Einträge von Wolfgang Schmidt

Dienstag, 07.05.2002

NACHTRÄGE

1.: Zweimal Konservenbüchsen
Betrachtet man Stévenin in PASSE MONTAGNE als Schauspieler der Verwunderung, dann sollte man auch auf seine Nebenrolle in CHAMBRE EN VILLE von Jacques Demi hinweisen, was ich vergaß. Hier spielt er einen proletarischen Sympathieknochen, der fortwährend lächelt, was ausdrücklich auch so benannt, d.h. gesungen wird.

2.: Rücksturz zur Erde
Was von mir ‚rotating freeze-frame‘ genannt wurde, läuft auch als ‚chronophotography‘ oder ‚bullit time shot‘ durch die Literatur und ist so im Netz zu recherchieren. Diesen Hinweis verdanke ich Martin Kreißig. Reinhold Vorschneider wies darauf hin, dass das notwendige Equipment laut ’steadycam‘ mittlerweile zumindest bei US-amerikanischen Geräteverleihern jederzeit zu haben ist.

Rücksturz zur Erde. Erfahrung und Erfahrbarkeit mittels fahrbarer Kameras.

DER RUNNER/Rowitz, Pro7 02.05.02, 20.15 Uhr
WINTERSCHLÄFER/Tykwer, ARD 02.05.02, 23.00 Uhr

EIN/AUS
EIN: Es hat schon angefangen. Aber wie soll man, wie sollen wir, wie soll ich – wer bin ich und vor allem wo? Keine Panik. Das Mobiliar ist übersichtlich, die Geschwindigkeit atemberaubend. Der hastig-irrationalen Choreographie genügt ein Plot: Schöne Frau, sehr gefährlich, will den Körper des unschuldig-ungestümen jungen Mannes zerstören. Perverse Lust kristallisiert sich schnell zu rührender Mutterliebe: Es geht um Organersatz für den kränkelnden Sohn. Zeitdruck! Sauber-praktische Freundin des jungen Mannes – Typ Pfadfinder – ist trotz dieser Besetzungsvorgaben ungeschickt und lässt sich als Geisel gefangen nehmen. Dann gibt es noch den hässlichen Bösen, der eine Armee von Bösewichtern befehligt und nur Böses will. Drehort soll ausdrücklich Berlin sein. Jenes steinerne Berlin, große Hallen aus nahezu vermeintlich unbehauenem Naturstein, das den Faschismus als unentgeltliches Surplus mitschwingen lässt. Wir befinden uns in einer Fernsehproduktion, da schaut man nicht so genau hin. Kälte, Dunkelheit, Technizismus und Gitterrost-Backsteinfabrik-Romantik. Computer strukturieren die Welt, so dass der Gedanke an ein Computerspiel nahe liegt. Aber die hyperaktiven Kamerabewegungen machen es unmöglich zu entscheiden, wann abzudrücken ist. Unterhaltung zweier Personen, die sich gegenüber stehen, führt zum völligen Austicken der Kamera. Angeschnittene Fahrten von oben links nach unten rechts, abgerissene Bewegung, Todesspirale und eingesprungener Axolotl. Die Redenden stehen weiterhin still. Von außen herangetragene Expressivität, die die aufgerissenen Augen der Akteure verdoppelt, denn mehr als Ausdruck zeigen können die schließlich auch nicht. Als sollte Dreidimensionalität, an der es hier gänzlich mangelt, mit aller Kraft behauptet werden, umzingelt sie die Kamera in diskontinuierlichen Kreiselbewegungen: Holographie now! Und wie bei der Holographie in jedem Punkt das vollständige Bild enthalten ist, weiß man hier an jeder Stelle um die schlichte Mechanik von Gut und Böse, weiß immer, wo man sich befindet. Beeindruckend die Konsequenz, mit der dieses Prinzip durchgehalten wird. (Völlig konträr dazu die vor vier-fünf Jahren moderne „rotating freeze-frame“-Technik, bei der die Kamera anscheinend ein eingefrorenes Bild umfahren konnte, wie z.B. in BUFFALO 66. Da wird Raum erzeugt, aber eben auch absoluter Stillstand.) Warum nur ist jeder Comic überzeugender und die Qualität mancher Walter-Hill-Filme unerreicht? So wie der Titel: DER RUNNER sein Hybrid-Sein ausstellt – deutscher Mief trifft auf internationalen Anspruch – bleibt der Film unentschieden zwischen Realismuswollen und künstlicher Schöpfung; die Stilisierung kriegt die Kurve nicht. Selbst für den abstrusesten Mythos bedarf es einer Vorstellung von geschichtlichem Bewusstsein, von Verankerung. Vielleicht beseitigt die Kamerabewegung die Dauer, die Zeit beseitigt sie nicht. Verpatzt also. Die Kür.

ÜBERFLUG: Irgendwo auf einem anderen Kanal kreiselt eine Kamera wiederum um dialogisierende Schauspieler, gerne auch um Vereinzelte. Diesmal handelt es sich nur um den alltäglichen Fernsehspielwahnsinn. Also noch uninteressanter, weil es sich gänzlich ernst nimmt. Erneute Schaltung bei vollem Gas.

VOGELPERSPEKTIVE: Bis weit in die Renaissance hinein galten die Alpen, galt Gebirge allgemein, als terra incognita. Nur wer einen Termin beim Papst hatte, sah sich dieser Strapaze ausgesetzt, freiwillig ging da keiner hin. Wie Menschen vor tausenden von Jahren also in Gletscher geraten konnten und uns damit überbracht wurden, ist der Wissenschaft folglich ein Rätsel. Erst der zu Landschaft ordnende Blick auf die Natur, verbunden mit ästhetischen Setzungen wie dem Erhabenen, machte die Wildnis genießbar. Petrarca hat sich als einer der Ersten literarisch darum verdient gemacht. In der Beschreibung seiner Besteigung des Mont Ventoux zum reinen Zwecke des Genusses von Natur, die damit zu Landschaft gerann, liegt im Grunde der erste Reiseprospekt vor. Das notorische Krämerwesen, das dafür verantwortlich ist und uns seitdem plagt, soll hier nicht weiter erläutert werden. Um die Alpen, ein Gelände, das von Menschen völlig absieht, zu zeigen, fliegt man am besten drüber weg. Das liegt auf der Hand. Selbst Arnold Franck und Leni haben spätestens in den Eisbergen Ernst Udet für sich gewinnen können; insofern sind die eröffnenden Gletscherflüge in WINTERSCHLÄFER Legion. Im Weiteren wird dann eine neue Szene gerne mit einer Kranfahrt eingeführt. Hoch über dem Geschehen, das noch nicht abzusehen ist, haben wir einen Überblick und stürzen dann zu Boden in die Verdichtung: Der Glaube an die Schwerkraft ungebrochen (- das Diktum der schwangeren Hippiefrau aus ATLANTIC CITY missachtend, die – befragt zu eventueller Flugangst – angab: Ich glaube nicht an die Schwerkraft!) Wie sich am Ende herausstellt, hat der Film sehr viel mit „Niederkommen“ zu tun. Zunächst einmal ist diese Art der Einführung die kontinuierliche Variante der gestückelten Billigversion in jeder Soap: Totale Hochhaus – (manchmal Zoom auf ein Fenster/aber nicht unbedingt notwendig) – Schnitt in die Studiodekoration, von der wir dann wissen, dass sie sich hinter einem der Fenster befindet. Was die Kranfahrt suggeriert, ist der allwissende Erzähler: Die Kamera weiß immer schon, was und das etwas Bedeutendes passieren wird. Sie sagt: Unter vielem Volke dieses eine Schicksal. Sie sagt: In der gleichgültigen Natur dieser eine Mensch. Viele Filme finden so ihren Anfang (z.B. TOUCH OF EVIL – in nicht enden wollender Dehnung/THE FABULOUS BAKER BOYS – nach einem one-night-stand der Hauptfigur öffnet Ballhaus den Blick durchs Fenster im ersten oder zweiten Stock auf die Straße, fährt an der Fassade herunter und nimmt die Figur auf der Straße wieder auf, die inzwischen das Haus verlassen hat/BERLIN CHAMISSOPLATZ beginnt so, um etwas Naheliegendes zu nennen), belassen es aber dann dabei, finden einen neuen Rhythmus. WINTERSCHLÄFER konstruiert aus dieser ostinaten Figur seinen Rhythmus. Diese Konsequenz bleibt nicht ohne Komik: Die Frau hat gerade erfahren, dass fern vom Ferienort ihr Vater verstorben ist. Nun fährt sie mit der Limousine auf der Landstraße von A nach B, hält unvermutet an einem Schober, hockt sich hinter ihn und pinkelt. Heulen tut sie auch noch. Die Kamera hat das kommen sehen. Aus dem Überblick schwenkt sie hernieder, nimmt die Frau beim Aussteigen aufs Korn, schwenkt über das heulende Elend – alles fließt – und öffnet in ein Landschaftspanorama. Irgendwie ökologisch, das. Kino technischer Substitute, die ratlos fragen, was sie denn ersetzen sollen. Nach einem Unfall mit Hirnschaden wird eine der Filmfiguren von temporären Absencen heimgesucht. In einem spektakulären Anfall beginnt die Kamera um ihren Kopf zu kreisen. Diesmal ist die Deutung klar: Kreiselt die Kamera um den Kopf, dann ist das Wahnsinn. Zum Schluss, in Panik, richtet der Bösewicht sich selbst. Hier hat der Film bereits Mickey-Mouse-Stadium erreicht. Und – hast Du nicht gesehen – stürzt er von Berges Spitze nieder. Die Kamera – mir nichts, Dir nichts – kurz entschlossen hinterher. Ran an Sarg und mitgeheult! – möchte man ihr noch zurufen, bevor sie in der Gletscherspalte versinkt. Den Bösewicht haben wir inzwischen verloren, will man denn den fliegenden Wechsel in die Subjektive nicht akzeptieren. Aus dieser Versenkungsspalte geht im nahtlosen Anschluss ein Neugeborenes hervor. Wie das so ist. Familienkonstituierend. Kreislaufschließend. Ökologisch eben.
Womit auch geklärt wäre, wie die Leute in den Gletscher kommen.
AUS.

Donnerstag, 02.05.2002

Zweimal Konservenbüchsen

Büchse 1: PASSE MONTAGNE aufrollen vom Stellenwert, den Essen in diesem Film hat. Was in Erinnerung bleibt, ist die haptische Qualität, die Stévenin dem Öffnen einer Konserve (wahrscheinlich handelt es sich um Thunfisch) verleiht. Halbieren eines Brötchens; Öffnen der Dose; mit dem Taschenmesser wird der Fisch im Brötchen verteilt; Öl aus der Dose nachgießen, damit das Brötchen nicht so trocken bleibt; Reinbeißen; für den Mund eigentlich zu groß, aber es geht schon; die Hände schmutzig; von Erde bist Du genommen, zu Erde sollst Du werden. Der Film spricht nicht von Körperlichkeit sondern von Leiblichkeit. Ist durch und durch irdisch. Selbst die Fluggeräte bleiben auf dem Boden. Es genügt, wenn man eine Vision hat. Kein Sex. Die Delikatesse von Frauen wird beschworen, dabei bleibt es. Dafür wissen beide Protagonisten eine Zwiebel nebenbei zu würfeln, so wie Humphrey Bogart eine Zigarette halten kann. Alle Dinge sind immer gleichzeitig anwesend, was zu Unordnung führt, die aber nur höhere Ordnung ist. Was der Film ausstellt ist wohlwollende Verwunderung. Wir befinden uns in einer Passage, nicht wissend, woher wir kommen, und hoffentlich werden wir nicht ankommen, damit das Abenteuer Bestand hat. Staunen als höchste Erkenntnisform und Gnade. Ja, die Haltung des Films ist gnädig. Die ganze Natur und damit jeder Idiot soll hier in sein Recht gesetzt werden. Laut wird Stévenin nur einmal, als es um die Verteidigung des verschrobenen Rezitators geht. – Über Gnade hat einmal Mitsuko Uchida (Pianistin) sehr schön im Zusammenhang mit dem letzten Klavierkonzert Mozarts gesprochen (Klavierkonzert B-Dur, KV 595) und vielleicht kann man in dieser Musik eine Entsprechung finden – nur ein Vorschlag. – Als Zeitgenosse war meine Kritik diesem Lebensgefühl gegenüber harsch: Es tummelt sich auf den Territorien, auf denen sich Fuchs und Hase „Gute Nacht“ sagen. Was aber, wenn der Fuchs das Licht ausknipst? – Mit der Zeit wird man gnädiger. „Es war doch nicht alles falsch, was wir früher gemacht haben,“ unterbricht ein Eindringling die beiden Männer beim Essen. Dieser Satz fällt auf Deutsch. Drei Jahre später sagt Stévenin diesen Satz als einzigen deutschen Dialogbeitrag in Rivettes PONT DU NORD und stellt damit das Geschehen urplötzlich in einen terroristischen Zusammenhang, ohne je konkreter zu werden. Weitere zehn Jahre danach darf der Matrose Max Reichpietsch in NAVY CUT davon sprechen, dass nicht alles falsch war, was wir damals gemacht haben. Kurz darauf wird er erschossen.

Büchse 2: Sarah packt den täglichen Einkauf auf dem Küchentisch aus. Die Küche ist zum Living hin geöffnet. Wir sind in USA. Eddie läuft im Hintergrund auf und ab. Eddie und Sarah streiten währenddessen über Ehrgeiz, Trunksucht, Liebe. Diese Szene ereignet sich in Robert Rossens THE HUSTLER. Im Verlauf der Auseinandersetzung beginnt Sarah damit, die Deckel der gekauften Konservendosen mit einem Tuch abzuwischen. Diese Geste haut mich um. Innerhalb eines extrem gerichteten amerikanischen Dramas, in dem die Hindernisse nach konventionell logischer Konsequenz angeordnet sind, bis endlich Liebe sie überwinden kann, weist das Putzen der Dosendeckel auf einen Zusammenhag von purer Alltäglichkeit hin, für den die gestauchte Konfliktdichte ansonsten keinen Platz lässt. Konservenbüchsen zu säubern hat den Sinn, die Lebensmittel beim Öffnen der Dose nicht zu verschmutzen. Nun werden die Dosen aber im weiteren Verlauf weder geöffnet noch deren Inhalt verspeist. Das Putzen legt aber nahe, dass sie verbraucht werden sollen. Vielleicht liegt die Subversion darin davon zu künden, dass der Konflikt über einer materiellen Basis abläuft, die ihr Recht fordert, auch wenn noch so moralische Werte verhandelt werden, oder dass es überhaupt ein Geschehen geben kann neben Bildersog und Handlungsstrang. Auf jeden Fall – jemand am Set wusste etwas von Haushaltsarbeit.

Die Travestieaktrice Camelia Light nannte eines ihrer Programme: Ich war eine Dose. Zu den weitreichenden Folgerungen des damit aufgerissenen Interpretationsspektrums jetzt nichts mehr.

Sonntag, 28.04.2002

Wirkungsgeschichte. Über einen Satz von Danièle Huillet.

Am Ende seines Studiums an der Filmakademie – die Abschlussarbeit war bereits fertiggestellt – besuchte der Filmstudent ein Seminar, das von Straub/Huillet geleitet wurde. Der Status der beiden Filmemacher innerhalb der filminteressierten Gemeinde reizte ihn dazu, sie mit seiner Abschlussarbeit, einem 15minütigen 35 mm-Kurzfilm, zu konfrontieren. Nur widerwillig folgten Straub/Huillet seinem Wunsch. Er musste sie quasi nötigen, seinen Film anzusehen. Ziel des Unternehmens war natürlich, einen Kommentar oder eine Kritik zu erhalten, mit der man weiterarbeiten konnte. Doch alles, was er den beiden entlockte, war dieser Satz von Danièle Huillet: „Sie arbeiten mit Wirkung.“ So weit die überbrachte Erzählung.
Was wie die kryptische Aufgabe eines erfahrenen Zen-Meisters an seinen Schüler daherkommt, hat mich seither beschäftigt, obwohl ich weder der Student der Erzählung bin, noch überhaupt zugegen war und Straub/Huillet nie als meine Überväter ansah.
Irrt hier ein Gott? – Wenn ich vulgär-etymologisch davon ausgehe, dass „Wirken“ mit dem Verschränken von zumindest zwei unabhängigen Fäden zu tun hat, dann liegt es im Wesen eines zumindest aus zwei Einstellungen bestehenden Films, gewirkt worden zu sein. An seiner Erarbeitung war Wirkung zwangsläufig beteiligt. Film ist schlechthin Wirkung. Doch hielt ich die Aussage nie für eine tautologische Äußerung als vielmehr für offene Kritik.
In dem Bemühen, der Einstellung gerecht zu werden und dem Schock des Schnitts ins Gesicht zu sehen, kommen Straub/Huillet ja nicht umhin, Wirkung zu erzielen. Es muss also etwas anderes gemeint gewesen sein.
Wirkungsgeschichte und Rezeptionsgeschichte werden ja quasi synonym verwandt, und vielleicht kommt man der Sache näher, wenn man die von Huillet angeführte Wirkung als Rezeptionsorientierung, Suggestion oder Zuschauerbeeinflussung liest. Dem stände eine Objektorientierung bei Straub/Huillet gegenüber. Das gefilmte Objekt gibt den Atem vor, dem es nachzulauschen gilt, damit er zum Atem des Films wird. Da spielt sicher auch die Sache mit der Architektur hinein, die der Film selbst ist oder die er nur ausstellt, wie Christian Petzold weiter unten unter Bezug auf Bitomsky ausführt. Es ist Sitte der Götter, ihren Schöpfungen Atem einzuhauchen. Der Filmemacher hat die Möglichkeit, ihn in den Film hineinzuwirken, wenn er denn der Gefahr entgeht, ihn zu verwirken. Spitzfindig. Kleiner Versuch über Wirkung.

Kein Film. Hier jetzt kein Film.

Warum der Vergleich, der Aufbau einer Beziehung, die Reihenbildung von TWO-LANE BLACKTOP mit Melvilles BARTLEBY nicht gefällt, mich unzufrieden zurücklässt, ungelöste Reste erzeugt, die ja ihrerseits wieder produktiv werden können? (s. den Text von Bert Rebhandl weiter unten) Natürlich ist es legitim, jeden Text zu jedwedem Film in Beziehung zu setzen. Dabei besteht aber die Gefahr, dass Konturen zu Gunsten von Ähnlichkeiten verschliffen werden. Zumindest möchte ich eine Präzisierung vorschlagen, die die Dinge wieder auseinanderrückt und die Reibung erhöht.

Ist es wirklich der Geist von BARTLEBY, der als Brise und Fahrtwind verkleidet, den Protagonisten von TWO-LANE BLACKTOP ins Gesicht schlägt? Meine Befürchtung ist, dass in dieser Gegenüberstellung ähnliche Kategorien vorschnell für identisch erklärt werden. Bartlebys Verweigerungskonzept schien mir zunächst dem zu entsprechen, was ich mir unter britischer Exzentrik vorstelle, obwohl sich die Geschichte in New York zuträgt: – Der Versuch eben, innerhalb einer äußerst formierten Gesellschaft, die kein Ausbrechen erlaubt, durch Implosion eine Blase privaten Wahnsinns herzustellen, die in ihrer Einzigartigkeit und Abgegrenztheit dann wieder gesellschaftlich sanktioniert wird – soweit ein hinreichendes Funktionieren des Exzentrikers gewährleistet ist. Soviel Versöhnlichkeit liegt hier aber nicht vor. Denn Bartlebys Verweigerung geht weiter und lässt sich als Spleen nicht fassen, will gar nicht mehr funktionieren, will einfach nur „nicht“. In seinem Buch „Hand an sich legen“ trifft Jean Améry die Unterscheidung von „nicht“ und „nichts“. Derjenige, der Hand an sich legt, will nicht etwa nichts. Soviel Gegenständlichkeit entspricht der Situation schon lange nicht mehr. Er will einfach nur nicht. Das Verhältnis von „nicht“ und „nichts“ scheint mir auch das Verhältnis von BARTLEBY und TWO-LANE BLACKTOP zu charakterisieren. Bartlebys Autismus, sich in vorgegebene Strukturen hineinfallen zu lassen (selbst das hat noch zu viel Willen; er fällt einfach nur) ohne dort selbst noch als „ich“ vorkommen zu müssen, geht in seiner radikalen Hermetik über die immerhin noch nonverbal expressiv sein wollenden Protagonisten von TWO-LANE BLACKTOP weit hinaus. Sie wollen durchaus wirken und gesellschaftlichen Gegenentwurf liefern. Dabei bildet das Mädchen die Ausnahme, die die hoffnungslose Gefangenschaft der Männer noch als erste transzendiert, wenn auch nur mit Hilfe eines Mannes. So könnte am Ende von TWO-LANE BLACKTOP stehen, die Zukunft des Mannes sei die Frau; am Ende von BARTLEBY – jenseits aller geschlechtlicher Differenzierung – steht gar nicht.

Habe ich schon bedauert, dass die Arbeit an Text und Film dazu verleitet, von der Physis des Films abzusehen? Wo sind die Veranstaltungen, die die Hand, die die Sprache auf den Film legt, in ihre Schranken weist?
„… die Stimme gegen die Macht der Sprache …“ wird Godard in einem Aufsatz von Helmut Färber zitiert, auf den hier hinzuweisen ist. (Architektur, Dekoration, Zerstörung. Etliches über Kinematographie und äußere Wirklichkeit.; in: Kreimeier[Hrsg.]: Die Metaphysik des Dekors, Marburg 1994; S. 100-117) Dank an Bert Rebhandl für die Lenkung der Aufmerksamkeit.

Montag, 15.04.2002

Beim Wiedersehen von Mein langsames Leben von Angela Schanelec am Montag, 8.04.2002, ZDF

Ich weiß nicht, was ich sagen will, aber ich will etwas sagen.

EIN/AUS

Ohne Versammlung. Einschalten, aufs Geratewohl; denn wenn es plappert, erübrigt sich die Frage, ob ich noch lebe oder sonst einem Zusammenhang angehöre. Diese Frage stellt sich einfach nicht.

EIN: Paare des Nachts an einem Wirtshaustisch im Freien reden Belanglosigkeiten. Kenn’ ich, hab’ ich schon mal gesehen: Mein Langsames Leben, Angelas Film. Den Anfang habe ich jetzt verpasst. Aber das ist nicht schlimm. Wer interessiert sich schon für Erzählungen? Das klingt gewollt zynisch-cool und natürlich ist die Erzählung nicht ohne Bedeutung, tritt aber zurück hinter dem, ‚wie’ hier etwas gesagt wird. Unserer aller Neurosen und Verbiegungen sind weniger aufregend, als die Art, wie wir mit ihnen umgehen. Darin könnte das Allgemeine liegen. (Ein Vergleich zur Popmusik drängt sich mir auf. Wer interessiert sich hier schon dafür, ob der Sänger stimmliche Möglichkeiten hat; hat er sie, ist es seinem vermeintlich authentischen Ausdruck eher abträglich. Der Vergleich taugt zu nichts. Eher schon der Gedanke an das von SATIE – ENO – TECHNO-DJs et al. entwickelte Ambientkonzept. Aber davon später mehr.) Außerdem bin ich heute ganz Fernseher, weniger Nahseher wie im Kino. Das kann mehr Überblick bedeuten. Was im Kino nicht ging, klappt hier plötzlich. Das Fernsehgerät funktioniert wie ein Kompressor. Durch das Hindurchzwängen durch den Apparat – der Film wird quasi ein zweites Mal geboren – und der damit verbundenen Nivellierung – die Schroffheit des Vorgangs kappt romantische Attitüden – scheint mir der Film eher zu dem zu kommen, wo er eigentlich hin will. Jedenfalls folge ich ihm aufgeregt und nicht skeptisch-mäkelnd wie im Kino. Er ist befreit von dem Bemühen, auch noch etwas erzählen zu müssen, dramatisch zu sein. Befördert alles durch den Umstand, mitten hineingeschaltet zu haben. Schauspieleranstrengungen mit dem Ziel, Texte zu gestalten, treten in den Hintergrund. Vielleicht ist es überhaupt die Reduktion der geballten Konzentration, Menschliches als Beiläufiges darstellen zu wollen, die den Film im Fernseher so angenehm ambientmäßig fließen lässt. Die Pastelligkeit der Inszenierung und der Gegenlichtfotografie, die sich doppeln und so die allgegenwärtige Sanftmut von Teppichböden ausströmen, kommen in meinem altersschwachen Gerät nicht mehr auf die vorgegebene Summe und bilden so kein Hindernis mehr für den Fluss. Die Großartigkeit der Einzelleistungen wie der Inszenierung z.B. in der Kücheneinstellung: ‚ – Ich mach mir einen Tee. – Es muss noch welcher da sein. – Ich mach mir lieber einen neuen.’ – und die befreiende Fotografie bleiben dabei völlig unangetastet und behalten ihren Charme. Auch wenn man ihn nicht mehr zitieren darf, wusste schon Hermann Hesse im Steppenwolf zu berichten, dass ein krächzendes Radio Mozart nichts anhaben kann.

BREAK: Frauen bewegen sich, Männer sind so tot wie irgendwas. Allen gemeinsam fehlt zur Leidenschaft der Zugang zum Objekt. In der Schlüsselszene: Der Ausgeschlossene, der sich selber ausgeschlossen hat aus der eigenen Wohnung. Dem gleichzeitig der Zugang verwehrt ist zu seiner Freundin, die ihn nicht mehr sehen will. Ein fleischgewordenes Dazwischen. Hier ist noch einmal emotionale Hoch-Zeit; die Welt durchs Individuum ausgerichtet auf ein einziges Interesse, Zugang zu finden zum geliebten Objekt. Die Szene endet mit einem Blick in eine Straßenflucht – lange Brennweite. Obschon gestaucht, gibt es diesen Blick in die Welt in diesem Film nur einmal, soweit ich mich erinnern kann. Jenseits des Pathos des Zwischenraums muss es ein Leben geben, das diese Zwischenräume gar nicht zulässt.

Die Eingeschlossenen. Manchmal befindet sich die Protagonistin am Rande des Bildes und spricht entschlossen zum Bildrand hinaus. Die Einstellung erzählt so von einem Getrenntsein, denn sie betont die Grenze zur nächsten Einstellung. Haben die Bilder Tiefe, dann ist das Gegenlicht so stark, dass auch Bilder, die sich in verschiedenen Ebenen ereignen, zurück in die Fläche geführt werden. Helligkeit allein macht zunächst mal gar nichts sichtbar. Fortgang erfolgt nur im Dialog, doch bleibt der Eindruck von misstrauisch sich beäugenden Monaden vorherrschend. Gefangen im Zustand einer ‚low spirit’ Dynamik. Vielleicht ist es das, was der Film produziert und was die Fernsehausstrahlung durch Aufrauen hervorheben kann: Zustand. Unterlaufen der Zeitachse innerhalb des zeitlich-rhythmisierten Ablaufs. Ambient eben.

AUS: Schnell das Gerät ausschalten, bevor der Sender Gelegenheit hat, jinglend zum Vergessen alles Vorangegangenen aufzurufen. Heute auch kein Schielen auf andere Kanäle, die mich mich-vergessen-machen könnten. Ein dolles Projektionsgerät ist der Fernseher wahrscheinlich nie gewesen. Aber als Sehhilfe kann er zuweilen brauchbar sein. Aufrauen.
Barthes spricht, glaube ich, in Zusammenhang mit der menschlichen Singstimme von Rauheit. Das Fernsehgerät kann zumindest mit mechanischer Rauheit artikulieren, und selbst wenn das nur Reduktion bedeutet, so etwas sichtbar machen.
Diese Schroffheit/Rauheit/Nicht-Identität trug Angelas vorausgegangener Film ‚Plätze in Städten’ allerdings schon ohne Fernsehniederkunft in sich.

Ich glaube zumindest, dass ich mir soweit trauen kann. Nachtschlafende Ausstrahlung von Filmen und deren Genuss führt ganz natürlich zu den Delirien landläufig bekannter Drogen. Gut schlafen tut da keiner mehr.


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