Remember Chicago
* Kevin B. Lee: TRANSFORMERS: THE PREMAKE (complete version)
[jetzt auch auf vimeo, ohne Zugangssperren]
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The Hello Machine (1974 Carroll Ballard) *** Musik: Richard Rosmini, Kamera: Caleb Deschanel
Euphorie. Leicht zu erklären ist sie nie. In einer wohltemperierten Emulsion aus akustischen und elektronischen Klängen baden Bilderfolgen, die einen Abschiedsmoment zelebrieren: Das allerphantastischste Werkzeug, die menschliche Hand ist im Einsatz um Mechanik durch Elektronik zu ersetzen. Zum letzten Mal scheint das Sichtbare begreiflich, weil Finger es anfassen. Kommentarlos vollzieht sich – in den Farben eines Kindergeburtstags – diese Abschiedsfeier, die ein wunderschöner Irrtum ist. Denn der Hände Arbeit endet nicht. Nie kommen sie zur Ruhe. Arbeit zu erleichtern, Mühsaal abzuschaffen ist eine endlose Beschäftigung. Der Telefonmonopolist AT&T hat der „Informationsgesellschaft“ dieses frühe Denkmal gestiftet. Die Welt als fingerfertig geknüpfter Teppich, ein Gewebe gegenseitiger Grüße.

Operator (1969 Nell Cox) ***
Musik: The New York Rock & Roll Ensemble, Kamera: Richard Leacock
Saul Bass entwarf 1969 für AT&T / Bell System ein neues Logo und eine Uniform. Abseits dieser Modernisierungskampagne wurde im selben Jahr ein Instruktionsfilm gedreht, über die Arbeit mit Switchboard und Telefonbuch. Zum Glück hat Operator nichts gemein mit jenen tristen Filmen, die aussterbende Berufe dokumentieren wollen. Wer weiß denn schon so genau, welche Berufe wirklich aussterben. Menschen, die am Telefon ihr Geld verdienen, gibt es heute viel mehr als 1969. Es ist gleichermaßen ein Dilemma und ein Glück, wenn aus unbezahlbaren, menschlichen Qualitäten die Instrumente der Berufsausübung werden. An beides, das Dilemma und das Glück, kommt Operator ganz wunderbar nah heran.

Liza’s Pioneer Diary (1976 Nell Cox)***
Nell Cox hat fürs Fernsehen einen Siedler-Western gedreht, in dem Frauen im Mittelpunkt stehen. Das ist der Film, den ich nicht kannte, aber irgendwie erträumte, als alle so begeistert waren von Meek’s Cutoff (2010 Kelly Reichardt). Weibliches Vertrauen in männliche Führer ist hier nicht das Sujet, sondern ausgetauschte Erfahrung; es wird viel geredet, und es wird gemeinsam gesungen. So wichtig wie die Mitgift in John Fords The Quiet Man, so wichtig ist in Liza’s Pioneer Diary ein Klavier. Es geht nicht um Schonung. Das muss vom Mann verstanden werden.
In dem kurzen Kinder-und-Hunde-Kriminalfilm Something Queer at the Library widmete sich Nell Cox 1978 einer interessanten Frage, die zehn Jahre später auch mich zu einem Super-8-Film inspirierte. Die Frage: Wer schneidet Bilder aus den Büchern einer Leihbibliothek?
Storm Center (1956 Daniel Taradash) erzählt von politischer Radikalisierung. Schon der von Saul Bass gewohnt grandios gestaltete Vorspann verheißt Ungewöhnliches. Die Bibliothekarin der Public Library soll ein bestimmtes Buch aus dem Bestand entfernen. Den jovialen Stadtväternn ist die stolze Verfechterin demokratischer Grundsätze zwar argumentatorisch überlegen, doch das verhindert nicht ihre Entlassung. Der daraus folgende innere Rückzug mündet in Vereinsamung.
Die Bibliothekarin wird gespielt von Bette Davis. Im „Modern Screen Magazine“ sagte sie: “Librarians almost always have been pictured as dowdy. Movies, novels, and short stories haven’t done right by librarians, and it is time somebody did something about it.” Bette Davis tut das auf ihre eigene höchstgefährliche Art, ganz so wie später unter Robert Aldrichs Regie ist sie nicht um sympathische Wirkung bemüht, sondern erzeugt in unerklärlichen Mischungen und Mengen: Furcht und Mitleid.
Das ist aber nur der halbe Film. Storm Center erzählt auch noch von der Radikalisierung eines neunjährigen Bücherwurms. Kritiker schrieben von einander ab, es gäbe für den Wahn des von Kevin Coughlin dargestellten Kindes keine zwingende Erklärung. Dabei gibt es unübersehbar gleich drei: Das Unterlegenheitsgefühl eines ungebildeten Vaters, die Überlegenheitsgefühle unterlegener Frauen, und der gelogene gesellschaftliche Konsens, der Kämpfe überflüssig nennt. Vater, Mutter, Staat. Das Monster mit den drei feuerspeienden Köpfen, das den Kleinen bei der Lektüre von Hawthornes „Wonder Book“ in Furcht versetzt, kann dafür als Gleichnis gelten. ***
Drehbuchautor Daniel Taradash – hochgeschätzt für seine Adaptionen (From Here to Eternitity und Picnic), „a man I admire very much“ (Fritz Lang) – hat nur einen einzigen Film inszeniert. Schön, dass es IMDB-Kommentatoren gibt, die im Unterschied zu herablassenden Kritikern diesem unbekannten amerikanischen Klassiker zeitlose Aktualität bescheinigen. In Deutschland kam Storm Center nie ins Kino. 1975 strahlte der NDR ihn aus. Damals beschäftigte der Radikalenerlass das Bundesverfassungsgericht. Im Selbstvorwurf, nicht genug gekämpft zu haben, und im Schwur, „nur über meine Leiche wird noch mal ein Buch aus meiner Bücherei entfernt“, gibt Bette Davis in Taradashs Film der Demokratie ein Gesicht, das Feuer kennt.

The Wicker Man (1973 Robin Hardy) via
Öffentliche Bibliotheken gelten als „freiwillige“ Leistung. Über viele verschuldete Gemeinden sind sogenannte „Schutzschirme“ gespannt. Daher die „endgültige Maßnahme: Schließung„. Nicht erzwungen, sondern zwanghaft ist der Verzicht. Der Verzicht auf Vermögensteuer. Zudem werden Kapitaleinkünfte geringer besteuert als Arbeitseinkommen. Und so weiter.
Ich erinnere mich, es war 2007. Eine Urlaubsresidenz im Bauhaus-Stil, mit Blick auf beide Buchten von San Sebastian, trug in Schmiedeeisen den deutschen Namen „Verzicht“. Da mussten wir lachen.
Jack goes boating (USA 2010) von und mit Philip Seymour Hoffman meint: es schneit, es ist Winter, aber Jack wird mit Connie im Sommer Boot fahren. Die Zeit bis dahin ist der Sicherheitsabstand, den der lebensuntüchtige und schüchterne Jack braucht, um sich mit dem Gedanken vertraut zu machen. (Diese Figur sei „a regular dysfunctional guy rather than a freaky dysfunctional guy“, sagt Simon Hattenstone in ‚The Guardian’, 28.11. 2011). Wie Philip Seymour Hoffman diese Rolle modelliert, ist wunderbar: bestes amerikanisches Kino in der Tradition der Grossstadt-Aussenseiter – der psychisch Angeschlagenen und Zurückgebliebenen. Die Dialoge sind so, dass man eigentlich immer fürchtet, Jack werde etwas ‚Falsches’ sagen – aber er nimmt sich nur ein bisschen Zeit, um zu antworten. (Er selbst fürchtet halt, dass seine Antworten nicht ‚adäquat’ sein könnten.) Hauptsache er sagt etwas: und das ist dann fast regelmässig nur leicht ‚daneben’ und eigentlich schon in Ordnung, ja liebenswert. Es ist letztlich die Art und Weise, wie er sich ausdrückt und die Welt sieht. Gegenüber den ‚normalen’ Ränkespielen, Eifersüchteleien und Begierden wird diese Haltung sich sogar bewähren – fast schon eine antikapitalistische Lektion im new yorker Grossstadtdschungel.
(Der Film basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Robert Glaudini, 2007.)
(Zu sehen gewesen auf arte, am 2.6.2014, um 22 Uhr 15: sicher als späte Hommage an den am 2. Februar dieses Jahres verstorbenen Philip Seymour Hoffman.)
Der Abend des „Film Maudit“ von Helmut Färber – ohne Helmut Färber, der nicht nach Berlin kommen konnte, war für mich der bewegendste Filmabend dieses Jahres. Dabei sah ich nur den ersten Teil und passierte in der Pause die Raucher vor der Tür . Was sich einer unter ihnen vorstellte, als er von „Zölibat“ hier schrieb, habe ich nicht verstanden. Denn das Thema des Abends und des schönen Heftchens dazu, das Helmut Färber zusammenstellte, ist ja nicht die bewusste Entsagung, die Enthaltung, die gewählte Askese, sondern im Gegenteil die aufgezwungene Aufgabe, das Unterbrochenwerden, das Zerstörtwerden. Wie schon im einleitenden Zitat von Robert Bresson erkennbar:
„Ich bin sicher, daß um uns Leute sind von Talent und Genie, dessen bin ich sicher, aber die Zufälle des Lebens…Es muß so vieles zusammentreffen, damit es einem Menschen gelingt, etwas von seinem Genie zu haben. Ich habe den Eindruck, daß die Menschen viel intelligenter sind, viel begabter, aber daß das Leben sie platt macht. Schauen Sie die Kinder an, in der Bourgeoisie…Ich nehme die Bourgeoisie, weil das genau dort ist, wo man sie platt macht. Auf der Stelle. Man macht sie platt, denn es gibt nichts, was mehr Angst macht als Talent oder Genie. Man hat eine Heidenangst davor.“
(Bresson 1966, Übersetzung nach Steffen Schneider)
Gleich nach dem Sehen von CHRONIK DES REGENS kam mir der Gedanke eines Films von Novizen, einübend und schon gefangen in ein Zölibat, dessen Charakter sich noch keiner von ihnen bewusst ist.
Heute, Mittwoch den 7.5., stellt Helmut Färber in zwei Programmen (um 19.00 und 21.15 Uhr) acht Filme vor, im Arsenal, in Berlin.
Im ersten Programm um 19.00 Uhr kann man »Chronik des Regens« wiedersehen, über dessen Produktion Michel Freerix vor ein paar Tagen hier etwas geschrieben hat. Teil des zweiten Programms ist Jean-Marie Straubs »Corneille – Brecht ou Rome l’unique objet de mon ressentiment« von 2009, zu dem Bert Rebhandl heute im Blog von Cargo eine Notiz veröffentlichte.
19:00 Kino 2
*Chronik des Regens Michael Freerix D 1991
35 mm 72 min
Sonate Frans van de Staak Niederlande 1975
16 mm niederl. und engl. OF 4 min
Rückkehr Volkmar Umlauft D 2001
DigiBeta 37 min
21:15 Kino 2
*Wilhelm, der Schäfer Josie Rücker D 2004
35 mm 26 min
Meine Heimat, mijn vaderland Frans van de Staak
Niederlande 1976
16 mm niederl. und deutsche OF 32 min
Sepio Frans van de Staak Niederlande 1996
16 mm engl. OF 34 min
Corneille – Brecht ou Rome l’unique objet de mon ressentiment
Jean-Marie Straub F 2009
Beta SP OmU 26 min
De nåede færgen Sie erreichten die Fähre
Carl Theodor Dreyer Dänemark 1948
35 mm OF 11 min
Robert Desnos verweigert bei seinen Texten zu Filmen (1923-1930) die üblichen Inhaltsangaben – seine Kunst besteht darin, die Filme kenntlich zu machen durch starke Ablehnung und Zustimmung. Er greift dabei natürlich Details aus dem jeweiligen Film auf und lässt es für den ganzen Film sprechen. Hie und da kommt er allerdings nicht umhin, trotzdem ein gedrängtes Resümee zu geben: etwa bei Pudowkins Tempête sur l’Asie / Sturm über Asien, 1928. (Le Merle, 10.5.1929)
Als Les Mystères de New York (The Exploits of Elaine, USA 1914/15) von einem Kino in Paris 1929 aufs Programm gesetzt wird – „verhunzt“ von einem „miserablen französischen Regisseur“ – macht Desnos in starken Worten seinen Lesern klar, was dieser Film der Generation von 1900 (also seiner) während der Deprivation der Kriegszeit bedeutet hat. Das sei die Generation gewesen, die das Kino ganz angenommen habe und „von ihm erzogen worden“ sei. Pearl White, die schöne Heroine der Serie, habe die Gemüter der Kino-Jünglinge durch ihre Sinnlichkeit vollkommen in Bann gezogen und beherrscht. „Und dann folgte ein Film auf den anderen, nach Pearl White kam Musidora, nach Musidora kam Nazimova und danach noch viele andere …“ „Wunderbare Figuren der Liebe, der Bezauberung … Das waren Frauen, wahre Frauen. Ihr Leben war nicht mittelmässing, sondern kostbar, und sie setzten es aufs Spiel.“ (Le Merle, 3.5.1929)
Es versteht sich, dass das Augenmerk des Surrealisten Desnos auf die ‚Zwischenwelten’ des Kinos gerichtet ist – das Traum- und Wachtraumartige der Laufbilder im Dunkel des Kinosaals. Er hat einen Sinn für das ‚unabsichtlich Poetische’ gerade der populären Produktionen und des naiven Ausdrucks: er votiert für die Poesie und gegen die Kunst (das Theatralische der Comédie Française im französischen Kino ist ihm ein Greuel). Unzufrieden ist er allerdings mit den Versuchen, Träume im Film explizit darzustellen – er findet das abstrus und lächerlich und und ruft nach der Imagination eines Marquis de Sade. Er will auch die Wunschvorstellungen und die Begierden, das Triebhafte und den Schrecken der Träume mitverwirklicht sehen. „Der Film von Monsieur Buñuel geht auf die bestgehüteten Geheimnisse der menschlichen Seele in poetischer Weise ein. Ich kenne keinen Film, der so unmittelbar auf den Zuschauer einwirkt, für ihn gemacht ist und mit ihm ein Gespräch, eine intime Beziehung aufnimmt.“ (Un chien andalou, Le Merle, 28.6.1929.)
Gegen den Strich geht ihm natürlich das Moralisierende auf der Leinwand und ausserhalb des Kinos: an den Zehn Geboten (Cecil B. de Mille, 1924) anerkennt er zwar „die Wunder, die der Regisseur und der Kameramann realisiert haben“, verabscheut aber die „puritanische Einfalt“ („niaiserie puritaine“), die der Film vor sich herträgt. (Journal Littéraire, 31.1.1925) Und was die französische Zensur betrifft, nimmt er kein Blatt vor den Mund: der Zensor, ein „Reaktionär“ im Greisenalter, verdamme das französische Kino durch seinen Einfluss dazu, „nur Sentimentalitäten niederster Art und Gemeinplätze eines absurden Nationalismus auszudrücken.“ Den Zensor, den zuständigen Minister, wie auch den dritten im Bunde, den „glücklichen Industriellen“ und „König des Kinos von Frankreich“ („zwischen zwei Ideen, wählt er unfehlbar die stupide“), nennt er bei ihren Namen. (Le Soir, 27.4.1928)
Dann gibt es da das Problem der „figurants“, auf das er öfter zurückkommt: das sind die Neben- und Kleindarsteller im französischen Film, die von „Menschenhändlern“ vermittelt werden, welche dabei unanständig viel von deren Verdienst in die eigene Tasche stecken. (U.a. Le Soir, 25.7., 1.8., 2.8., 5.10.1928)
Hat Desnos nur den Stummfilm geliebt? Nach Einführung des Tonfilms gibt es bei ihm die sinnvolle Unterscheidung zwischen ‚film parlant’ und ‚film sonore’. Er meint, ein ‚Sprechfilm’, der ihm gefallen habe, sei ihm bislang noch nicht begegnet, aber mit dem Ton könne er durchaus etwas anfangen.
„Alles, was auf die Leinwand projiziert werden kann, gehört der Domäne des Kinos an“ (1923 von ihm als Argument zur Beibehaltung der Zwischentitel gesagt): das ist ein Satz, der durchaus weiter trägt, weit in die Filmgeschichte hinein, und formuliert scheint wie für Godard und einige andere. – Desnos hatte ja etwas übrig für die Lakonie von Zwischentiteln wie diesen: „An jenem Abend …“, „Eines Tages …“, „Währenddessen …“; aber auch für die Wucht von „Brüder“ aus dem Panzerkreuzer Potemkin; und aus Nosferatu von Murnau hebt er ausgerechnet jenen Titel hervor, der es auch Serge Daney so angetan hat: „Und sobald er die Brücke überschritten hatte, kamen die Gespenster ihm entgegen.“ (Paris-Journal, 13.4.1923; Le Soir, 26.3.1927, 15.6.1928) Sollte es da vielleicht ‚geheimnisvolle Korrespondenzen’ gegeben haben, Ideenstränge, die unterirdisch oder ganz irdisch verlaufen sind?
(Und siehe da: bei André Breton, in „Die kommunizierenden Röhren“, zuerst 1932, taucht genau diese Stelle ebenfalls auf, sogar mit einem Foto aus Nosferatu und der Legende: „An der Biegung der Kleinen Brücke“.)
Es muss um 1982 herum gewesen sein, dass eine Gruppe junger Österreicher – drei Männer und zwei Frauen – an der Haustür unserer Wohngemeinschaft in Hannover klingelte. Alle Anfang 20, so wie wir selbst, die wir zu fünft in einer großen Altbauwohnung in der Nordstadt gegenüber des Georgengartens und der Herrenhäuser Gärten wohnten – nur einen Katzensprung entfernt zur Fakultät Freiraumplanung und Gartenbau, die unseren studentischen Mittelpunkt bildete. Eine der beiden Frauen war hochschwanger und ihr Freund gehörte zur Gruppe der drei Männer. Sie waren gekommen, um in den Sommerferien in Deutschland bei Continental zu arbeiten, die Schwangere nur um ihren Freund zu begleiten. Das war heftige und ungesunde Arbeit in der Reifenproduktion, aber man konnte zu der Zeit offenbar sehr viel mehr Geld in Deutschland als in Österreich verdienen.
Sie baten um Asyl. Sie waren tatsächlich von Haustür zu Haustür gegangen und hatten die Klingelknöpfe nach Wohngemeinschaftsnamenlisten abgesucht und gefragt, ob es über den Sommer Platz gäbe. Wir konnten vier von ihnen Unterkunft gewähren, da zwei Zimmer urlaubsverwaist waren. Es blieben das Paar und die beiden Männer – kein Paar, aber eine Jungenfreundschaft. Einer von ihnen hieß Michael Glawogger und war mit den anderen aus Graz gekommen.
Zu Zeiten meiner Hannover Tage war ich wahrscheinlich dreimal die Woche im Kino und sammelte die Programmzeitschriften von Apollo- und Raschplatzkino, den Programmkino-Gründungshäusern des späteren Flebbe-Imperiums. Die diskutierten Michael und ich – er nach hartem Arbeitstag, ich nach sehr freiem Studentenalltag – auf meinem Bett liegend Film für Film durch. Er würde später nach San Francisco an die Filmschule gehen wollen. Soviel war schon klar. Selber hatte ich zu dieser Zeit noch nicht den Mut, mich zu Film in ein produktives Verhältnis zu setzen.
Im nächsten Sommer waren die beiden Männer wieder bei uns. Michael war inzwischen tatsächlich kurz in San Francisco gewesen, erzählte von Supermärkten, die man inmitten der Nacht besuchen konnte und wir machten mit der Wohngemeinschaft und den beiden Ösis einen Ausflug nach Hamburg, um den Abend in der FABRIK zu verbringen. Dann endete mein Kontakt zu Michael Glawogger.
Über den Film MIT VERLUST IST ZU RECHNEN von Ulrich Seidl, an dem Michael Glawogger mitgearbeitet hatte, nahm ich in den Neunzigern nach eigenem absolvierten Filmstudium Notiz von seinem Filmschaffen und rief ihn später an, um an alte Zeiten anzuknüpfen. Das gelang aber nicht.
Meine Fremdsprachenkenntnisse des Österreichischen beschränken sich seitdem auf:
Deöss iss a Sandler!
Deöss iss oarg!
Moskau, 8.3.2013
Naum Kleiman ist Leiter des Moskauer Filmmuseums und Herausgeber der Memoiren von Sergei Eisenstein. Wir treffen ihn in Eisensteins nachgelassener Wohnung. Zusammen mit einer Gruppe Moskauer Filmstudenten und Mitarbeitern des Filmarchivs sitzen wir auf Eisensteins Stühlen, inmitten seiner Bibliothek. Naum Kleiman erzählt.
Eisenstein starb 1948 – das war ein schlimmer Tag für unsere Kultur! In der Zeitung stand auf der letzter Seite ein Nekrolog: Eisenstein ist heute Nacht gestorben. Auf der ersten Seite war der Befehl des Zentralkomitees gegen den Formalismus in der Musik, gegen Schostakowitsch und Prokofjew. Einige meinen, Eisenstein habe davon nachts gehört. Er schrieb einen Artikel über Farbe im Film und auch über Puschkin und Gogol. Um zwanzig vor zwei stand er auf, um den Rundfunk auszuschalten. Plötzlich ist er gestürzt, ein Herzinfarkt, und starb. Er hatte eine Haushälterin, die Tante Pascha, denn Vera und Eisenstein lebten in den letzten Jahren nicht zusammen. Er hatte schon zwei Jahre zuvor Herzinfarkte und hat deshalb gesagt, dass man gegen die Heizung schlagen muss, damit die Nachbarn kommen. Und Tante Pascha hat angefangen zu schlagen, mit einem Schraubenschlüssel. Da kamen die Nachbarn.
Um zwanzig vor zwei „schliefen“ alle Sowjetischen Rundfunkstationen schon. Nur BBC lief um diese Zeit, und das war streng verboten. Also hat Eisenstein die Engländer gehört. Und ich bin sicher, wenn es so ist, dann haben sie über diesen Befehl, den Kampf gegen den Formalismus geredet. Eisenstein ist vielleicht an dieser Nachricht gestorben. Prokofjew war sein Freund; Iwan der Schreckliche war verboten. Er selbst war nicht ausdrücklich Feind des Volkes – das war er in den dreißiger Jahren gewesen. Trotzdem stand er in der vierziger Jahren an der Schwelle zum Gefängnis. Er wusste, es kann jeden Tag passieren.
Als Vera, seine Frau, die Nachricht bekommen hat, hat sie an Woroschilow geschrieben. Das war, natürlich nur formell, der Vorsitzende der Sowjets. Sie hat ihm geschrieben, dass sie alles dem Staat schenken möchte, um ein Museum für Eisenstein einzurichten. Seine Antwort war: Eisenstein ist kein Mensch, dem man Museen baut. Er hat nicht verdient, sein eigenes Museum zu haben.
Sie wollte aber alles retten. Sie hatte eine Wohnung von ihren Eltern, die war viel enger im Vergleich zu dieser, zweieinhalb Zimmer. Die Eisensteinsche Bibliothek, seine Regale – alles was hier steht gehörte Eisenstein. Nichts ist verändert. Dieses Haus der Eltern war bereits damals alt, schon in den vierziger Jahren sollte es repariert werden und man hat es nicht gemacht.
Wir sind 1958 als Studenten zu Vera gekommen und es war schrecklich! Damals hat man zum ersten Mal den zweiten Teil von Iwan der Schreckliche gezeigt, was für uns ein Schock war. Wir haben plötzlich verstanden, dass jemand schon zu Stalins Zeiten öffentlich gegen Stalin etwas gemacht hat.
Vera war damals schon sehr krank und fast blind, Diabetes. Sie konnte die Manuskripte nur mit einer Lupe lesen. Sie brauchte junge Augen und junge Hände, also haben wir angefangen, ihr zu helfen. Aber der Moskauer Sowjet wollte ihr keine neue Wohnung geben. Dabei war es wirklich eine Katastrophe mit dieser Wohnung. Schließlich haben fünf berühmte Künstler einen Brief an die Führung geschrieben, Swjatoslaw Richter, Maxim Schtrauch, Galina Ulanowa. Dass die Witwe von Eisenstein in einer Wohnung „des Neorealismus“ lebt – man konnte dort wirklich kaum leben. Und man hat ihr diese Wohnung gegeben. Es war wirklich ein Wunder, wie es ihr gelungen ist, nicht nur die Gegenstände sondern auch die Atmosphäre zu erhalten. Sie hat ein Testament geschrieben, dass nach ihrem Tod der Filmverband das alles zu einem Museum machen soll. So beginnt die Geschichte unseres Filmmuseums. Damals hat man die Museumskommission gegründet und angefangen über ein Filmmuseum in der Sowjetunion zu reden.
Alle Manuskripte Eisensteins liegen jetzt im Staatlichen Archiv für Literatur und Kunst. Dort herrschen, was Temperatur und Feuchtigkeit betrifft, gute Bedingungen. Das ganze Zimmer dort war voller Manuskripte. Schon 50 Jahre lang arbeite ich hier und auch im Filmmuseum. Erst in der Perestroika-Zeit, 1989, ist es uns gelungen das Filmmuseum zu gründen.
Eisensteins Haus ist bis heute ein Geheimnis. Es gibt sehr viele Dinge, die ich nicht verstehe. Ich habe seit 50 Jahren damit zu tun, und immer wieder findet man etwas Neues. Eisenstein hat ein Image, als ob er ein Panzerkreuzer sei, aus Metall, militärisch, ein Sänger der Revolution. Hier sieht man eine ganz andere Person. Es ist dumm zu sagen, er war der Gründer, aber er war ein Hooligan, könnte man sagen. Er hat immer alles anders als alle anderen gemacht. Er wollte sehen, was hinter den Kulissen ist. Und hinter der Einstellung. Was eigentlich die Filmsprache ist. Er hat immer experimentiert und manchmal mit seinem Leben bezahlt. Ein typischer Pioneer, einer, der Erster ist. Er sagte, er war immer ein Kind. Er wollte das Spielzeug kaputt machen, um zu verstehen, was darin steckt. Etwas musste dort doch sein. Dem Film hat er sogar den Erfolg geopfert. Um zu verstehen, was man in der Montage machen kann, in der Einstellung. Er hat mit den verschiedenen Sprachen gespielt.
Hier in seiner Bibliothek kann man das alles sehen. Er war der Typ Theoretiker-Künstler. Alle meinen, er sei zu kalt. Eisenstein hat immer die Bibel zitiert. Es gibt dort eine Fabel, in der der Engel zu einem Mensch sagt: Du könntest heiß oder kalt sein, das wäre recht. Aber du bist warm, und das ist deine Sünde. Warm ist er nicht gewesen. Er war manchmal sehr heiß, manchmal kalt, denkend – aber nicht warm.
Eisenstein war ein Mensch, der nicht nur in der Gegenwart lebte, sondern in ganz verschiedenen Zeiten, schon seit seiner Kindheit. Er stammt aus Riga, das ist eine deutsche, eine mittelalterliche Stadt. Dort hat er die „mittelalterlichen Genres“ entdeckt, das Mysterienspiel oder die Moralité. Das ist etwas ganz anderes als das psychologische Drama des 19. Jahrhunderts. Im Mysterienspiel gibt es die Hölle, die Erde und den Himmel.
Viele suchen bei Eisenstein nur die Erde und sind enttäuscht, weil etwas fehlt. Aber wenn man das Ganze dreistöckig versteht, sind auch die Hölle und das Paradies dabei. Dabei ist aber nicht alles verteilt wie im Mittelalter auf der Bühne, sondern es ist in der Struktur! Das ist vielleicht schwierig zu verstehen, da unsere Ästhetik heute eine andere ist. Heute ist alles auf die bürgerliche Dimension hin orientiert. Eisenstein dagegen sagt, sogar in den grausamsten Momenten darf man nicht die Harmonie verlieren. Denn die Struktur des Films ist eigentlich unser Paradies. Das Metier des Filmemachers ist nicht nur die Handlung aufzubauen, mit allen Grausamkeiten, die wir in der Wirklichkeit finden, sondern auch die Harmonie der Form herzustellen. Sie hat einen Sinn, Form ist nicht formell. Form hat einen Inhalt.
Wir haben jetzt sein Buch, ein neues Buch, veröffentlicht. Zu Sowjetzeiten wurde es nicht publiziert. Es war nicht verboten, aber es war unrealistisch, es zu publizieren. Eisenstein hat es nicht beendet. Das letzte Kapitel heißt Der Sinn der Form oder Der Inhalt der Form. Der Inhalt der Form ist eigentlich die Harmonie, die mit dem Inhalt der Welt korrespondiert. Und wenn wir in unserem Gefühl nicht diese Harmonie haben, sind wir keine Künstler. Wir sind nur ein Spiegel. Wir können widerspiegeln, was vor unseren Augen passiert, aber den Inhalt der Welt verstehen wir nicht. Das ist natürlich ein bisschen idealistisch und seltsam für unsere merkantile Welt. Aber es war der Glaube vieler Jahrhunderte.
Zweitens, und auch für Eisenstein typisch: Riga war eine Stadt mit drei Sprachen. Eisenstein sprach Deutsch seit seiner Kindheit, außerdem Russisch und Lettisch. Deutsch war seine „Bauernsprache“. Fast alle Adligen hatten Bonnes (Kindermädchen), und die sprachen Französisch und Englisch. Eisenstein hat schon in seiner Kindheit Russisch Deutsch, Englisch und Französisch gesprochen.
Sein Vater war ein Architekt, und der Jugendstil ist kosmopolitisch. Jugendstil bringt die europäische Kultur mit der östlichen Kultur (Ornamente) zusammen. Dazu kommen plötzlich japanische und afrikanische Elemente. Wenn man will, kann man in den Bauten seines Vaters das alles sehen, sogar komisch manchmal, zuviel und grotesk.
Eisenstein wuchs als Kind der Welt auf, er war nie eurozentrisch. Was seltsam für das europäische Auge aussieht, war ganz natürlich für ihn. Die Sprache der japanischen Kunst oder die russische verkehrte Perspektive der Ikonenkunst waren ihm nicht fremd.
Hierher kam ein Jesuit aus Kanada, der ein Buch über Iwan der Schreckliche schrieb, und sagte mir: Die alte russische Kunst kannte die Perspektive nicht. Die Perspektive haben die Italiener entdeckt, und die Russen hatten die barbarische, verkehrte Perspektive. Ich muss sagen, die barbarische, verkehrte Perspektive hatte eine zweitausend Jahre alte Tradition! Sie kam aus Ägypten. Es ist eine sehr, sehr moderne Perspektive.
Wissen Sie, was verkehrte Perspektive ist? Bei der europäischen Perspektive geht alles in die Tiefe (Zentralperspektive). Wenn Sie Ikonen sehen oder byzantinische Wandmalerei, kommt alles zu dir, es ist gerade umgekehrt. Sie ziehen dich nicht rein, sondern die Malerei kommt zu dir (nichtlineare Perspektive). Schon die Griechen und die Ägypter haben verstanden, dass die Malerei nicht die Widerspiegelung des Gesehenen ist. Sondern sie gibt Sinn: Die Pharaonen sind größer, die Bauern klein. Diese Perspektive ist sinngemäß und entspricht nicht dem, was unser Auge sieht.
Eisenstein wollte dasselbe im Film aufbauen. Er hat die verkehrte Perspektive geplant und sie in Iwan der Schreckliche umgesetzt, was sehr ungewöhnlich ist. Auch seine Montage ist nicht nur Tempo und scharfe Montage. Sie hat nicht nur den intellektuellen Aspekt, sondern ist auch eine Änderung der Perspektive in jedem Moment. Wenn der Blickwinkel sich ändert, bekommen wir eine neue Perspektive. Das zerstört unsere gewöhnliche Alltags-Perspektive und gibt unserem Gehirn und unserem Verständnis der Wirklichkeit ganz andere Möglichkeiten.
Eisenstein hat schon vor der Filmmontage angefangen, kubistisch zu zeichnen. Er war im Theater und hat die Idee des Kubismus verstanden, verschiedene Blickwinkel zusammenzubringen. Seine Montage ist synthetischer Kubismus.
Warum ich das alles erzähle? Weil es heißt, seine Experimente, die heute ein bisschen fremd aussehen, archaisch, gehören in die 20er Jahre. Aber was bedeutet dieser Stil heute? Wir können jetzt mit diesem Gerät (er zeigt auf die Videokamera) zwei Stunden lang eine Einstellung machen, ohne Unterbrechung.
Hinzu kommt etwas Drittes: Eisenstein war ein Dichter, ein Poet, und seine Filme sind nicht Prosa, sie sind Poeme.
Fast alle Kulturen kennen diese Vorgeschichte. Alles fängt mit Poesie an, und dann kommt Prosa. Dabei ist so einfach, prosaisch zu reden. Aber sogar die Bibel ist ein Gedicht, ein enormes Gedicht. Wer heute Hebräisch studiert und die Verse versteht, sieht, dass sie anders sind als die europäischen, sie haben keine Reime. Aber sie haben Rhythmus, und jedes Wort hat etliche Bedeutungen. Während im Alltag jedes Wort viele Bedeutungen hat, bringt uns Prosa zu einer Bedeutung. Und es ist wichtig, in diesem einen Text diese eine Bedeutung zu verstehen. Poesie ist ganz umgekehrt, sie aktualisiert mehrere Bedeutungen gleichzeitig. Deswegen kann man jedes Gedicht zwei, drei, vier, fünf Mal lesen, und jedes Mal gibt es neue Beziehungen zwischen den Wörtern. Komischerweise sind alle ersten epische Werke wie die Heilige Bibel oder die alten Poeme, die Nibelungen-Sage oder die Ilias, poetisch. Die Menschen haben sehr früh die Vieldeutigkeit des Lebens verstanden.
Prosa zeigt uns den Weg heute, den sogenannten richtigen Weg, zeigt uns, eine Bedeutung, einen Sinn usw. zu finden. Früher, in der magischen Welt, haben sie verstanden, dass alles viele Bedeutungen hat. Alles war mehrmals miteinander verbunden, und es gab eine magische Beziehung zwischen den Menschen und der Welt – durch die Poesie!
Die ersten Filme: Fast alle unsere sogenannten Revolutionäre haben Poesie gemacht. Vertov, die Avantgardisten in Frankreich, Hans Richter und Schwitters – das ist eigentlich Poesie.
Viele Leute sagen, Eisenstein ist seltsam, weil sie von ihm eine Erzählung erwarten, einen Roman mit Charakteren, verschiedene Quid pro quo-Geschichten. Aber darüber spricht er nicht, das ist nicht seine Sache. Und hier in der Bibliothek kann man seine Sympathien sehen, seine Schule ist hier. Er hat sehr viel gelesen. Hier ist nur eine Hälfte der Bibliothek, die andere Hälfte ist in der Lenin-Bibliothek. Sie haben sehr viel genommen, weil in der Sowjetunion diese Bücher sehr selten waren oder es nur ein Exemplar bei Eisenstein gab. Er hat sehr vieles aus Europa und Amerika gebracht, und deswegen haben sie bei seinem Tod von der Witwe fast zweitausend oder mehr Bücher mitgenommen. Aber das wichtigste ist hier!
Fast alle Bücher haben Marginalien. Eisenstein war der Typ Theoretiker wie Leonardo da Vinci. Für ihn war Nachdenken genau so wichtig wie Schaffen.
Am Ende seines Lebens in seinem Tagebuch beichtet er es: Ich bin verrückt gewesen, wenn ich Leonardo als Vorbild für mich gewählt habe, eigentlich ist Michelangelo viel näher.
Aber Leonardo wurde in dieser Zeit als das große Genie entdeckt. Auch die Utopie einer Einheit von Wissenschaft und Kunst war ganz wichtig für die 20er Jahre. Aber natürlich hat das Vorbild von Leonardo eine Rolle gespielt für Eisenstein. Er hat sich bemüht, sich selbst zu analysieren, das ist manchmal gefährlich für einen Künstler, und er wusste es.
Die Bibliothek hier ist ein Schlüssel zur Seele Eisensteins. Ich hab mich sehr bemüht, zu verstehen, warum hier genau diese Bilder hängen, was sie bedeuten? Alle diese Bilder sind aus Eisensteins Wohnung. Oder warum die Bücher so stehen, was bedeuten sie für ihn? Was verloren gegangen ist, ist die Anordnung der Bücher. Eisenstein hat die Bibliothek montiert wie seine Filme. Die Bücher standen seltsam, nicht so, wie wir das machen. Hier die Theorie der Bildenden Künste, dort die Komödie, hier Theater, dort Mexiko, Amerika usw. Wie es bei Eisenstein war, wissen wir nur von einem Beispiel, das er selber beschrieben hat:
1936 hat Eisenstein aus New York dieses Buch bekommen. Er wollte es unbedingt haben, Stanislawskis An actor prepares. In Russland wurde es erst zwei Jahre später publiziert. Überall steht, dass Eisenstein Meyerholds Schüler war, in Opposition zu Stanislawski. Eisenstein hat sogar in den 20er Jahren gegen das Stanislawski-Theater gekämpft, gegen seine Zirkusvorstellungen und gegen das psychologische Theater von Tschechow.
Aber voilà: Hier sind sehr interessante Bemerkungen, hier das sind seine Papierchen. Eisenstein hat sehr viel zitiert in seinen Büchern.
Daneben steht die altrussische Bibel. Warum? Weil es noch einen Gott gibt. Nicht Stanislawski ist der Gott, sozusagen eine Verfremdung – einerseits. Andererseits steht da noch dieses Buch: Des grâces d’oraison. Ignatius von Loyola hat den Befehl gegeben, nach seinem Tod alle seine Exerzitien zu vernichten. Das haben sie nicht gemacht, aber erst im 19. Jahrhundert hat man sie gefunden. Pater Poulain gibt hier Kommentare zu den Übungen und was sie bedeuten, der Weg zum Gebet und zum Gott.
Eisenstein schreibt hier, er hat das Buch in Mexiko gekauft, und dass all diese Übungen der Stanislawski-Methode sehr ähnlich sind. Das heißt, dass Ignatius von Loyola als Regisseur die Seelen der Mönche und sie selbst vorbereitet hat zum Treffen mit dem Gott. So wie Stanislawski den Schauspieler zum Treffen mit dem Publikum vorbereitet hat. Die Mechanismen sind dieselben, nur die Ziele sind anders.
Hier steht: Ausdrucksbewegung, des plantes, Slow Motion… Das heißt: Die Slow Motion beim Gebet bringt den Menschen zurück zu einem Stadium primitiver Wesen. Wie Würmer, die auch diese Slow Motion haben. Er spürt immer diese Beziehungen zwischen verschiedenen Formen der Organismen. Dann vergleicht er Ekstase, es gibt sehr viel über religiöse Ekstase.
Eisenstein sagt, dass er den Eindruck hat, dass nachts die Bücher flüstern und miteinander reden. Es stimmt, ich habe auch dieses Gefühl, weil alles verbunden ist. Sogar wenn sie nicht nebeneinander, wie diese, sondern auf verschiedenen Regalen stehen.
Dieser Raum von Eisenstein, seine ganze Wohnung, zeigte keine Spur von seinen Erfolgen. Alles was beendet wurde, Potjomkin, Oktober, Streik, Newski, ist rausgegangen und nicht im Haus geblieben. Seine nicht geborenen Kinder, alle seine Projekte, die nicht verfilmt wurden, sind hier. Man kann immer spüren, ja, das ist sein nicht gedrehter Film. Da ist der Torero aus dem Film Mexiko-Mexiko. Eisenstein meinte das könnte sein bester Film werden.“
Das Gespräch mit Naum Kleiman führten Marcel Neudeck, Bettina Büttner, Laura Morcillo, Christian Haardt, Marc Eberhardt, Florian Geierstanger und Iuri Maia Jost. Es fand statt am 8. März 2013 im Rahmen einer Exkursion der Filmklasse von Prof. Thomas Heise der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe.
Transkription und Bearbeitung: Florian Geierstanger