new filmkritik

Samstag, 24.05.2014

Film Maudit

Der Abend des „Film Maudit“ von Helmut Färber – ohne Helmut Färber, der nicht nach Berlin kommen konnte, war für mich der bewegendste Filmabend dieses Jahres. Dabei sah ich nur den ersten Teil und passierte in der Pause die Raucher vor der Tür . Was sich einer unter ihnen vorstellte, als er von „Zölibat“ hier schrieb, habe ich nicht verstanden. Denn das Thema des Abends und des schönen Heftchens dazu, das Helmut Färber zusammenstellte, ist ja nicht die bewusste Entsagung, die Enthaltung, die gewählte Askese, sondern im Gegenteil die aufgezwungene Aufgabe, das Unterbrochenwerden, das Zerstörtwerden. Wie schon im einleitenden Zitat von Robert Bresson erkennbar:
„Ich bin sicher, daß um uns Leute sind von Talent und Genie, dessen bin ich sicher, aber die Zufälle des Lebens…Es muß so vieles zusammentreffen, damit es einem Menschen gelingt, etwas von seinem Genie zu haben. Ich habe den Eindruck, daß die Menschen viel intelligenter sind, viel begabter, aber daß das Leben sie platt macht. Schauen Sie die Kinder an, in der Bourgeoisie…Ich nehme die Bourgeoisie, weil das genau dort ist, wo man sie platt macht. Auf der Stelle. Man macht sie platt, denn es gibt nichts, was mehr Angst macht als Talent oder Genie. Man hat eine Heidenangst davor.“
(Bresson 1966, Übersetzung nach Steffen Schneider)

Mittwoch, 07.05.2014

Neben Rauchern vor der Tür

Gleich nach dem Sehen von CHRONIK DES REGENS kam mir der Gedanke eines Films von Novizen, einübend und schon gefangen in ein Zölibat, dessen Charakter sich noch keiner von ihnen bewusst ist.

Kinohinweis Berlin: Carte Blanche für Helmut Färber

Heute, Mittwoch den 7.5., stellt Helmut Färber in zwei Programmen (um 19.00 und 21.15 Uhr) acht Filme vor, im Arsenal, in Berlin.
Im ersten Programm um 19.00 Uhr kann man »Chronik des Regens« wiedersehen, über dessen Produktion Michel Freerix vor ein paar Tagen hier etwas geschrieben hat. Teil des zweiten Programms ist Jean-Marie Straubs »Corneille – Brecht ou Rome l’unique objet de mon ressentiment« von 2009, zu dem Bert Rebhandl heute im Blog von Cargo eine Notiz veröffentlichte.

19:00 Kino 2
*Chronik des Regens Michael Freerix D 1991
35 mm 72 min
Sonate Frans van de Staak Niederlande 1975
16 mm niederl. und engl. OF 4 min
Rückkehr Volkmar Umlauft D 2001
DigiBeta 37 min

21:15 Kino 2
*Wilhelm, der Schäfer Josie Rücker D 2004
35 mm 26 min
Meine Heimat, mijn vaderland Frans van de Staak
Niederlande 1976
16 mm niederl. und deutsche OF 32 min
Sepio Frans van de Staak Niederlande 1996
16 mm engl. OF 34 min
Corneille – Brecht ou Rome l’unique objet de mon ressentiment
Jean-Marie Straub F 2009
Beta SP OmU 26 min
De nåede færgen Sie erreichten die Fähre
Carl Theodor Dreyer Dänemark 1948
35 mm OF 11 min

Donnerstag, 01.05.2014

Amour et cinéma (II)

Robert Desnos verweigert bei seinen Texten zu Filmen (1923-1930) die üblichen Inhaltsangaben – seine Kunst besteht darin, die Filme kenntlich zu machen durch starke Ablehnung und Zustimmung. Er greift dabei natürlich Details aus dem jeweiligen Film auf und lässt es für den ganzen Film sprechen. Hie und da kommt er allerdings nicht umhin, trotzdem ein gedrängtes Resümee zu geben: etwa bei Pudowkins Tempête sur l’Asie / Sturm über Asien, 1928. (Le Merle, 10.5.1929)

Als Les Mystères de New York (The Exploits of Elaine, USA 1914/15) von einem Kino in Paris 1929 aufs Programm gesetzt wird – „verhunzt“ von einem „miserablen französischen Regisseur“ – macht Desnos in starken Worten seinen Lesern klar, was dieser Film der Generation von 1900 (also seiner) während der Deprivation der Kriegszeit bedeutet hat. Das sei die Generation gewesen, die das Kino ganz angenommen habe und „von ihm erzogen worden“ sei. Pearl White, die schöne Heroine der Serie, habe die Gemüter der Kino-Jünglinge durch ihre Sinnlichkeit vollkommen in Bann gezogen und beherrscht. „Und dann folgte ein Film auf den anderen, nach Pearl White kam Musidora, nach Musidora kam Nazimova und danach noch viele andere …“ „Wunderbare Figuren der Liebe, der Bezauberung … Das waren Frauen, wahre Frauen. Ihr Leben war nicht mittelmässing, sondern kostbar, und sie setzten es aufs Spiel.“ (Le Merle, 3.5.1929)

Es versteht sich, dass das Augenmerk des Surrealisten Desnos auf die ‚Zwischenwelten’ des Kinos gerichtet ist – das Traum- und Wachtraumartige der Laufbilder im Dunkel des Kinosaals. Er hat einen Sinn für das ‚unabsichtlich Poetische’ gerade der populären Produktionen und des naiven Ausdrucks: er votiert für die Poesie und gegen die Kunst (das Theatralische der Comédie Française im französischen Kino ist ihm ein Greuel). Unzufrieden ist er allerdings mit den Versuchen, Träume im Film explizit darzustellen – er findet das abstrus und lächerlich und und ruft nach der Imagination eines Marquis de Sade. Er will auch die Wunschvorstellungen und die Begierden, das Triebhafte und den Schrecken der Träume mitverwirklicht sehen. „Der Film von Monsieur Buñuel geht auf die bestgehüteten Geheimnisse der menschlichen Seele in poetischer Weise ein. Ich kenne keinen Film, der so unmittelbar auf den Zuschauer einwirkt, für ihn gemacht ist und mit ihm ein Gespräch, eine intime Beziehung aufnimmt.“ (Un chien andalou, Le Merle, 28.6.1929.)

Gegen den Strich geht ihm natürlich das Moralisierende auf der Leinwand und ausserhalb des Kinos: an den Zehn Geboten (Cecil B. de Mille, 1924) anerkennt er zwar „die Wunder, die der Regisseur und der Kameramann realisiert haben“, verabscheut aber die „puritanische Einfalt“ („niaiserie puritaine“), die der Film vor sich herträgt. (Journal Littéraire, 31.1.1925) Und was die französische Zensur betrifft, nimmt er kein Blatt vor den Mund: der Zensor, ein „Reaktionär“ im Greisenalter, verdamme das französische Kino durch seinen Einfluss dazu, „nur Sentimentalitäten niederster Art und Gemeinplätze eines absurden Nationalismus auszudrücken.“ Den Zensor, den zuständigen Minister, wie auch den dritten im Bunde, den „glücklichen Industriellen“ und „König des Kinos von Frankreich“ („zwischen zwei Ideen, wählt er unfehlbar die stupide“), nennt er bei ihren Namen. (Le Soir, 27.4.1928)
Dann gibt es da das Problem der „figurants“, auf das er öfter zurückkommt: das sind die Neben- und Kleindarsteller im französischen Film, die von „Menschenhändlern“ vermittelt werden, welche dabei unanständig viel von deren Verdienst in die eigene Tasche stecken. (U.a. Le Soir, 25.7., 1.8., 2.8., 5.10.1928)

Hat Desnos nur den Stummfilm geliebt? Nach Einführung des Tonfilms gibt es bei ihm die sinnvolle Unterscheidung zwischen ‚film parlant’ und ‚film sonore’. Er meint, ein ‚Sprechfilm’, der ihm gefallen habe, sei ihm bislang noch nicht begegnet, aber mit dem Ton könne er durchaus etwas anfangen.
„Alles, was auf die Leinwand projiziert werden kann, gehört der Domäne des Kinos an“ (1923 von ihm als Argument zur Beibehaltung der Zwischentitel gesagt): das ist ein Satz, der durchaus weiter trägt, weit in die Filmgeschichte hinein, und formuliert scheint wie für Godard und einige andere. – Desnos hatte ja etwas übrig für die Lakonie von Zwischentiteln wie diesen: „An jenem Abend …“, „Eines Tages …“, „Währenddessen …“; aber auch für die Wucht von „Brüder“ aus dem Panzerkreuzer Potemkin; und aus Nosferatu von Murnau hebt er ausgerechnet jenen Titel hervor, der es auch Serge Daney so angetan hat: „Und sobald er die Brücke überschritten hatte, kamen die Gespenster ihm entgegen.“ (Paris-Journal, 13.4.1923; Le Soir, 26.3.1927, 15.6.1928) Sollte es da vielleicht ‚geheimnisvolle Korrespondenzen’ gegeben haben, Ideenstränge, die unterirdisch oder ganz irdisch verlaufen sind?
(Und siehe da: bei André Breton, in „Die kommunizierenden Röhren“, zuerst 1932, taucht genau diese Stelle ebenfalls auf, sogar mit einem Foto aus Nosferatu und der Legende: „An der Biegung der Kleinen Brücke“.)

Freitag, 25.04.2014

Deöss iss oarg!

Es muss um 1982 herum gewesen sein, dass eine Gruppe junger Österreicher – drei Männer und zwei Frauen – an der Haustür unserer Wohngemeinschaft in Hannover klingelte. Alle Anfang 20, so wie wir selbst, die wir zu fünft in einer großen Altbauwohnung in der Nordstadt gegenüber des Georgengartens und der Herrenhäuser Gärten wohnten – nur einen Katzensprung entfernt zur Fakultät Freiraumplanung und Gartenbau, die unseren studentischen Mittelpunkt bildete. Eine der beiden Frauen war hochschwanger und ihr Freund gehörte zur Gruppe der drei Männer. Sie waren gekommen, um in den Sommerferien in Deutschland bei Continental zu arbeiten, die Schwangere nur um ihren Freund zu begleiten. Das war heftige und ungesunde Arbeit in der Reifenproduktion, aber man konnte zu der Zeit offenbar sehr viel mehr Geld in Deutschland als in Österreich verdienen.

Sie baten um Asyl. Sie waren tatsächlich von Haustür zu Haustür gegangen und hatten die Klingelknöpfe nach Wohngemeinschaftsnamenlisten abgesucht und gefragt, ob es über den Sommer Platz gäbe. Wir konnten vier von ihnen Unterkunft gewähren, da zwei Zimmer urlaubsverwaist waren. Es blieben das Paar und die beiden Männer – kein Paar, aber eine Jungenfreundschaft. Einer von ihnen hieß Michael Glawogger und war mit den anderen aus Graz gekommen.

Zu Zeiten meiner Hannover Tage war ich wahrscheinlich dreimal die Woche im Kino und sammelte die Programmzeitschriften von Apollo- und Raschplatzkino, den Programmkino-Gründungshäusern des späteren Flebbe-Imperiums. Die diskutierten Michael und ich – er nach hartem Arbeitstag, ich nach sehr freiem Studentenalltag – auf meinem Bett liegend Film für Film durch. Er würde später nach San Francisco an die Filmschule gehen wollen. Soviel war schon klar. Selber hatte ich zu dieser Zeit noch nicht den Mut, mich zu Film in ein produktives Verhältnis zu setzen.

Im nächsten Sommer waren die beiden Männer wieder bei uns. Michael war inzwischen tatsächlich kurz in San Francisco gewesen, erzählte von Supermärkten, die man inmitten der Nacht besuchen konnte und wir machten mit der Wohngemeinschaft und den beiden Ösis einen Ausflug nach Hamburg, um den Abend in der FABRIK zu verbringen. Dann endete mein Kontakt zu Michael Glawogger.

Über den Film MIT VERLUST IST ZU RECHNEN von Ulrich Seidl, an dem Michael Glawogger mitgearbeitet hatte, nahm ich in den Neunzigern nach eigenem absolvierten Filmstudium Notiz von seinem Filmschaffen und rief ihn später an, um an alte Zeiten anzuknüpfen. Das gelang aber nicht.

Meine Fremdsprachenkenntnisse des Österreichischen beschränken sich seitdem auf:

Deöss iss a Sandler!
Deöss iss oarg!

Donnerstag, 24.04.2014

Langtexthinweis

* Besuch bei Naum Kleiman

Besuch bei Naum Kleiman

Moskau, 8.3.2013

Naum Kleiman ist Leiter des Moskauer Filmmuseums und Herausgeber der Memoiren von Sergei Eisenstein. Wir treffen ihn in Eisensteins nachgelassener Wohnung. Zusammen mit einer Gruppe Moskauer Filmstudenten und Mitarbeitern des Filmarchivs sitzen wir auf Eisensteins Stühlen, inmitten seiner Bibliothek. Naum Kleiman erzählt.

Eisenstein starb 1948 – das war ein schlimmer Tag für unsere Kultur! In der Zeitung stand auf der letzter Seite ein Nekrolog: Eisenstein ist heute Nacht gestorben. Auf der ersten Seite war der Befehl des Zentralkomitees gegen den Formalismus in der Musik, gegen Schostakowitsch und Prokofjew. Einige meinen, Eisenstein habe davon nachts gehört. Er schrieb einen Artikel über Farbe im Film und auch über Puschkin und Gogol. Um zwanzig vor zwei stand er auf, um den Rundfunk auszuschalten. Plötzlich ist er gestürzt, ein Herzinfarkt, und starb. Er hatte eine Haushälterin, die Tante Pascha, denn Vera und Eisenstein lebten in den letzten Jahren nicht zusammen. Er hatte schon zwei Jahre zuvor Herzinfarkte und hat deshalb gesagt, dass man gegen die Heizung schlagen muss, damit die Nachbarn kommen. Und Tante Pascha hat angefangen zu schlagen, mit einem Schraubenschlüssel. Da kamen die Nachbarn.

Um zwanzig vor zwei „schliefen“ alle Sowjetischen Rundfunkstationen schon. Nur BBC lief um diese Zeit, und das war streng verboten. Also hat Eisenstein die Engländer gehört. Und ich bin sicher, wenn es so ist, dann haben sie über diesen Befehl, den Kampf gegen den Formalismus geredet. Eisenstein ist vielleicht an dieser Nachricht gestorben. Prokofjew war sein Freund; Iwan der Schreckliche war verboten. Er selbst war nicht ausdrücklich Feind des Volkes – das war er in den dreißiger Jahren gewesen. Trotzdem stand er in der vierziger Jahren an der Schwelle zum Gefängnis. Er wusste, es kann jeden Tag passieren.

Als Vera, seine Frau, die Nachricht bekommen hat, hat sie an Woroschilow geschrieben. Das war, natürlich nur formell, der Vorsitzende der Sowjets. Sie hat ihm geschrieben, dass sie alles dem Staat schenken möchte, um ein Museum für Eisenstein einzurichten. Seine Antwort war: Eisenstein ist kein Mensch, dem man Museen baut. Er hat nicht verdient, sein eigenes Museum zu haben.

Sie wollte aber alles retten. Sie hatte eine Wohnung von ihren Eltern, die war viel enger im Vergleich zu dieser, zweieinhalb Zimmer. Die Eisensteinsche Bibliothek, seine Regale – alles was hier steht gehörte Eisenstein. Nichts ist verändert. Dieses Haus der Eltern war bereits damals alt, schon in den vierziger Jahren sollte es repariert werden und man hat es nicht gemacht.

Wir sind 1958 als Studenten zu Vera gekommen und es war schrecklich! Damals hat man zum ersten Mal den zweiten Teil von Iwan der Schreckliche gezeigt, was für uns ein Schock war. Wir haben plötzlich verstanden, dass jemand schon zu Stalins Zeiten öffentlich gegen Stalin etwas gemacht hat.
Vera war damals schon sehr krank und fast blind, Diabetes. Sie konnte die Manuskripte nur mit einer Lupe lesen. Sie brauchte junge Augen und junge Hände, also haben wir angefangen, ihr zu helfen. Aber der Moskauer Sowjet wollte ihr keine neue Wohnung geben. Dabei war es wirklich eine Katastrophe mit dieser Wohnung. Schließlich haben fünf berühmte Künstler einen Brief an die Führung geschrieben, Swjatoslaw Richter, Maxim Schtrauch, Galina Ulanowa. Dass die Witwe von Eisenstein in einer Wohnung „des Neorealismus“ lebt – man konnte dort wirklich kaum leben. Und man hat ihr diese Wohnung gegeben. Es war wirklich ein Wunder, wie es ihr gelungen ist, nicht nur die Gegenstände sondern auch die Atmosphäre zu erhalten. Sie hat ein Testament geschrieben, dass nach ihrem Tod der Filmverband das alles zu einem Museum machen soll. So beginnt die Geschichte unseres Filmmuseums. Damals hat man die Museumskommission gegründet und angefangen über ein Filmmuseum in der Sowjetunion zu reden.

Alle Manuskripte Eisensteins liegen jetzt im Staatlichen Archiv für Literatur und Kunst. Dort herrschen, was Temperatur und Feuchtigkeit betrifft, gute Bedingungen. Das ganze Zimmer dort war voller Manuskripte. Schon 50 Jahre lang arbeite ich hier und auch im Filmmuseum. Erst in der Perestroika-Zeit, 1989, ist es uns gelungen das Filmmuseum zu gründen.

Eisensteins Haus ist bis heute ein Geheimnis. Es gibt sehr viele Dinge, die ich nicht verstehe. Ich habe seit 50 Jahren damit zu tun, und immer wieder findet man etwas Neues. Eisenstein hat ein Image, als ob er ein Panzerkreuzer sei, aus Metall, militärisch, ein Sänger der Revolution. Hier sieht man eine ganz andere Person. Es ist dumm zu sagen, er war der Gründer, aber er war ein Hooligan, könnte man sagen. Er hat immer alles anders als alle anderen gemacht. Er wollte sehen, was hinter den Kulissen ist. Und hinter der Einstellung. Was eigentlich die Filmsprache ist. Er hat immer experimentiert und manchmal mit seinem Leben bezahlt. Ein typischer Pioneer, einer, der Erster ist. Er sagte, er war immer ein Kind. Er wollte das Spielzeug kaputt machen, um zu verstehen, was darin steckt. Etwas musste dort doch sein. Dem Film hat er sogar den Erfolg geopfert. Um zu verstehen, was man in der Montage machen kann, in der Einstellung. Er hat mit den verschiedenen Sprachen gespielt.

Hier in seiner Bibliothek kann man das alles sehen. Er war der Typ Theoretiker-Künstler. Alle meinen, er sei zu kalt. Eisenstein hat immer die Bibel zitiert. Es gibt dort eine Fabel, in der der Engel zu einem Mensch sagt: Du könntest heiß oder kalt sein, das wäre recht. Aber du bist warm, und das ist deine Sünde. Warm ist er nicht gewesen. Er war manchmal sehr heiß, manchmal kalt, denkend – aber nicht warm.

Eisenstein war ein Mensch, der nicht nur in der Gegenwart lebte, sondern in ganz verschiedenen Zeiten, schon seit seiner Kindheit. Er stammt aus Riga, das ist eine deutsche, eine mittelalterliche Stadt. Dort hat er die „mittelalterlichen Genres“ entdeckt, das Mysterienspiel oder die Moralité. Das ist etwas ganz anderes als das psychologische Drama des 19. Jahrhunderts. Im Mysterienspiel gibt es die Hölle, die Erde und den Himmel.

Viele suchen bei Eisenstein nur die Erde und sind enttäuscht, weil etwas fehlt. Aber wenn man das Ganze dreistöckig versteht, sind auch die Hölle und das Paradies dabei. Dabei ist aber nicht alles verteilt wie im Mittelalter auf der Bühne, sondern es ist in der Struktur! Das ist vielleicht schwierig zu verstehen, da unsere Ästhetik heute eine andere ist. Heute ist alles auf die bürgerliche Dimension hin orientiert. Eisenstein dagegen sagt, sogar in den grausamsten Momenten darf man nicht die Harmonie verlieren. Denn die Struktur des Films ist eigentlich unser Paradies. Das Metier des Filmemachers ist nicht nur die Handlung aufzubauen, mit allen Grausamkeiten, die wir in der Wirklichkeit finden, sondern auch die Harmonie der Form herzustellen. Sie hat einen Sinn, Form ist nicht formell. Form hat einen Inhalt.

Wir haben jetzt sein Buch, ein neues Buch, veröffentlicht. Zu Sowjetzeiten wurde es nicht publiziert. Es war nicht verboten, aber es war unrealistisch, es zu publizieren. Eisenstein hat es nicht beendet. Das letzte Kapitel heißt Der Sinn der Form oder Der Inhalt der Form. Der Inhalt der Form ist eigentlich die Harmonie, die mit dem Inhalt der Welt korrespondiert. Und wenn wir in unserem Gefühl nicht diese Harmonie haben, sind wir keine Künstler. Wir sind nur ein Spiegel. Wir können widerspiegeln, was vor unseren Augen passiert, aber den Inhalt der Welt verstehen wir nicht. Das ist natürlich ein bisschen idealistisch und seltsam für unsere merkantile Welt. Aber es war der Glaube vieler Jahrhunderte.

Zweitens, und auch für Eisenstein typisch: Riga war eine Stadt mit drei Sprachen. Eisenstein sprach Deutsch seit seiner Kindheit, außerdem Russisch und Lettisch. Deutsch war seine „Bauernsprache“. Fast alle Adligen hatten Bonnes (Kindermädchen), und die sprachen Französisch und Englisch. Eisenstein hat schon in seiner Kindheit Russisch Deutsch, Englisch und Französisch gesprochen.

Sein Vater war ein Architekt, und der Jugendstil ist kosmopolitisch. Jugendstil bringt die europäische Kultur mit der östlichen Kultur (Ornamente) zusammen. Dazu kommen plötzlich japanische und afrikanische Elemente. Wenn man will, kann man in den Bauten seines Vaters das alles sehen, sogar komisch manchmal, zuviel und grotesk.

Eisenstein wuchs als Kind der Welt auf, er war nie eurozentrisch. Was seltsam für das europäische Auge aussieht, war ganz natürlich für ihn. Die Sprache der japanischen Kunst oder die russische verkehrte Perspektive der Ikonenkunst waren ihm nicht fremd.
Hierher kam ein Jesuit aus Kanada, der ein Buch über Iwan der Schreckliche schrieb, und sagte mir: Die alte russische Kunst kannte die Perspektive nicht. Die Perspektive haben die Italiener entdeckt, und die Russen hatten die barbarische, verkehrte Perspektive. Ich muss sagen, die barbarische, verkehrte Perspektive hatte eine zweitausend Jahre alte Tradition! Sie kam aus Ägypten. Es ist eine sehr, sehr moderne Perspektive.

Wissen Sie, was verkehrte Perspektive ist? Bei der europäischen Perspektive geht alles in die Tiefe (Zentralperspektive). Wenn Sie Ikonen sehen oder byzantinische Wandmalerei, kommt alles zu dir, es ist gerade umgekehrt. Sie ziehen dich nicht rein, sondern die Malerei kommt zu dir (nichtlineare Perspektive). Schon die Griechen und die Ägypter haben verstanden, dass die Malerei nicht die Widerspiegelung des Gesehenen ist. Sondern sie gibt Sinn: Die Pharaonen sind größer, die Bauern klein. Diese Perspektive ist sinngemäß und entspricht nicht dem, was unser Auge sieht.

Eisenstein wollte dasselbe im Film aufbauen. Er hat die verkehrte Perspektive geplant und sie in Iwan der Schreckliche umgesetzt, was sehr ungewöhnlich ist. Auch seine Montage ist nicht nur Tempo und scharfe Montage. Sie hat nicht nur den intellektuellen Aspekt, sondern ist auch eine Änderung der Perspektive in jedem Moment. Wenn der Blickwinkel sich ändert, bekommen wir eine neue Perspektive. Das zerstört unsere gewöhnliche Alltags-Perspektive und gibt unserem Gehirn und unserem Verständnis der Wirklichkeit ganz andere Möglichkeiten.

Eisenstein hat schon vor der Filmmontage angefangen, kubistisch zu zeichnen. Er war im Theater und hat die Idee des Kubismus verstanden, verschiedene Blickwinkel zusammenzubringen. Seine Montage ist synthetischer Kubismus.

Warum ich das alles erzähle? Weil es heißt, seine Experimente, die heute ein bisschen fremd aussehen, archaisch, gehören in die 20er Jahre. Aber was bedeutet dieser Stil heute? Wir können jetzt mit diesem Gerät (er zeigt auf die Videokamera) zwei Stunden lang eine Einstellung machen, ohne Unterbrechung.

Hinzu kommt etwas Drittes: Eisenstein war ein Dichter, ein Poet, und seine Filme sind nicht Prosa, sie sind Poeme.

Fast alle Kulturen kennen diese Vorgeschichte. Alles fängt mit Poesie an, und dann kommt Prosa. Dabei ist so einfach, prosaisch zu reden. Aber sogar die Bibel ist ein Gedicht, ein enormes Gedicht. Wer heute Hebräisch studiert und die Verse versteht, sieht, dass sie anders sind als die europäischen, sie haben keine Reime. Aber sie haben Rhythmus, und jedes Wort hat etliche Bedeutungen. Während im Alltag jedes Wort viele Bedeutungen hat, bringt uns Prosa zu einer Bedeutung. Und es ist wichtig, in diesem einen Text diese eine Bedeutung zu verstehen. Poesie ist ganz umgekehrt, sie aktualisiert mehrere Bedeutungen gleichzeitig. Deswegen kann man jedes Gedicht zwei, drei, vier, fünf Mal lesen, und jedes Mal gibt es neue Beziehungen zwischen den Wörtern. Komischerweise sind alle ersten epische Werke wie die Heilige Bibel oder die alten Poeme, die Nibelungen-Sage oder die Ilias, poetisch. Die Menschen haben sehr früh die Vieldeutigkeit des Lebens verstanden.

Prosa zeigt uns den Weg heute, den sogenannten richtigen Weg, zeigt uns, eine Bedeutung, einen Sinn usw. zu finden. Früher, in der magischen Welt, haben sie verstanden, dass alles viele Bedeutungen hat. Alles war mehrmals miteinander verbunden, und es gab eine magische Beziehung zwischen den Menschen und der Welt – durch die Poesie!

Die ersten Filme: Fast alle unsere sogenannten Revolutionäre haben Poesie gemacht. Vertov, die Avantgardisten in Frankreich, Hans Richter und Schwitters – das ist eigentlich Poesie.

Viele Leute sagen, Eisenstein ist seltsam, weil sie von ihm eine Erzählung erwarten, einen Roman mit Charakteren, verschiedene Quid pro quo-Geschichten. Aber darüber spricht er nicht, das ist nicht seine Sache. Und hier in der Bibliothek kann man seine Sympathien sehen, seine Schule ist hier. Er hat sehr viel gelesen. Hier ist nur eine Hälfte der Bibliothek, die andere Hälfte ist in der Lenin-Bibliothek. Sie haben sehr viel genommen, weil in der Sowjetunion diese Bücher sehr selten waren oder es nur ein Exemplar bei Eisenstein gab. Er hat sehr vieles aus Europa und Amerika gebracht, und deswegen haben sie bei seinem Tod von der Witwe fast zweitausend oder mehr Bücher mitgenommen. Aber das wichtigste ist hier!

Fast alle Bücher haben Marginalien. Eisenstein war der Typ Theoretiker wie Leonardo da Vinci. Für ihn war Nachdenken genau so wichtig wie Schaffen.
Am Ende seines Lebens in seinem Tagebuch beichtet er es: Ich bin verrückt gewesen, wenn ich Leonardo als Vorbild für mich gewählt habe, eigentlich ist Michelangelo viel näher.
Aber Leonardo wurde in dieser Zeit als das große Genie entdeckt. Auch die Utopie einer Einheit von Wissenschaft und Kunst war ganz wichtig für die 20er Jahre. Aber natürlich hat das Vorbild von Leonardo eine Rolle gespielt für Eisenstein. Er hat sich bemüht, sich selbst zu analysieren, das ist manchmal gefährlich für einen Künstler, und er wusste es.

Die Bibliothek hier ist ein Schlüssel zur Seele Eisensteins. Ich hab mich sehr bemüht, zu verstehen, warum hier genau diese Bilder hängen, was sie bedeuten? Alle diese Bilder sind aus Eisensteins Wohnung. Oder warum die Bücher so stehen, was bedeuten sie für ihn? Was verloren gegangen ist, ist die Anordnung der Bücher. Eisenstein hat die Bibliothek montiert wie seine Filme. Die Bücher standen seltsam, nicht so, wie wir das machen. Hier die Theorie der Bildenden Künste, dort die Komödie, hier Theater, dort Mexiko, Amerika usw. Wie es bei Eisenstein war, wissen wir nur von einem Beispiel, das er selber beschrieben hat:

1936 hat Eisenstein aus New York dieses Buch bekommen. Er wollte es unbedingt haben, Stanislawskis An actor prepares. In Russland wurde es erst zwei Jahre später publiziert. Überall steht, dass Eisenstein Meyerholds Schüler war, in Opposition zu Stanislawski. Eisenstein hat sogar in den 20er Jahren gegen das Stanislawski-Theater gekämpft, gegen seine Zirkusvorstellungen und gegen das psychologische Theater von Tschechow.
Aber voilà: Hier sind sehr interessante Bemerkungen, hier das sind seine Papierchen. Eisenstein hat sehr viel zitiert in seinen Büchern.

Daneben steht die altrussische Bibel. Warum? Weil es noch einen Gott gibt. Nicht Stanislawski ist der Gott, sozusagen eine Verfremdung – einerseits. Andererseits steht da noch dieses Buch: Des grâces d’oraison. Ignatius von Loyola hat den Befehl gegeben, nach seinem Tod alle seine Exerzitien zu vernichten. Das haben sie nicht gemacht, aber erst im 19. Jahrhundert hat man sie gefunden. Pater Poulain gibt hier Kommentare zu den Übungen und was sie bedeuten, der Weg zum Gebet und zum Gott.

Eisenstein schreibt hier, er hat das Buch in Mexiko gekauft, und dass all diese Übungen der Stanislawski-Methode sehr ähnlich sind. Das heißt, dass Ignatius von Loyola als Regisseur die Seelen der Mönche und sie selbst vorbereitet hat zum Treffen mit dem Gott. So wie Stanislawski den Schauspieler zum Treffen mit dem Publikum vorbereitet hat. Die Mechanismen sind dieselben, nur die Ziele sind anders.

Hier steht: Ausdrucksbewegung, des plantes, Slow Motion… Das heißt: Die Slow Motion beim Gebet bringt den Menschen zurück zu einem Stadium primitiver Wesen. Wie Würmer, die auch diese Slow Motion haben. Er spürt immer diese Beziehungen zwischen verschiedenen Formen der Organismen. Dann vergleicht er Ekstase, es gibt sehr viel über religiöse Ekstase.

Eisenstein sagt, dass er den Eindruck hat, dass nachts die Bücher flüstern und miteinander reden. Es stimmt, ich habe auch dieses Gefühl, weil alles verbunden ist. Sogar wenn sie nicht nebeneinander, wie diese, sondern auf verschiedenen Regalen stehen.

Dieser Raum von Eisenstein, seine ganze Wohnung, zeigte keine Spur von seinen Erfolgen. Alles was beendet wurde, Potjomkin, Oktober, Streik, Newski, ist rausgegangen und nicht im Haus geblieben. Seine nicht geborenen Kinder, alle seine Projekte, die nicht verfilmt wurden, sind hier. Man kann immer spüren, ja, das ist sein nicht gedrehter Film. Da ist der Torero aus dem Film Mexiko-Mexiko. Eisenstein meinte das könnte sein bester Film werden.“

Das Gespräch mit Naum Kleiman führten Marcel Neudeck, Bettina Büttner, Laura Morcillo, Christian Haardt, Marc Eberhardt, Florian Geierstanger und Iuri Maia Jost. Es fand statt am 8. März 2013 im Rahmen einer Exkursion der Filmklasse von Prof. Thomas Heise der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe.

Transkription und Bearbeitung: Florian Geierstanger

Montag, 21.04.2014

Filme der Fünfziger XII: Geliebtes Fräulein Doktor (1954)

Ulrich Kurowski hat Hans H. Königs Film „Rosen blühen auf dem Heidegrab“ (1952) zu einem Klassiker des Heimat-Schauer-Melodrams erklärt, aber die wenigsten werden überhaupt irgendeinen Film von König gesehen haben. Der Produzent Richard König war der ältere Bruder des Regisseurs Hans und Hans war mit Edith Mill verheiratet, seiner bevorzugten Schauspielerin. Richard dagegen hatte früher als Mitinhaber der Objectiv-Film Josef von Bakys „Und über uns der Himmel“ (1947) und „Der Ruf“ (1948/49) produziert. „Geliebtes Fräulein Doktor“ sei, so Wikipedia, ein Remake des Jenny Jugo Films „Unser Fräulein Doktor“ von 1940. Das stimmt nicht.

Jungen singen im Gleichschritt in den Bergen ein frohes Lied und spielen am Abend dem Lehrer einen Streich; der Lehrer fällt in einen See und kündigt sofort seine Stelle. Es ist nicht der erste Lehrer, den die Internatsklasse von der Schule getrieben hat. An seine Stelle tritt Frau Doktor Maria Hofer (Edith Mill), frisch aus dem Kloster engagiert. Die Kamera fährt bei ihrer Ankunft den Frauenkörper ab und registriert von der altbackenen Frisur bis zu den Haferlschuhen eine graue Provinzmaus mit einem attraktiven Gesicht. Die Jungen hatten sich eine andere Frau als Lehrerin vorgestellt; Klassenprimus Cicero (Hans Clarin) formuliert Liebesbriefe an das Fräulein, die er mit dem Namen des Sportlehrers Dr. Hans Klinger (Helmut Schmid) signiert. Und jeweils am Ende des Briefes gibt es ein Postscriptum, in dem Cicero/Klinger Maria auffordert, sich doch andere Schuhe, andere Strümpfe, eine andere Frisur und ein anderes Kleid zuzulegen. Jetzt mausert sich das Fräulein zu einer aus einem Modeartikel entsprungenen attraktiven jungen Frau – die Litfass-Reklame für Arwa Nylonstrümpfe gibt den letzten Anstoß. Mit der neuen Kleidung wächst auch die Liebe zum heimlichen Verehrer Dr. Klinger, einem Muskelprotz mit Stroh im Kopf, der natürlich von seinen Liebesbriefen gar nichts weiß. Dass er selbst auch schon verliebt ist, muss ihm Pater Anselmus (Robert Freitag) beibringen. Weil der Geistliche wie alle katholischen Pfarrer den Knabenchor leitet, heißt er auch Pater Tralala. Es kommt zu autosuggestiven Vorfällen. Bei einem Gottesdienst wähnt sich die Lehrerin als Braut vor dem Altar und ruft ganz laut und zur allgemeinen Verwunderung „Ja“. Der Junge Cicero verliebt sich auf Grund seiner Liebesbriefe für eine kurze Unsterblichkeit in das Frl. Doktor, aber natürlich finden die beiden Doktores zueinander, mild belächelt vom Direktor des Internats,  einem weiteren Doktor. Zum Schluss gibt es einen Fackelzug,  bei dem die Jungen die klassischen Zeilen des Eingangsliedes singen: „Keine lange Meile/ macht mir lange Weile/ Nur das eine wünsch ich mir/ dass Du nicht schon längst/ Herz und Hand verschenkt.“

Bis auf die weibliche Hauptperson, die mit einer Klosterszene eingeführt wird, hat keine der Personen ein biographisches Vorleben. Versammelt sind die Lieblingsfiguren des Volksgeschmacks. Die Jungen sind eine „Rasselbande“, der Pater ist sportlich und weltoffen, der Direktor (Hans Nielsen) gütig und streng zugleich und der Sportlehrer selbstredend ein guter Kumpel. Nur „Unser Fräulein Doktor“ braucht noch männliche Einflussnahme, um dem Volksbild die lieblich-moderne Note zu geben. Das Internat hat den Charme eines fünfziger Jahre Reformbaus; es liegt zwar auf dem Land, aber doch auch in der Nähe einer Stadt mit Litfaßsäulen. Und dann auch wieder in der Nähe eines mächtigen Gotteshauses.

Der Film wurde im Garutso-Plastorama-Verfahren gedreht, einer der vielen technischen Erfindungen, mit denen man Anfang der 1950er dem 3-D- und dem Cinemascope-Film die Stirn bieten wollte. Der Schauspieler Helmut Schmid, später Ehemann von Lieselotte Pulver, wurde von König entdeckt und spielt hier seine erste Filmrolle. Ein weiterer Filmdebutant ist Christian Doermer, einer der Jungen aus der „Problemklasse“. Pieter Kunheim, der Sohn von Brigitte Helm, trat das erste und allem Anschein nach auch das letzte Mal vor der Kamera auf. Die Musik schrieb Werner Richard Heymann, die Liedtexte Robert Gilbert – für beide war das eine Brotarbeit. Der Kameramann Kurt Hasse wurde wenige Jahre später mit „Himmel ohne Sterne“ bekannt; ihm assistierte Heinz Pehlke. Wahrscheinlich sind diese beiden dafür verantwortlich, dass eine Sequenz im Klassenzimmer in Erinnerung bleibt. Die Jungen müssen Strafe absitzen und skandieren: „Wenn ich nicht im Karzer säße, fräße ich jetzt Harzer Käse“. Dazu Top-Shot Aufnahmen der Klasse, Großaufnahmen von gegeneinanderschlagenden Schuhsohlen auf einer Schulbank und weit im Hintergrund das Gesicht von Hans Clarin. Für solche exzentrischen Aufnahmen war Garutso-Plastorama gut.

Nicht auf DVD, nicht auf Video.
Atelieraufnahmen in Geiselgasteig vom 20. September bis 12. November 1954
Außenaufnahmen vom 14. bis 26. Oktober 1954

Samstag, 19.04.2014

Ostern

ABC 2009
Die Auferstehung des ABC-Cinema am Brüsseler Boulevard Adolphe Max braucht noch Unterstützung.

In einem lokalen Fernsehbericht kann man in dem ehemaligen Pornobioscoop gestapelte 35mm-Kopien sehen, Hunderte nebeneinander. Wie geduldige Zeugen, die vielleicht nie mehr vernommen werden, warten sie da. Jederzeit würden sie vor unbefangenen, vom Bürgersteig weggelockten Geschworenen ihre skandalösen Aussagen wiederholen. Filme mit Stars wie Seka und Serena, Veronica Hart, Jamie Gillis und Ron Jeremy, sie liegen beisammen – Pharaoninnen und Pharaonen gleich – in dieser mit gebührendem Respekt geöffneten Gruft.

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Jede bahnhofsnahe Innenstadt war einst mit Lockung und Versprechen geschmückt. Kein Filmmuseum konnte einer Metropole je diesen Dienst erweisen. Größtenteils anonym und beinah vergessen ist die Kunst des gemalten Filmplakats. Links: Mittelamerika auf einem liebkosten Globus, Around the World with John „The Wadd“ Holmes (1975). August heißt der Grafiker, von dessen Plakat zum Film A Coming of Angels (1977) rechts nur ein kleiner Ausschnitt zu sehen ist. Die treffend benannte Webseite Wrong Side of the Art zeigt es in Gänze, hochaufgelöst. Ebenso: Juliet Anderson (1938 – 2010), Beyond Your Wildest Dreams (1981), vivid color for ladies and gentlemen over 21 years.

Samstag, 12.04.2014

Chronik des Regens

Michel Freerixs Film »Chronik des Regens« von 1991 wird in den nächsten Tagen von schönstem 35mm-Celluloid in den gemütlichen Schachtelkinos des Babylon Kinos projiziert (im Rahmen einer interessanten Retrospektive von Berlinfilmen der 90er).
Am Sonntag, 13. April, um 22:00 Uhr, im Babylon 2.
Am Mittwoch, 16. April, 18:00 Uhr, im Babylon 3.

Ich hatte Michel gefragt, ob er etwas schreiben mag über die Dreharbeiten des Films und bzw. oder was drumherum war.

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Chronik des Regens – Wie und woher

– von Michael Freerix –

Es war Frühjahr 1990, draußen noch kalt, als ich mit dem Drehbuch anfing. Ich wusste nicht genau, was es werden würde, aber ich schrieb ‚keinen Sex, keine Waffen’ auf einen Zettel, den ich an die Wand klebte. Das sollte beides nicht im Film auftauchen, wohl, weil ich zu viel davon in Filmen gesehen habe. Und ich stellte mir die Frage, wie das wohl funktioniert, wenn man eine Figur durch eine Handlung schickt? Was das für einen Film ergibt und was für eine Figur das sein könnte? Das war die Aufgabe, die ich mir stellte. Natürlich gab es Vorbilder, oder Ansatzpunkte, die ich nachverfolgte. Klar war mir, das ich schwarzweiß drehen wollte, in 1:1,66. Und auf 35mm Material, weil das einfach eine sehr gute Schärfe und Auflösung hat.

Im Sommer sollte gedreht werden, und alles innerhalb eines Jahres fertig sein. Am einfachsten schien es mir, ich versuche, einen Tag im Leben eines Menschen zu erzählen. Ein Tag ohne große Aufregung, ein Tag voller Alltag, der eher von Alltäglichem bestimmt wird. Schnell tauchte das Motiv auf, dass es sich um den Tagesablauf eines Erwerbslosen handeln sollte. Von einfachen Leuten wird in Filmen ja kaum noch etwas erzählt, was ich schade finde. Es würde also um einen Arbeitslosen gehen, und seinen letzten Tag in der Erwerbslosigkeit. Das gab diesem Tagesablauf eine gewisse Aufregung, und einen Hauch von Abschied. Und es hatte den Vorteil, dass es keinen dramatischen Verlauf geben musste, einfach, weil die Zeit unwiederbringlich voran schreitet. An die große Konstruktion einer Handlung habe ich mich nie gesetzt, eher an den Ablauf eines sozialen Miteinanders. Das wurde in Dialogen fest fixiert. Diese Dialoge waren eher dazu da, das die Darsteller wussten, was sie zu sagen hatte. Es sollten auch noch Improvisationen stattfinden, Dinge, die sich während der Dreharbeiten ergaben oder ermöglichten. Spielereien zwischen Kamera, Darstellern und Orten.

Für die Figur des Hauptdarstellers hatte ich ganz klar jemanden besetzt, einen Freund, Mario Mentrup, der zwar nicht Schauspieler war, aber gerne schauspielerte. Alle anderen Darsteller zu finden war aber schwierig, ich wollte lieber Menschen mit Charakter als Schauspieler, die alles können, aber eben nur wenig sind. Solche Darsteller zu finden war nicht so einfach, was dazu führte, dass ich den Dreh vom späten Sommer auf den frühen Sommer des kommenden Jahres verlegte. In diesem Zeitraum fanden sich die Darsteller, und geprobt wurde alles, kalt, das heißt ohne Kostüm, in meiner Wohnung, damit jeder seinen Text beim Dreh kannte. Schließlich war kaum Material da, alles musste beim ersten Take stehen. Für Versprecher oder Patzer war kein Raum. Und die Sonne sollte die ganze Zeit scheinen, da konnte man das Licht optimal ausnutzen.

Gedreht wurde im Juni, der ein sehr feuchter Monat wurde. Es gab eine Woche Dauerregen, bei nur zwei Wochen Dreharbeiten. Oft reichte es gerade, um das wenige, was im Drehbuch stand, fertig zu stellen. Viel Zeit für Improvisation gab es nicht. Und es gab ein Kopierwerk, das drei Drehtage falsch entwickelte, so dass wir alles an einem Tag nochmal machen mussten. Was ich mir möglichst einfach vorgestellt hatte wurde so zum zähen Ringen mit der Wirklichkeit. An manchen Tagen war es nur 12 Grad, die Darsteller bibberten vor sich hin, das Bildfenster zerkratzte immer wieder das Negativ, die Tonfrau wurde krank und tauchte nicht mehr auf, so dass ich stellenweise selber Ton machte. Der Regen war dann die Improvisation, die sich durch den gesamten Film zog, und auch eine Art dramaturgischer Faden, der Spannung hinein brachte. Für szenische Improvisationen gab es kaum noch Zeit, doch sind welche im Film, und das sind für mich die besten Momente überhaupt. Wie da etwas aus der Luft gegriffen und in eine Filmszene verwandelt wird, mir gefällt das an Filmen immer am besten. Aber was genau ich gemacht hatte, wusste ich nicht. Einfach nur nachzumachen hat mir nicht gereicht. Ich dachte, es geht darum, was Neues zu probieren. Ich dachte, so geht es jedem, ist aber nicht so.

Tatsächlich gibt es kleine Filmzitate in ‚Chronik des Regens’, eine Szene an einem Auto, die so ein ironisches Zitat von ‚Stranger than Paradise’ (von Jim Jarmusch, dessen Haltung mir gefällt, aber dessen Filme ich kaum kenne) sein sollte, den ich nicht gesehen hatte, die aber auf dem Plakat abgebildet war. Und ein Dialog aus einem Film von John Ford habe ich umgewandelt, ich glaube aus ‚She Wore a Yellow Ribbon’, aber ich weiß das nicht mehr so genau. Was aber für mich wirkliche Vorbildfilme sind, sind die frühen Filme von Ivan Passer oder Milos Forman, die sie noch vor ihrer Emigration gedreht haben. Die waren Ende 1989 in Berlin zu sehen und haben mich vollkommen begeistert. Auch die frühen Filme von Márta Mészáros, ‚Adoption’ und ‚Das Mädchen’. ‚Adoption’ habe ich noch mit meinem Kameramann, Hans Fromm, angeschaut, weil ich wissen wollte, ob wir beide was ähnliches hin bekommen könnten. Immer wichtig war auch Jean Eustache. Schon als ‚Mes petites amoureuses’ im Fernsehen lief und ich als Kind einen Teil sah und dann ins Bett geschickt wurde hat mich das sehr beschäftigt. Deutsche Filme haben mich nie sehr interessiert, bis ich Roland Klick, Roald Koller und Herbert Achternbusch entdeckte. Fassbinder hat ein paar interessante Sachen gemacht, als er anfing, doch je mehr er machte um so weniger fand ich das interessant.

Ich war so naiv, dass ich mit wenig Geld einen ‚richtigen’ Film machen wollte, und beweisen, wie ich das mit wenig Geld hin bekomme. Dass es im hiesigen Filmgeschäft um ganz andere Dinge geht, habe ich gar nicht gewusst.

Schwer beeinflusst ist der Film wohl auch von der Musik der Wipers, einer US-Amerikanischen Punk-Band, deren Platten ich während des Drehbuchschreibens pausenlos hörte, und heute immer wieder höre. Ich glaube, es gibt kaum jemanden wie Greg Sage, deren Gitarristen und Mastermind, der so negative und doch abgrundtief wütende Songs geschrieben hat. Und der eine dermaßen ablehnende Haltung gegenüber der Gesellschaft und jeder Form von kommerzieller Anpassung betrieben hat und immer noch betreibt. Mein Film ist geradezu ein Gruß an Greg Sage, auch wenn er ihn nie gesehen hat, und nie sehen wird.


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