Montag, 28.11.2005

Aktuell im Kino

„Exzellente Darsteller“ (WAZ), „Grossartig“ (DIE WELT), „Wunderbar“ (SPIEGEL), „Glanzvoll“ (SÜDDEUTSCHE ZEITUNG): Stolz und Vorurteil.

„Die unglaublichste und ergreifendste Weihnachtsgeschichte aller Zeiten!“ (ARD KULTURREPORT), „Zutiefst menschlich!“ (STERN), „Reif für den Oscar“ (CINEMA), „Magisch!“ (ZDF Aspekte): Merry Christmas.

„Ein kleines Wunder!“ (Süddeutsche Zeitung), „Eine Sensation!“ (DER SPIEGEL): Die große Stille.

„Ein bewegendes Fest der Musik und des Lebens!“ (KulturSPIEGEL): Wie im Himmel.

„Ein berührender, humorvoller und im besten Sinne aufklärerischer Film“ (DER SPIEGEL): Die grosse Reise.

„Hollywood-Kino mit viel Herz und Humor!“ (TV SPIELFILM), „Große Gefühle – manchmal braucht man so etwas einfach!“ (WOMAN): Ein ungezähmtes Leben.

[FAS, 27.11.2005, S. 71; die Auflistung ist vollständig]

Mittwoch, 16.11.2005

Zwei Hinweise

*** Wer grad gute Französischkenntnisse zur Hand hat, kann diese Woche auf France Culture täglich Gespräche zwischen Claire Denis und Jean-Luc Nancy hören. Bisher: „Le territoire“, „L’intrus“, „La communauté d’esprit“. In den nächsten zwei Tagen: „La violence de l’image“ und „Cinéma et philosophie“. Als Real Audio (jeweils 35 min) im Netz verfügbar, wahrscheinlich für ein paar Tage.

*** ROUGE 7: Viel John Ford (Texte von Shigehiko Hasumi, Jonathan Rosenbaum, Miguel Marias und Ross Gibson). Außerdem ein Schwerpunkt zu Architektur, Urbanismus und Kino und einiges mehr.

Donnerstag, 10.11.2005

You don’t give me Fever

Wer in Berlin in der zweiten Woche den neuen Farrelly-Film sehen wollte, hatte Pech: Es gab keine zweite Woche. Einigermassen verblüfft durchsuchte ich das Kino-ABC nach „Fever Pitch“, dann nach „Ein Mann für eine Saison“, wie die deutschen Verleiher optimistisch getitelt hatten. Wie genau das zustande kommt, dass eine Nick Hornby-Verfilmung mit Drew Barrymore in der weiblichen Hauptrolle, ein Film, der von führenden Zeitschriften als „wunderbar warmherzig“ (BRIGITTE) empfohlen wird, nach einer Woche aus dem Cinestar verschwindet, wo er, wie ich dann erfuhr, schon in der ersten Woche im 17 Uhr-Slot geparkt worden war: Keinen blassen Schimmer. Kann sein, dass der Film in den USA gefloppt ist. Kann sein, dass es Lukrativeres für den deutschen Markt gibt als Baseball-Filme. Kann sein, dass in dem Farelly-Film nicht genug Farelly drin ist: Werde ich jetzt wohl erst erfahren, wenn die DVD rauskommt. Rührend war immerhin die Frau an der Cinestar-Kasse, wo wir dann „A History of Violence“ sahen. Auf die Nachfrage, ob sie wisse, warum „Fever Pitch“ so schnell abgesägt wurde, zuckte sie mit den Achseln und sagte, sie könne da leider auch nichts machen: Sie sei ja nicht jeden Tag da.

Hinweis

Heute läuft Philip Grönings Klosterfilm „Die große Stille“ an.

In der aktuellen Jungle World sprechen Ekkehard Knörer, Volker Pantenburg, Stefan Pethke, Bert Rebhandl und Simon Rothöhler über den Film. In der heutigen taz ist ein weiterer Text von Bert Rebhandl zum Film erschienen.

Donnerstag, 03.11.2005

Fever Pitch (Bobby & Peter Farrelly) USA 2005

So eine tolle flache Dramaturgie. Sowas von geerdet, ohne jede Kunstanstrengung. Kein Bedürfnis, für jeden nicht genommenen Plot Point einen antidramatischen an seiner Stelle zu errichten. Dennoch bei mir immer wieder Erstaunen, was die alles nicht machen. Wie die Komödie als Formerwartung invertiert wird. Wie das Romantische in seiner Normalisierung zum Versprechen wird, mit in den Alltag zu kommen. Wie die Farrellys gelacht haben müssen, als sie die zwei Rollstuhlfahrer dann doch ins Bild schieben. Hereinschieben als Beiseiteschieben von Reflexen der Interpretation: Allegorisiert körperliche Defekte als politische doch künftig anderswo. Drew Barrymore, die den Film produziert hat, mag ich erst seit „50 First Dates“. Ein Auftragswerk sieht anders aus. Alle wollten, was sie taten und konnten es auch. Ein Hauch von New Hollywood, ein wunderbarer Soundtrack.

viennale 05, notizen (2)

* Histoire(s) du cinéma – Moments choisis (Jean-Luc Godard, Frankreich 2000, 80 Minuten)
Ich sah den Film zweimal. Beim ersten Mal kam ich aus dem Kino und meinte einen griffigen Satz zu ihm gefunden zu haben; etwas, was man herausposaunen könnte zu Beginn eines Texts, dass alle staunten, was danach dann noch komme. Beim zweiten Mal wollte ich den Satz überprüfen und er kam ganz durcheinander von dem Film.

Hin und wieder markiert Godard Fehler, die ihm in der langen Version des Films, den „Histoire(s) du cinéma“, unterlaufen waren, dann blinkt in roter Schrift das Wort „Erreur“ auf der Leinwand und eine Korrektur steht darunter: es war nicht Martine Carol, es war jemand anders.

Dass „Night of the Hunter“ von Charles Laughton (USA 1955) zentraler als in den langen Histoire(s) sei, hatte man uns vorher bereits erzählt. Die Szenen aus „Night of the Hunter“ waren schon im langen Film, aber dort waren sie kürzer und überlagerter als in diesem. Sie handeln vom Fluss, auf dem die Kinder im Boot fortgleiten, vom Schrei, den Robert Mitchum schreit, als er das Boot fortgleiten sieht, und vom Nicht-von-der-Stelle-kommen des alten Mannes, nachdem er die tote Frau im Fluss gesehen hatte.

Es wurde gesagt, Godards Film sei ein abstract der langen Version, und wir fügten hinzu: aber auch etwas, was es ins Kino schaffen soll, anders als die lange Version, die sofort der Kunst zugeschlagen wurde – zu lang fürs Kino, zu kompliziert, nicht mehr zu plazieren. Neulich hatte ich mit EK gesprochen über die Sache mit der Kunst und die mit dem Kino. Dass die Kunst begierig auf das Kino sei und es in ihrer Gier und grotesken Bewunderung immer mehr umstelle, betaste, aussauge. Die Kunst macht das, weil sie mitbekommen hat, dass das Kino angeschlagen ist. Die Kunst, hatten wir gedacht, sei gierig darauf sich einzuverleiben, was sie nur vermittelt zu besitzen meint: das Große und Strahlende, das Leuchten des Kinos einerseits, aber, wichtiger noch, das nachhallend Narrative. Und das Kino, hatten wir gedacht, sei nicht mehr stark genug, dieser Gier zu widerstehen. Es kommt mir jetzt so vor, als seien die lange Sequenz mit dem Schrei und dem Fluss und die lange Sequenz mit dem alten Mann, der nicht von der Stelle kommt, wie Akkorde, die der Film von Godard sehr früh anschlägt und über seine ganze Dauer nachhallen läßt um ihm das Echo dieses spezifisch kinematographisch Narrativen zu geben.

Es kommt mir jetzt aber auch so vor, dass so von „dem Kino“ zu sprechen, wie EK und ich es neulich probeweise noch einmal taten, als wir von „dem Kino“ und von „der Kunst“ sprachen, eine Sache ist, die sich nicht mehr versteht. Und dass Godard davon weiß, weshalb es nun neben den Geschichten des Kinos auch noch ausgewählte Momente daraus gibt.

Dienstag, 01.11.2005

viennale 05, notizen (1)

* Shen Nu (Wu Yonggang, China 1934, stumm, 76 Min.)
Ruan Lingyu. Bei the Goddess das Gesicht dieser Frau. Dieses Gesicht stellt der Film oft heraus, es ist aber nicht skulptural gestaltet, wie der Titel des Films es nahelegen könnte, der Film gestaltet dieses Gesicht und seine Trägerin eher im Bereich des Gestischen, also zum Lesen. Im Chinesischen braucht nur ein Buchstabe ausgetauscht werden, um aus der Göttin eine Hure zu machen, schreibt Bérénice Reynaud im Katalog der Viennale 2005. Davon handelt der Film. Über den Zwischentiteln eine nackte Frau, deren Hände gefesselt auf dem Rücken liegen. Sie beugt sich zum vor ihr liegenden Kleinkind. Es sind nur 9 Filme dieser Schauspielerin übrig geblieben. Die wurden in Wien gezeigt.

* Screen Tests – Reels 5, 7, 19, 20, 24 (Regie:Andy Warhol, USA 1963-66, stumm, ca. 250 Min.)
* The Chelsea Girls (Regie: Andy Warhol, USA 1966, 200 Min.)

Die Screentests von Warhol am anderen Tag, ihre Güte: sie machen einen irrsinnig. Sie sind allesamt stumm. Dennis Hopper, dennoch singend [1964, Reel 5, #1].
Baby Jane Holzer und ihr chewing gum stunt [1964, Reel 5, #8].
Lucinda Childs blickt an der Kamera vorbei. Lucinda Childs blickt links an der Kamera vorbei, dann wandert ihr Blick langsam nach rechts. Nach einer Minute ist er dort angekommen. Dann fällt eine Locke in ihr Gesicht, sie will sie wegpusten, die Locke aber fällt zurück, da nimmt sie ihre Hand zuhilfe. Dann setzt sich eine Stubenfliege auf ihre rechte Schulter. Dann fällt die Locke wieder in ihr Gesicht. Dann ist die Aufnahme zuende [1964; Reel 7,#7].
Mary Menkens kubistische Falten [1966, Reel 7,#9].
James Clairs Träne [1965, Reel 19,#8].
Baby Jane Holzer und ihr chewing gum stunt, sort of, revised edition [1965, Reel 20,#2].
Beim apfelessenden Lou Reed musste ich an Udo Lindenberg denken [1966, Reel 20, #5].
Kelly Edeys Adamsapfel in Untersicht [1963, Reel 20, #10].

Ein paar Tage später lese ich im Oktoberheft des Filmmuseums etwas, was mir gefällt, von Harry Tomicek zu „My Hustler“ (1965), über die Schwenks und Zooms, die die starren Einstellungen der früheren Filme Warhols ablösen: „Sie prallen so roh, ungeglättet und mechanisch auf den Seh- und Zeitsinn, als wäre hinter der Kamera ein Roboter zu L’art-brut-Dienstleistungen eingesetzt.“ „Chelsea Girls“ hatte ich da auch noch nicht gesehen. Aber später dann.

* Leaving Home, Coming Home. A Portrait of Robert Frank (Gerald Fox, GB 2004, 92 Min.)
* Kikyo (Hagiuda Koji, Japan 2004, 82 Min.)
* Invasion (Hugo Santiago, Argentinien 1969, 128 Min.)
* A Letter from Greenpoint (Jonas Mekas, USA 2004, 80 Min.)

Der Film zu Robert Frank ist sehr ärgerlich. Volker hat schon dazu geschrieben.
An „Kikyo“ habe ich kaum Erinnerungen. Es gibt einen Moment in dem Film, in dem zum ersten Mal Musik einsetzt, da sind der Mann und das Mädchen unterwegs und sanfte, lustige Kindermusik kommt jetzt aus dem Off.
Von „Invasion“ hatte mir CN schon in Berlin erzählt, und es stimmt: er ist sehr toll. Borges hat an dem Drehbuch mitgearbeitet. Wie der Film Schwerkraft und Dynamik zueinandergesellt müsste man ausführlicher bedenken.
Immer wieder mache ich mich auf, die Sachen von Jonas Mekas zu sehen, und immer wieder laufe ich frühzeitig aus dem Kino. Ich mag den Film seines Bruders, „Hallelujah the Hills“, sehr gerne.

* Le Petit Lieutenant (Xavier Beauvois, Frankreich 2005, 116 Minuten)
Xavier Beauvois kannte ich als Darsteller bei Garrel. Ich las im Katalog, Caroline Champetier habe die Kamera für diesen Film gemacht. Ein Polizeifilm. In Berlin, heute, hat Volker angerufen und erzählt von den Cahiers, die den Film jetzt hypen, retour à la fiction. Mir war beim Schauen eingefallen, dass das europäische Kino den Polizeifilm dem Fernsehen überlassen hatte; man schaut sowas deshalb inzwischen anders. Später war ich mir nicht mehr sicher darüber. Wie die Genrebestandteile, die alle intakt gelassen sind in dem Film, den Darstellern und ihren Körpern Kontur geben, nicht aber den Rhythmus des Films bestimmen. Die Blicke und ihre Geschichte. Man sollte so ein Kino nicht postklassisch nennen!

Freitag, 28.10.2005

kino hinweis

Evolution of a Filipino Family
Regie: Lav Diaz
Philippinen 2004
643 Minuten

Berlin, Haus der Kulturen der Welt
Samstag, 29.10., 18:00 – 6:00
(„In den Pausen Gespräche mit dem Regisseur Lav Diaz, Massagen und Kulinarisches.“)

Im Viennalekatalog schreibt Bert Rebhandl: „In Evolution gehen Vision, Traum, Filmgeschichte ineinander über. Wenn André Bazin den Neorealismus noch als eine ‚humanistische Weltanschauung‘ begreifen konnte, dann muss das Kino durch die Kritik des Humanismus hindurch, die seither geleistet wurde. Lav Diaz sucht in Evolution nach einer Darstellung der kollektiven Geschichte, ohne dabei zum Darwinisten zu werden. Er versichert sich gegen den Teleologieverdacht, der kritisch auf den Fortschrittsoptimismus der Moderne reagiert, indem er Orte und Szenen zueinander in Bezug setzt, ohne sie kausal zu verbinden. Er sucht sie auf wie in einer Analyse.“

Hier gibt es einen Text über den Regisseur und ein Interview: senses of cinema > Brandon Wee > The Decade of Living Dangerously: A Chronicle from Lav Diaz

Nach Wien (III)

Invasión (Santiago, 1969): Die in den grauen Anzügen wollen einen Sendeanlage ins Stadion von Aquilea schmuggeln und die Stadt übernehmen. Die in den schwarzen Anzügen versuchen das um jeden Preis zu verhindern: Verschwörung und Gegenverschwörung, Verabredungen mit Zetteln, die ausgetauscht werden und Telefonhörern, aus denen merkwürdige Parolen kommen. Und alle rennen immer in diesem Film, ihre nachvertonten Schritte hallen auf dem dunklen Asphalt. Manchmal spitz hackend wie Spechte, die einen Baumstamm bearbeiten, manchmal scharrend wie ein Spaten im Kies. Jedes Wort ein Losungswort, jeder Satz ein Schlüsselsatz: Filme, die so funktionieren, sind auch als Allegorien der unsichtbar strippenziehenden Arbeit des Regisseurs zu verstehen. ++++ El Cielo Gira (Alvarez, 2004): Festivalbetrieb ist Anmaßungstraining, Arbeit an der Neujustierung der ausleiernden Zeit- und Aufmerksamkeitsökonomie. Wann „lohnt“ sich ein Film? Wie bestimme ich den richtigen Zeitpunkt, um das Kino zu verlassen? Extrapolieren, Hochrechnen. Komm, noch fünf Minuten, vielleicht tut sich was. In mir? Im Film? Schließlich versucht man einen Moment abzupassen, an dem eine unauffällige Flucht möglich ist. Beim Dokumentarfilm über das Aussterben eines kleinen zentralspanischen Dorfs – dem Geburtsort der Filmemacherin – dauert es eine Stunde, bis wir uns zum Gehen entschließen. Nach dem Depardon-Film ist es fast schmerzhaft zu sehen, wie hier das Leben einer amtlich-konventionellen Dramaturgie von Schuss- und Gegenschuss untergeordnet wird. ++++ Profils Paysans: Le quotidien (Depardon, 2004): Nachholendes Sehen: Profils paysans hätte ich schon mehrfach hier in Berlin anschauen können, und jetzt wird der Film überraschend zu meinem Lieblingsfilm der Viennale. Was so einfach erscheint: verschiedenen Bauern, einem Hirten, einer alten Frau, einem jungen Pärchen, das einen Hof kaufen möchte, zuzusehen und ihren Alltag zu dokumentieren, das ist nicht nur Depardons Geduld, sondern auch seinem dramaturgischen Geschick geschuldet. Wir sind noch ganz im filmischen Präsens, ganz bei der knapp 90-Jährigen, da hören wir Depardon aus dem Off sagen, dass sie drei Tage später auf der Treppe gestürzt ist und seitdem im Krankenhaus liegt. Untiefen der filmischen Zeit. ++++ Quoi de neuf au Garet (Depardon, 2005): Was gibt’s neues auf dem Garet-Hof? Depardons Bruder, der hier zehn Minuten lang erzählt, verkauft Teile des bäuerlichen Anwesens. Er erzählt ganz unsentimental davon, und der Unterschied zwischen ihm, der da seit Jahrzehnten wohnt und arbeitet, und seinem Bruder, der Fotos und Filme drüber macht, ist deutlich spürbar. Auch dass hier im kleinsten Maßstab von einer Veränderung die Rede ist, die über das Persönliche hinaus einen Widerhall in der Landwirtschaftspolitik der Region, des Landes, ja Europas findet, steckt in den wenigen Einstellungen mit drin: In kleinen Nebensätzen, vielleicht in einem Gesichtsausdruck, vielleicht im Rauschen der irgendwann im Hintergrund gebauten Autobahn. ++++ O Sangue (Costa, 1989): Über die Einstellungen in Filmen Erich von Stroheims hat Jean-Marie Straub geschrieben, sie seien „wie ein Ei auf der Erde“ und „gleichzeitig wie Adlerschwingen in der Luft.“ Einen richtigen Reim konnte ich mir darauf nicht machen, aber beim Angucken von „O sangue“ bekam ich eine Ahnung davon, was er meint. Pedro Costas Debut, das zugleich wie ein letzter Film aussieht, stellt die Einstellungen hintereinander, als müsse für jede immer wieder alles neu erfunden werden: Das Schwarz-Weiß, die Kontraste, selbst die Figuren. Aber zugleich setzen sich diese so abgeschlossen wirkenden Einheiten leichtfertig über die Ellipsen hinweg. Dialektik von Offenheit und Hermetismus. ++++

Sonntag, 23.10.2005

Nach Wien (II)

Leaving Home, Coming Home (Fox, 2005): Anders als üblich läuft der Film auf der Viennale nur einmal. Der Grund: Robert Frank, den Gerald Fox gegen jede Wahrscheinlichkeit ausführlich porträtieren durfte, hat verfügt, der Film dürfe höchstens zwei Mal pro Jahr gezeigt werden (und einmal war er bereits in Rotterdam zu sehen). Neunzig Minuten später glaubt man, Franks Motive zu kennen: Wenn von seiner Zeit in Paris die Rede ist, ist ein Amélie-Akkordeon zu hören. Wenn es um New York geht, serviert Fox uns Cool Jazz. Und so weiter. Man gönnt es dem Film kaum, dass seine Plattheit dann doch oft durch die Sprödheit Franks austariert wird. ++++ Xin nuxing (Chusheng, 1934): Gegen Ende des Films erkrankt die Tochter der selbstbewussten Schriftstellerin an Lungenentzündung. Um die Medikamente bezahlen zu können, muss die sich mit einem unangenehmen reichen Typen einlassen. Wenn man genau hinsieht, wird man in fast jeder Szene den Kondens-Atem vor den Mündern der Schauspieler erkennen können – egal, ob es sich um Innen- oder Außenaufnahmen handelt. Die Filmstudios Shanghais müssen kaum beheizt gewesen sein, und die fiktive Lungenentzündung bekommt einen ungewollten Rückhalt in der Realität. Wie macht sich das im Spiel bemerkbar, wenn man kurzärmelig entspannt im Wohnzimmer sitzen soll und der Körper tatsächlich vor Gänsehaut und Zähneklappern nicht weiß wohin? ++++ Screen Test Reel 20 (Warhol, 1964-1966): Allein der Name: Baby Jane Holzer! Und dann ihre 1964 wahrscheinlich schon weltbekannte Kaugummi-Nummer: Alles mit dem Mund! Die Packung in einer langsam kreisenden Bewegung aufreißen, den Kaugummi Stück für Stück rausziehen, das Silberpapier abstreifen, dann in kleinen Bissen rein damit. A Definition of Cool, if ever there was one. Überhaupt ist Reel 20 eine ziemliche Action-Reel: Lou Reed isst im Profil einen Apfel. Eine Strähne aus Nicos Pony hat sich in ihrer Wimper verfangen und versetzt beides in eine leichte Schwingung. Peter Orlovsky macht unangemessene Faxen. Eine Screen-Test-Lektion: Dass scheinbar nichts passiert, bedeutet zugleich, dass jederzeit alles passieren könnte. ++++ Screen Test Reel 19 (Warhol, 1964-1966): Das Filmmuseum, dessen Programmierung ohnehin den ein oder anderen neidischen Blick aus Berlin auf sich zieht, erlaubte sich und uns den extravaganten Luxus, am Sonntagnachmittag vier Stunden „Screen Tests“ zu zeigen. Wir kommen in der Mitte von Reel 19, sehen Taylor Mead, Susan Sontags Sonnenbrille, das Doppelporträt von Fagan/Malanga. Verfolgen eine Träne, die James Clair langsam die linke Wange herunterrollt. Sehen Ondine, der später dann in der letzten Rolle „Chelsea Girls“ austickt, und Ruth Ford. Ab und zu ist weiter vorne rechts das vertraute Husten von M.B. zu hören, der diesmal vorausschauend eine Stange Camel ohne nach Österreich importiert hat. ++++ Geminis (Carri, 2005): Warum sollte man heute noch eine Geschichte erzählen, die vor allem nach Dekadenz, 19. Jahrhundert und frühem Thomas Mann schmeckt? Das großbürgerliche Ambiente, der Inzest unter Zwillingen, die bewusstseinsverändernden Substanzen, die Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande. Als die Mutter die Geschwister nackt ineinander verknäult im Jugendzimmer-Bett erwischt, öffnet sie den Mund zu einem Schrei, der markerschütternd ist, obwohl die Regisseurin den Ton vollständig abdreht: Ein simples, aber wirkungsvolles Verfahren, um „Trauma“ zu sagen. Kann sein, dass das Setting von „Geminis“ in Argentinien nichts Anachronistisches hat, sondern etwas über ein 19. Jahrhundert erzählt, das dort auch im 21. den sozialen Raum definiert. ++++


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