN WONDERLAND – BEHIND THE LOOKING GLASS – was ist dahinter? Nahezu ohne Angst kippen sie irgendwann ins Delirium.

Reduktionen auf Kreatürlichkeit bewegen sich immer am Rande des Abgrunds zum Unmenschen oder zur Banalität. Kunst darf auch das.

Nur zum Spaß, nur zum Spiel …


atasehir escort atasehir escort kadikoy escort kartal escort bostanci escort