Mittwoch, 08.07.2015

Made In Hell

Was Brighton Rock, das Buch, von Brighton Rock, den Verfilmungen (Boulting 1947; Joffe 2010), unterscheidet, ist nicht das Medium, sondern das Genre. Die Filme sind Krimis, Gangsterstücke, sie handeln von Gangs und ihren Taten. Graham Greene dagegen schrieb einen theologischen Roman; er handelt von einer marriage made in hell. Im Mittelpunkt der Filme steht Pinkie, der kindliche Mörder, im Mittelpunkt des Romans stehen Rose und Ida.
Rose ist, wie ihr Name schon sagt, Inkarnation Mariens (deren Sinnbild die Rose ist), einer der Verdammnis verfallenen Maria. Ida ist, wie ihr Name schon sagt, Personifikation von Arbeit und Tatkraft (althochdeutsch id), aber auch von wohlbeleibtem well-being; ihr Wahlspruch ist: „It’s a good world if you don’t weaken.“
Die Filme sind zynisch, Verbrechen geschehen ungehindert, Rettung kommt zufällig, wie ein Witz. Im Roman gibt es keine Rettung, aber eine seltsam jenseitige Welt, der Rose und sogar Pinkie angehören, und eine hiesige, die von Ida verteidigt wird, die zwar nicht mehr Gut und Böse unterscheiden kann, aber doch Richtig von Falsch, und Mord „wouldn’t be right“. Religion betreibt das Geschäft der Welt, die Welt das der Religion. Der von Ida vertretene Pragmatismus, der absolute Werte in relative Zwecke übersetzt, tut, ohne noch zu wissen, weshalb, das gute Werk, das nun so gut nicht mehr erscheint. Die von Rose verkörperte Liebe dagegen folgt der invertierten Jesusfigur, credo in unum Satanum, Pinkie, in die Hölle, und die befindet sich hienieden. Es ist eine unbedingte, nicht ganz einseitige Liebe zwischen unschuldiger Jungfrau und „cruel virginity“, die standesamtliche Trauung bloß der Tribut, der für diese Liebe entrichtet werden muss.
Was der Roman nicht einmal andeutet, muss der Film zeigen, der erste reflektiert sich dabei immerhin selbst. Frank, der Wäschereibesitzer, bei dem die Gangster untergekrochen sind, ist auch im Roman blind und muss sich von seiner Frau betrügen lassen. Im Film ist er darüber hinaus ein ohnmächtiger Zeuge, der den zweiten Mord hört, aber nicht sieht. Und auch beim ersten Mord ist ein Blinder zugegen. In einer Parodie auf die Divina Commedia lässt er sich von einem Mädchen in eine Geisterbahn führen, „Dante’s Inferno“. Als sie aussteigen, weint das Mädchen, er weiß nicht, warum.
Die erste Verfilmung von Brighton Rock bleibt nicht wegen ihres Zynismus, sondern Carol Marshs wegen in Erinnerung. Wer ihr geflüstertes „Yes, Pinkie“ gehört hat, wird es nicht mehr vergessen. Sie selbst hat den Film nie gesehen.

Montag, 06.07.2015

Liebe 47

Der Schauspieler Karl John war in den vierziger Jahren als Typ des kumpelhaften Draufgängers in den Propagandafilmen Karl Ritters („Stukas“, „U-Boote westwärts“ – beide 1940/41) bekannt geworden. In „Großstadtmelodie“ (1942/43), seinem letzten Film vor Kriegsende, spielte er neben Hilde Krahl einen flotten Bildjournalisten; Hilde Krahl, die Ehefrau des Regisseurs Wolfgang Liebeneiner, ist in „Großstadtmelodie“ eine moderne, junge Frau, die ihren Beruf und das Leben in der Großstadt liebt. John und Krahl unter der Regie von Liebeneiner, das war die Erinnerung an eine intakte Stadt, an das Glück des Alltags und an Hoffnung auf Zukunft. Manche Besucherin von „Liebe 47“ – die Reklame warb um das weibliche Publikum – wird auf diese Konstellation gesetzt haben.

Die Kinogängerin sah einen Glockenfriedhof mit Flusslandschaft, vor der eine desillusionierte Anna Gehrke (Hilde Krahl) und ein ganz und gar verlassener Fritz Beckmann (Karl John), beobachtet vom Tod (Albert Florath) und dem lieben Gott (Erich Ponto), über ihren Selbstmord sprechen. Beckmann ist erst wenige Tage aus dem Krieg zurück; er hat nichts und niemanden mehr, noch nicht einmal eine Unterkunft. Anna denkt praktisch; wer erst so wenige Tage im Elend ist, der darf nicht aufgeben. Beckmann kann ihre Wohnung haben, die sie nun nicht mehr braucht. So führt sie ihn zu sich nach Hause –„aber machen Sie sich keine falschen Hoffnungen“.

Beide erzählen einander ihr Leben; Anna von ihrer Ehe, von Enttäuschungen, zerstörten Illusionen, ihrem bitteren Lernprozess, „wie die Herren sich bezahlen lassen“ für Gefälligkeiten, Schutz und Unterkunft. Beckmanns Erzählung seines Kriegs- und Heimkehrer-Traumas zeigt mit einem Kabarettauftritt, Albtraumsequenzen und Allegorien nur Fragmente seiner Verstörung und Sinnsuche. Der Kameramann Franz Weihmayr und die Trickabteilung strengten sich mächtig an: Beine gehen übergroß auf einem Bürgersteig, der klein gebliebene Beckmann liegt im Rinnstein und fürchtet, von einem Besen in den Müll gekippt zu werden. Heute erinnert man sich an Bilder aus „The Incredible Shrinking Man“, aber der stammt aus dem Jahr 1957.

Vieles war anders, neu und leider einmalig in „Liebe 47“. Der Mann breitet sein Innenleben aus, die Frau ihre Erfahrungen mit der Außenwelt; sie reflektiert nüchtern ihre Situation, er findet aus dem Lamento seiner Schuldgefühle nicht heraus. Von statischen Theaterelementen wechselt der Film ins Kammerspiel, dann zur weitausholenden Montage retrospektiver Lebenserzählung, gelegentlich auch ins Kunstgewerbe und damit verbunden in den „Botschafts“-Modus, in dem nicht nur gezeigt, sondern auch erklärt wird, wie man das Gezeigte zu verstehen hat. Und dennoch: das war ein furioser Neuanfang für Liebeneiner, der heute – wenn überhaupt – nur durch „Ich klage an“ (1941) und eventuell „Die Trapp-Familie“ (1956) bekannt ist. Hilde Krahl bekam 1949 für ihre darstellerische Leistung einen Preis auf dem Filmfestival von Locarno. Zu Hilde Krahl siehe auch Rainer Knepperges Beitrag Etwas zum Staunen

Die literarische Vorlage für „Liebe 47“ war Wolfgang Borcherts Theaterstück „Draußen vor der Tür“, von Liebeneiner 1947 in Hamburg inszeniert; Hans Abich und Rolf Thiele produzierten den Film 1948 als ersten Spielfilm ihrer neugegründeten Firma „Filmaufbau“. Als er 1949 in die Kinos kam, liefen die Besucher scharenweise aus der Vorführung; einen „Film vom Neubeginn des Lebens  im dunklen Strom der Zeit“ (Werbung des Filmverleihs) wollte niemand mehr sehen, „der dunkle Strom“ war nach der Währungsreform dem hellen Zauber der Warenwelt gewichen, der Neubeginn sah anders aus als es der Film sich vorstellte. Der Verleiher versuchte es – vergebens – mit einer Version, in der die Beckmanns Traumsequenzen geschnitten waren.

„Was brauchen wir die Welt zu verändern?“, fragt Anna zum Ende des Films. „Fangen wir lieber bei uns selber an. Ich helfe Ihnen und Sie helfen mir.“ Das passte 1949 nicht mehr in die Zeit. Die fünfziger Jahre hatten bereits begonnen.

Mittwoch, 01.07.2015

Michael Pehlke in der ‚Filmkritik’

In der alten ‚Filmkritik’ (auf die sich die ‚newfilmkritik’ doch beruft) gibt es auch Texte, unter denen (oder über denen) weniger bekannte oder ganz unbekannte Namen stehen – also vergessene Namen, vergessene Texte.
Der Name Michael Pehlke (der als Dramaturg an verschiedenen grossen Theatern arbeitete und auch Regie führte) gehört in diesen Zusammenhang: grossartige Texte von einem, der kein Filmkritiker war – aber etwas vom Inszenieren verstand und immer ein gutes Stück Zeitdiagnostik ablieferte. Die bewährte sich vor allem bei seinen zwei langen Texten über die ‚Berlinale 1983. Atemnot. Deutsche Schauspieler’ und den ‚Notizen zu einigen Besonderheiten der Berlinale 1984’. (‚Filmkritik’ 5/1983 und 3-4/1984.) ‚Wäre tun so leicht als wissen, was zu tun ist …’ (‚Filmkritik’ 10/1983) geht über den Marcel Opuls Film Le Chagrin et la Pitié. Einiges in der Kolumne ‚Im Kino’: The Blade-Runner von Ridley Scott, Wolfen von Michael Wadleigh, Domino von Thomas Brasch, The Riffs von Enzo G. Castellari. Ein besonderes Vergnügen scheint für ihn gewesen zu sein, Die wilden Fünfziger seines Theaterkollegen Peter Zadek auseinanderzunehmen (‚Filmkritik’ 11/1983).
Mitarbeit auch bei Filmen von Günter Peter Straschek und Harun Farocki (Wie man sieht, 1986).
Michael Pehlke (7. März 1943 – 17. Mai 2015) ist letzten Freitag auf dem Friedhof Heerstrasse in Berlin-Westend die letzte Ehre erwiesen worden.

Samstag, 20.06.2015

Die ‚Rencontres Internationales’, dieses Jahr vom 23. – 28. Juni im Haus der Kulturen der Welt in Berlin, zeigen als ‚special screenings’ die neuen Filme von Jean-Marie Straub, Kommunisten (Mittwoch, 24.6., 19 Uhr), und von Claire Denis, Voilà l’enchaînement (Donnerstag, 25.6., 20 Uhr). Der Eintritt ist frei.
Das Interview mit Straub aus ‚Les Inrockuptibles’ (11.3.2015) ist in deutscher Übersetzung hier zu finden.
Im Juni 2015-Heft von ‚konkret’ ist gerade eine ausführliche Würdigung des Straub-Films von Stefan Ripplinger erschienen.

Freitag, 12.06.2015

Baillie on YouTube

Im Oktober letzten Jahres hat Bruce Baillie, inzwischen knapp 85 Jahre alt, begonnen, seine Filme bei YouTube zugänglich zu machen. Darunter neben QUIXOTE und den Kurzfilmen von Vol I. seiner DVD-Edition auch viel Unbekannteres (etwa LITTLE GIRL: „This film made in 1966, never released, recently restored by Academy Film Archives, Los Angeles.“)

Freitag, 05.06.2015

35/100

Die Geschichte vom kurzen Augenblick, in dem ich in einem Text über zwei New Yorker Celluloid-Retrospektiven statt „The DCP changeover“ „The DCP hangover“ las.

Etwas zum Staunen

die Mücke a

Als schwarze Silhouette schreitet die Hauptdarstellerin vom Dunkel ins Licht, hinein in den Filmtitel, zwischen die mannshohen Buchstaben. Dort wendet sie sich um, zieht an einer Zigarette und lässt den bodenlangen Mantel einen Spalt weit offen. Weiß leuchtet das enge Kleid. Dann die Pose, dann der Blick. So wie sie den Mantel öffnet, so auch die Augen, die Lippen, nur so weit es ihr gefällt.

die Mücke b
Die Mücke (1954 Walter Reisch)

Walter Reisch: „Her name is Hilde Krahl, a very good actress. I had guided her through her very first picture, Silhouetten, directed by me in Vienna. She called me one day wanting me to come and make a picture for her. Nothing could have pleased me more. I had about four months‘ leave of absence from Fox, and gave up a lot of money just to make a picture with her. I wrote and directed a picture for her called Die Mücke [Madame Mosquito, 1954]—that’s an insect, you know—the story of an aging spy à la Mademoiselle Docteur [Edmond T. Greville, 1937] who in today’s age of computers and electronic devices, when her beauty and her feminine charms can no longer beguile and deceive officers of the enemy’s army, has lost her job. A very good picture.“

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Als die Spionin zu Fuß unterwegs ist in den leeren Straßen von Bad Pyrmont, verfolgt von der Limousine eines Waffenhändlers, da fährt eine Dampflok aus einer Häuserecke und zwingt den Verfolger anzuhalten.

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Vom Waffenhändler bekommt die Spionin den Auftrag, herauszufinden, ob seine Frau (Margot Hielscher) ihm treu ist.

Wenn die beiden Frauen sich gemeinsam amüsieren, und über allem ein Geheimnis liegt, da, in der Mitte, gefällt mir der Film am besten. Ob zuletzt das Dunkle oder das Frivole siegt, ist nicht vorhersehbar. Doch Walter Reisch ist zu sehr Drehbuchautor. Mit Wendungen zügelt er die wilde Richtungslosigkeit seines Films.

die Mücke e

In einem Kino in Triest hat der Waffenhändler ein heimliches Geschäft abgeschlossen.
Dieser Böse, dargestellt von Gustav Knuth, könnte in Walter Reischs Film durchaus auch jenen schönen Satz sagen, der mir im neuen Film von Hakan Algül sehr gut gefiel: „Auch wir, die Bösen, auch wir lieben.“

(Pferde, Luxus und Gefahr. Auch das gibt’s in der türkischen Tierarztkomödie Niyazi Gül Dörtnala.)

die Mücke g

Dem Detektiv in Josephine Teys Kriminalroman „Wie ein Hauch im Wind“ ging 1950 etwas Hoffnungsvolles durch den Kopf. „Zumindest hatten sie Verstand, die heutigen Kinder. Das Kino sorgte dafür, nahm er an. Es waren immer die auf den billigen Plätzen – die Stammkunden -, die alles begriffen, während diejenigen auf den Balkonplätzen noch im Dunkeln tappten.“

Die BRD-Filme der vielgescholtenen 50er Jahre wurden unsinnigerweise Papas Kino genannt. Die vielen Frauenfilme von Alraune (1952 Rabenalt) bis Barbara (1961 Wisbar) waren Kino par excellence – sowohl Die Sünderin (1951 Forst) als auch Die Rote (1961 Käutner), all der Skandal und das Verruchte – es war Mamas Kino.

Die kurze Zeit, in der das deutsche Filmschaffen ohne staatlichen Auftrag war, zwischen Nürnberger Prozess und Oberhausener Manifest, diese Phase will rehabilitiert werden. „Ach rüttel mich, ach schüttel mich.“ Wer sich nicht fürchtet, es könne ihm ein Apfel auf den Kopf fallen, dem kann Die Mücke überzeugende, optische Argumente liefern. Auch dank des Kameramanns Kurt Hasse, in dessen Filmografie sich erstaunliche vier (!) SGE-Kanon-Filme befinden: Himmel ohne Sterne (1955 Helmut Käutner), Mein Vater, der Schauspieler (1956 Robert Siodmak), Raubfischer in Hellas (1959 Horst Hächler), Stadt ohne Mitleid (1961 Gottfried Reinhardt).
Da sind außerdem die Titel von drei Barbara-Rütting-Filmen: Liebe, wie die Frau sie wünscht; Alle Sünden dieser Erde; Ich war ihm hörig. Und dann die ersten fünf Filme von Alfred Vohrer: Schmutziger Engel, Meine 99 Bräute, Verbrechen nach Schulschluss, Mit 17 weint man nicht, Bis dass das Geld Euch scheidet… In den Titeln steckt das volle Programm: Mamas Kino, von dem der Junge Deutsche Film sich losreißen wollte. Um was zu werden. Was? Literaturverfilmung. Fernsehen. Patriarchat.
Kurt Hasse war übrigens auch Kameramann bei der Raumpatrouille (1965).

tol'able time tunnel

„Ein gigantisches schwarzweißes spiralenförmiges Ding, dessen Ausmaße schlicht unfassbar sind,“ sollte ich noch nachliefern. Claudia Basrawi hat mich gebeten, ihre Vision vom zweiten Teil der Quereinsteigerinnen nicht zu verfilmen, sondern stattdessen mit ein paar Bildmontagen zu illustrieren. Besonders lag ihr der „Fassjunge“ am Herzen.

Noch eine Empfehlung. Neu im Kino: Melissa McCarthy, Miranda Hart und Rose Byrne in Spy (2015 Paul Feig). Etwas zum Lachen. Eine Action-Komödie für die Stammkunden. Ein makelloser Film.

Dienstag, 26.05.2015

Begegnung mit dem Tod XY

Vor kurzem habe ich „Eine Taube sitzt auf einem Ast und denkt über das Leben nach“ von Roy Andersson gesehen. Darin gibt es eine Szene, die mich seither verfolgt, mehrmals am Tag muss ich daran denken. Und jedes Mal wird die Empörung größer. Ich möchte hier in die Cineastengemeinde hineinfragen, wie es Anderen mit dieser Szene geht?!?

Der Film rankt lose Episoden um zwei Protagonisten, erfolglose Handelsvertreter für unoriginelle Scherzartikel, die wie auch die meisten weiteren Akteure eher unattraktive Durchschnittsmenschen darstellen. Die Welt wurde nachgebaut und in entsättigte Farben getaucht, zur Theaterbühne gemacht. Es ist eine perspektivlose Welt, die Menschen sind desillusioniert, uninspiriert und hängen besseren Erinnerungen hinterher, von einem lebendigeren Leben. Die reduzierte Narration bietet eine naiv-lakonische Komik, die wohl zünden mag, wenn man viel hinzuphilosophiert. Vordergründig klingt alles schrecklich banal. Ich muss den Grundton des Films schildern, um die Besonderheit der bewussten Szene verständlich zu machen. (Außer ihr gibt es zwei weitere Szenen, die aus dem Rahmen fallen, die ich hier nicht weiter verhandeln möchte – eine historische Episode über den Krieg und eine in einem Affenversuchslabor.)
Also, die Szene spielt in der Kolonialzeit. In eine riesige, scheinbar liegende Kupfertonne, an der Seite ist eine offenstehende Tür, wird eine Gruppe von angeketteten Sklaven geführt, unter Bewachung von Soldaten und Peitschenhieben. Eine Frau mit Kind auf dem Rücken bricht jammernd kurz vor der Tür zusammen, wird trotzdem hineingezwungen. Die Tür wird verschlossen. Eine Fackel wird angezündet, diese unter die Tonne gehalten und man gewahrt, dass die Tonne wohl über einem mit Treibstoff gefüllten Becken hängt, der in Flammen aufgeht. Die Tonne ist gespickt mit verschieden großen Trichtern, wie von altmodischen Hupen oder Megaphonen. Als das Feuer eine Weile brennt, beginnt es aus dem Innern zu rumoren und die Tonne zu rotieren. Ein seltsamer Singsang ertönt. Vage kann man das Trappeln der verzweifelten Menschen in der Tonne durchhören, aber die „Musik“ bleibt doch sehr abstrakt, ein undefinierbarer Klang. Auf der Tonne steht der Name des (bekannten schwedischen Kupfer-) Herstellers ‚Boliden‘. Nach geraumer Zeit erfolgt ein Schnitt auf eine Fensterfront, in welcher sich die Tonne spiegelt. Die Fenster werden aufgeschoben und eine Gruppe von greisen Honoratioren und Damen, in Frack und Ornat und Abendkleidern tritt bedächtig, etwas wackelig auf den Beinen, heraus auf die Terrasse, ergriffen lauschend.
Boliden ist u.a. bekannt durch einen Skandal in Andalusien, wo nach einem Dammbruch giftiger Abraumschlamm einer Kupfermine in einen Fluss gelangte, woraufhin viele Anwohner erkrankten und starben.
Natürlich geht es auch sonst im Film um Fragen, was der Mensch dem Menschen antut, Machtstrukturen, Hierarchien, Ausbeutungsverhältnisse… Aber da bleibt es meist in einem alltäglichen Rahmen. Der Kupfermenschenkochkessel als Musikwalze ragt als Solitär heraus. Ein Bild entsetzlicher Folter als Genuss für eine überalterte dekadente Herrscherklasse.
Wer hat den Film gesehen? Wer hat dazu eine Meinung?

Eine der wenigen Kritiken, die überhaupt diese Szene behandeln:

„Endgültig absurd wird es am Ende nach dem letzten Zwischen­titel: »Homo sapiens«. Ein Affe im Versuchs­labor, auf scho­ckie­rende Weise fest­ge­kettet und sein Kopf einge­spannt, der Schädel aufgesägt und verdrahtet. Ihm werden bei leben­digem Leib Strom­stöße versetzt, während die Labo­rantin neben ihm – hässlich, dick, im Kittel, wie fast alle Menschen in diesem Film hässlich, dick und unvor­teil­haft gekleidet sind – während diese Labo­rantin also ungerührt tele­fo­niert. Das ist natürlich billigste Denun­zia­tion von Wissen­schaft, so billig, dass es den Zuschauer beleidigt zurück­lässt, aber trotzdem ein hoch­gradig eindrucks­volles, dabei seltsam schönes Bild.
Ebenso das Nächste: Ein Dutzend halb­nackte Schwarze, offenbar afri­ka­ni­sche Einge­bo­rene in tradi­tio­neller Kleidung, ange­kettet zum Teil mit Halseisen – »wie der Affe« kommt einem unwill­kür­lich in den Sinn, soll es wohl auch, obwohl und weil diese Asso­zia­tion rassis­tisch ist. Sie werden von Weißen im Tropen­kostüm des frühen im 20. Jahr­hun­derts mit Peitschen in einen Metall­kessel getrieben, der wird erhitzt und beginnt sich zu drehen, womöglich von innen im Über­le­bens­kampf ange­trieben. Es folgt ein 180-Grad-Schwenk auf eine Party-Gesell­schaft aus lauter reichen Alten, die sich das Spektakel angucken. Auch das denun­ziert überaus billig und viel zu einfach west­li­chen Kolo­nia­lismus, ist aber gut abzusehen und als Bild für sich stark.“ (Rüdiger Suchsland, http://www.artechock.de/film/text/kritik/t/tasiau.htm)

Roy Andersson in einem Interview:
„Heutzutage muss man zuerst an sich selbst denken und seinen eigenen Gewinn maximieren, indem man andere übervorteilt. Ich will gar nicht über die schrecklichen Folgen dieses Verhaltens nachdenken. Es ist eine Katastrophe, ein Irrsinn, der den jungen Leuten den Glauben an das Gute austreiben wird.
Ich hasse Erniedrigung, andere Menschen erniedrigt zu sehen und selbst erniedrigt zu werden. All meine Filme drehen sich irgendwie um Erniedrigung. Ich komme aus der Arbeiterklasse und habe gesehen, wie sich Verwandte vor ihren Vorgesetzen selbst erniedrigen, einen übertriebenen Respekt für Autorität zeigen, der ihnen unmöglich macht, ihre Meinung zu sagen und ihnen nur Schuldgefühle lässt. Das habe ich mein ganzes Leben lang erlebt, und ich habe beschlossen, dagegen zu kämpfen“ (….)
„eine präzise arrangierte Szene, in der ein schreckliches Verbrechen in einen fiktiven historischen Kontext gestellt wird. In der Kombination von Grausamkeit und Schönheit ist das fast eine Provokation. Ich beziehe mich auf die Massenvernichtungsszene gegen Ende des Films. Britische Kolonialisten treiben Sklaven in einen Kupferzylinder, und aus den letzten Schreien der Opfer entsteht eine langsame, wundervolle Musik.
Für einen Künstler ist es wichtig, sogar notwendig, vorgefasste Meinungen durcheinanderzuwirbeln, daran zu rütteln, dem Gefühl von Schuld in der Welt etwas hinzuzufügen. Wir sollten uns immer noch schämen. Ich habe diese Szene seit 50 Jahren in meinem Kopf, und es befinden sich darin jede Menge historische Anknüpfungspunkte. Ich bin sehr glücklich, dass sie mir ohne Unterwürfigkeit oder Sentimentalität gelungen ist. „

Donnerstag, 14.05.2015

Kinohinweis (Hamburg)

Kinelab Spezial zeigt

Werner Nekes und K Wyborny im Metropolis Kino Hamburg – Freitag 15. Mai 2015 19 Uhr

Im Sommer 1968 eröffneten Werner Nekes und Klaus Wyborny in einem Keller in der Hamburger Brüderstraße mit Matratzen und Bänken ein legendär gewordenes improvisiertes Kino. Einen Sommer lang wird es zum bestens besuchten Projektionsort der besonderen Art, an dem sie grad frisch von ihnen gedrehte Filme vorführen, die vielleicht „zum ersten Mal wieder eine gewisse Originalität in den deutschen Film seit 33 brachten.“ Das Metropolis zeigt ab 19 Uhr in zwei aufeinanderfolgenden Programmen eine authentische Auswahl der 1968 tatsächlich einmal dort gezeigten Filme.

Zu Gast: Klaus Wyborny & Werner Nekes
Moderation: Anja Ellenberger

***

Programm 1 (19 Uhr): A Crowd in the Face (Wyborny Mai 1968, 8’); Schnitte für ABABA (Nekes 1967, 14’); Start (Nekes 1966, 10’); Put-Putt (Nekes 1967, 10’); Home Sweet Home (Wyborny Mai 1968, 12’); Fehlstart (Nekes 1966, 15’); Im KZ (Wyborny Mai 1968, 8’); Jüm-Jüm (Nekes & Dore O, 1967, 10’)

Programm 2 (21 Uhr): Auf zu den Sternen (Wyborny Juni 1968, 15’); Artikel (Nekes 1966, 10’); Drei Tage mit Janine, 3 Tage mit John (Wyborny Juni 1968, 15’); gurtrug 1 (Nekes 1967, 12’); Thorium 232 (Wyborny Juli 1968, 17’); Zipzibbelip (Nekes 1968, 11’)

Darüber hinaus sind im Metropolis Café, unter dem Titel „Poor Little Europe“, beginnend mit ebenfalls dem 15. 5., permanent drei sogenannte „Pazifische Installationen“ von K. Wyborny zu sehen (mit Tilda Swinton und Hanns Zischler).

Metropolis Kino Hamburg, Kleine Theaterstraße 10

Freitag, 01.05.2015

Karten, Pläne (V)

casablanca
Casablanca (1942 Michael Curtiz)

Der Relief-Globus dreht sich, während die Erzählerstimme beginnt, den Weg zu beschreiben, der mit dem Ziel Amerika nach langem Umweg unterbrochen wird in Casablanca. Wo die Flüchtenden gezwungen sind zu warten…

1944 A-Canterbury-Tale
A Canterbury Tale (1944 Powell & Pressburger)

Die Unterbrechung der vorgesteckten Route ist ein Erzählprinzip. Selten oder nie wurde es so überschwänglich umarmt wie in A Canterbury Tale. Der Wegstopp wird hier, im klaren Bewusstsein des Krieges, zur hellen Erscheinung des Friedens.

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MOVIE MAKERS, August 1947

Atomium Foto Rainer Knepperges
Vesuv im Mini-Europa-Park, vor Atomium (1958) in Brüssel

1960 - The Story of Ruth - Henry Koster
The Story of Ruth (1960 Henry Koster)

Auf meiner Liste jener Regisseure, die von der Filmgeschichtsschreibung ungerecht behandelt wurden, hat Henry Koster den Platz Nummer Eins. Seine Filme, einst Teil meiner Kindheit, verwandeln sich beim Wiedersehen in Rätsel. Der Weihnachtsfilm The Bishop’s Wife zum Beispiel – kein Krippenspiel, sondern ein Satyrspiel, mit Cary Grant – lässt mich fragen: Gibt es noch andere Filme, die so enden, dass einer aus dem Gedächtnis aller komplett verschwindet? Koster war so entschieden individualistisch, dass er vollständig aufgehen konnte in Hollywood. Sein Werk hat, wovon Lang oder Wilder nicht mal träumen konnten: aufrechte Ausgelassenheit und dyonisische Würde. It Started with Eve (1941), The Bishop’s Wife (1947), The Luck of the Irish (1948), Harvey (1950), No Highway in the Sky (1951), My Cousin Rachel (1952), The Story of Ruth (1960), Mr. Hobbs Takes a Vacation (1962). Ich ärgere mich so sehr, dass ich im März, als The Robe (1953) im Düsseldorfer Metropol gezeigt wurde, diese winzige Reise aus Trägheit nicht antrat.

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Pat Dzejachok, „Miss Century 21“, erklärt auf der Weltausstellung in Seattle 1962, wie das Mobil Driver Game vonstattengeht.

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links: Cover der Zeitschrift „Gebrauchsgraphik“, Juni 1961, Erik Nitsche; rechts: Weltausstellungsplakat mit Space Needle (1962), gemalt von Harry Bonath

Unter Dir der Himmel (Hermann Stöss, 1965)
Unter Dir der Himmel (1965 Hermann Stöss)

Ein Bundeswehrfilm-Gedicht/Essay mit Musik von Oskar Sala.
Dazu bald mehr im neuen Sigi-Götz-Entertainment.

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La Sirène du Mississippi (1969 François Truffaut)

Ein Mann aus dem Süden, eine Frau aus dem Norden…

Dracula 1992
Dracula (1992 Francis Ford Coppola)

Eine Frau aus dem Westen, ein Mann aus dem Osten…

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The Muppets - travel by map b

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The Muppets - travel by map d

The Muppets - travel by map e
travel by map The Muppets (2011 James Bobin)

Das Arsenal zeigt in seiner Magical History Tour – Kino im Plural: „Filme, die das kollektive Arbeiten sichtbar und zu ihrem Thema machen“.
Heute, am 1. Mai, Casablanca und morgen, am 2. Mai, um 20 Uhr Die Quereinsteigerinnen.

2010, Ingrid Bergman, Mülheimer-Freiheit, Foto Rainer Knepperges
Ingrid Bergman, Kirmesbude, Mülheimer Freiheit


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