Freitag, 26.11.2021
Sonntag, 07.11.2021
Mein Dank an Johannes
– von Manfred Bauschulte –
Meinen Beruf als Leser habe ich früh erkannt und reklamiert. Heute weiß ich ungefähr, was er bedeutet: er führt vom Abtasten der Augen beim Sehen (im Buch wie im Kino) zum Schreiben mit der Hand auf dem Papier. Es faszinieren mich Bücher, die es erlauben mit dem Reflexions- und Vorstellungsvermögen diesen Tastvorgang (des Sehens) zu begleiten, um ein kleines Stück Welt oder Wirklichkeit zu erfassen. Eins der Bücher, das mir das in jungen Jahren schon gestattete, habe ich in diesem Blog einmal gestreift: Antonin Artaud, Heliogabal oder der Anarchist auf dem Thron. Aus dem Französischen von Brigitte Weidmann mit einem Nachwort von Frieda Grafe. München 1972 (Bibliotheca Erotica et Curiosa).
Ein weiteres exemplarisches Buch im gleichen Format will ich genau vierzig Jahre nach seinem Erscheinen hier vorstellen und entsprechend würdigen:
Ludwig Hohl. Herausgegeben von Johannes Beringer. Frankfurt/M. 1981 (Suhrkamp Taschenbuch Materialien).
In den 1970er Jahre habe ich viele Leseversuche mit Büchern von Ludwig Hohl unternommen, in der Stadtbücherei Ibbenbüren die Erzählbände „Nächtlicher Weg“ und „Bergfahrt“ ausgeliehen, „Nuancen und Details“ im Ramsch gekauft. Es gab sie im handlichen Format der Bibliothek Suhrkamp. Der Schriftsteller Hohl war, blieb, ein Rätsel: Ist die „Bergfahrt“ eine Parabel, worin der Aufstieg wie der Abstieg zum Absturz führen? Was intendieren die Reflexionen über „Arbeit“ und „Arbeiten“? Was will der Satz „Dass fast alles anders ist“ sagen? Genau besehen wirkt er noch rätselhafter: „Dass fast alles anders ist… fast alles anders, als fast alle Menschen, fast immer, es sich vorstellen“. Bei Erscheinen trugen „Die Notizen“ (1980) diesen merkwürdigen Zusatz als Untertitel: „Von der unvoreiligen Versöhnung“.
Ende 1981 bin ich ich auf den besagten Materialienband gestoßen. Im ersten Teil versammelt er chronologisch 25 Rezensionen über das Werk von 1939 bis 1980, von Albin Zollinger bis Nicolas Born. Ich zitiere aus einem Essay des Schweizer Filmemachers Alexander J. Seiler (1928-2018) über die „unvoreilige Versöhnung“, was mir sofort eingeleuchtet hat: „Was kann der Mensch tun an der eigenen Stelle, er, dessen Mittel bescheiden, klein, scheinbar nichtig sind? Er, der Machtlose? Eben dies: keine Macht wollen, sondern Wert; mehr Leben wollen nicht als Quantität, sondern „Qualität“. „Das Unvoreilige der Versöhnung“ bestünde demnach darin im Kleinsten noch den Wert (die Qualität des eigenen Lebens) unbedingt einsetzen zu wollen. Das erlaubt Seiler von der „gigantischen Kleinheit“ der „Notizen“ zu sprechen.
Der Materialienband enthält ferner die erschütternde Chronik „Würde und Unwürde der Armut“ von Traugott Vogel, ein Bericht über die Jahrzehnte lange materielle Notlage des Schriftstellers Hohl. Er endet mit einer überraschenden Wendung über den Zusammenhang von „schöpferischer Not“ und „Glück“: „Aber das Glück ist nicht da, wo man es gewöhnlicher Weise vermutet: Zu sehen, wie, in allen Verhältnissen, der Geist von den Dingen sich scheidet, das ist das Glück“. Ein Autor wie Traugott Vogel (1894-1975) hat über die Grenzen der Schweiz hinaus wenig Beachtung gefunden. In diesem Band erhält er eine authentische Stimme ebenso der originelle, früh verstorbene Liedermacher Mani Matter (1936-1972). Auszüge aus den „Sudelheften“, die er bis zu seinem Unfalltod führte, lassen einen irriert staunend zurück: „Ich befinde mich im Zustand der Verpuppung und warte, dass der Schmetterling endlich aus mir herauskommt. Und wenn er nicht kommt? Hohl zitiert einen Satz der Katherine Mansfield, an den ich sehr oft denke: ‚Sometimes I feel that it is dangerous to wait for things‘. Der Satz macht mir Angst“.
Bei dem Satz der Mansfield geht es auch mir bis heute so, denn er zielt auf das bedrohliche Potential des Wartens (– auf das Ungewisse, den Tod?). Daran kann ich jetzt mit dem ungewöhnlichen Nachwort des Herausgebers anschließen. Wie das Nachwort von Frieda Grafe zu Artauds „Heliogabal“ den Pubertierenden (1972) hat dieses Nachwort (1981) den 20-Jährigen unvorbereitet getroffen. Ich will den Beginn im vollen Wortlaut wiedergeben:
„Ludwig Hohl ist am 3. November gestorben. – In seiner Wohnung an der Erstellung der Bibliographie weiterarbeitend, hatte ich oft, tagtraumhaft, den Eindruck, in sein Leben zu blicken, ihn bei der Arbeit zu sehen. Das, was in seinen letzten Monaten, vielleicht sogar intensiver als früher, volle Wahrnehmung der abnehmenden Physis, Auseinandersetzung mit dem körperlichen Leiden war, schien über den Einschnitt durch den Tod hinaus zu wirken. ‚Leben ist Arbeiten‘. Das hat auch da noch gegolten und es hatte zuletzt Geltung im Annehmen des Unausweichlichen. – Vom Arbeiten überhaupt. Dem Stück dieses Titels – ihm voran steht Vom Schreib-Arbeiten – habe ich den zitierten Satz entnommen. Hohls Gleichsetzung von Leben und Arbeit durchsetzt das Mißverständnis des allgeminen Begriffs: sie schließt in sich ein die Abrechnung mit dem Tod. Ich gebe den Satz im Zusammenhang des Schluß-Abschnitts wieder: ‚Nur im Willen zur Verwandlung ist das Leben. (Leben ist Arbeiten. Arbeiten ist ein Inneres in ein Außen bringen. Dieses Innere verwandelt notwendigerweise immer dieses Außen). Das Leben will Verwandlung und wird das Beharren der wichtigsten Dinge erreichen. Der Tod will das Beharren und wird die Verwesung erreichen‘ (Nuancen und Details, II,31).
Wie einer sein Leben wahrnimmt, wie er es wahrmacht, also erst lebt – sein bewußtes Sein -, wirkt über den Tod hinaus. Hohls Arbeit wird – nachdem er sein Leben bestanden hat – als sein Lebendig-Bleibendes weiterbestehen“.
Das Nachwort über Ludwig Hohl wurde von einem Herausgeber verfasst, von dem ich erst viel später erfahren habe, dass er als Cinephiler in der Tradition der französischen Filmkritiker André Bazin und Serge Daney steht. In diesem Zusammenhang will ich ihn noch einmal zu Wort kommen lassen:
„Kinoliebhaberei, sagt Daney, sei eine bestimmte Haltung und Sicht der Welt, bei der der Film zu einem fast persönlichen Gegenüber werde – da könne man hineinblicken wie in einen Spiegel und wie beim Bildnis des Dorian Gray erleben, dass man zusammen altere. Ein Cinephiler sei nicht einer, der bestimmte Verhaltensweise kopiere, die er auf der Leinwand gesehen habe, sondern einer der – viel bescheidener und viel stolzer – verlange, dass die Filme als Filme dauerten“.
Mit dieser Collage meiner Lese-Erinnerungen wollte ich auf schlichte Weise demonstrieren, wie in Bücher (und Filme) eine erfahrbare Dauer eingetragen ist, – und meinen Dank an Johannes Beringer für Anregungen, Briefe und Gespräche abstatten.
Köln, Rheinufer im Oktober 2021
Samstag, 16.10.2021
Donnerstag, 16.09.2021
Montag, 30.08.2021
Filme der Fünfziger LVIII: Ihre große Prüfung 1954. Regie: Rudolf Jugert
Jede Zeit hat ihre eigenen Probleme mit der nachwachsenden jungen Generation; in den 1950ern gab es das Phänomen der Halbstarken, das durch Rock-Musik, Mopeds und Boogie-Woogie klassifiziert und definiert wurde. Das Kino thematisierte die Halbstarken zunächst in Good-Will-Filmen, in denen an die Vernunft der Erwachsenen wie an die Einsicht der Jugendlichen appelliert wurde. Einer der frühen Filme dieser Reihe ist Ihre große Prüfung, wobei mit „Ihre“ nicht etwa eine Gruppe von Menschen resp. Jugendlichen gemeint ist, sondern die Lehrerin Helma Krauss, die an der Schule einer ihr fremden Stadt eine Oberprima übernommen hat. Luise Ullrich hatte in den Nachkriegsfilmen die Figur der patenten, lebenspraktischen und auch erotisch nicht unerfahrenen Frau entwickelt; in Vergiss die Liebe nicht (1953), Regina Amstetten (1953) und Eine Frau von heute (1954) verkörpert sie Frauen, die sich im Leben gut ohne und gelegentlich auch gegen Männer behaupten können. Ihre große Prüfung ist zwar 1954 gedreht, das Drehbuch ist aber noch ganz dem Geist des Jahres 1950 verhaftet. Unter den Schülern der Oberprima gibt es den verwaisten Jugendlichen Bruck (Paul Bösiger), der in einem Heim wohnt und mit dem Klassenlehrer so aneinandergeraten war, dass dieser an einer Herzattacke starb. Eine Schülerin stammt, an ihrer Aussprache klar erkennbar, aus dem Osten und wohnt mit ihrer Mutter in prekären Verhältnissen. Und die Lehrerin Helma Krauss befindet sich, so der Tierarzt Dr. Clausen (Hans Söhnker), im „Paragraphengestrüpp der Zölibatsverpflichtung“ – bis 1951 durften Frauen nur dann den Lehrberuf ausüben, wenn sie unverheiratet waren.
An der Schule gibt es gravierende Spannungen; der Schüler Bruck weigert sich, den Grund der Auseinandersetzung mit dem früheren Klassenlehrer zu offenbaren, der Lehrer Dr. Rottach (Ernst Schröder) plädiert für seine Relegation. Helma Krauss und der Schuldirektor sehen dafür aber keine juristische Handhabe. Helma Krauss wird Klassenlehrerin der Oberprima, aber die Klasse fürchtet, dass Dr. Rottach, der
eigentlich damit gerechnet hatte, Klassenlehrer der Oberprima zu werden, die Schüler aus Rache durchs Abitur fallen lassen wird. Dr. Rottach ist ein intelligenter, vor Ehrgeiz schwitzender Lateinlehrer, der die Klasse schon mal aus Bosheit minutenlang das Aufstehen und Setzen üben lässt. Helma Krauss behandelt im Unterricht auch Sartre, Dr. Rottach konfisziert ein Sartre Buch bei einer Schülerin („Ich habe meine Gründe“.) Helma Krauss wird im Kollegium wegen ihrer verständnisvollen Art zunehmend angefeindet und gibt ein Versprechen ab: sollte ein Schüler ihrer Klasse das Abitur nicht bestehen, wird sie die Schule verlassen. Der Weg zur Abiturprüfung ist also wie ein Showdown, der Lehrerin geht es nun darum, das Vertrauen der Schüler zu gewinnen und sie zum Lernen zu motivieren. Das gelingt ihr, weil sie vor allem keine Scheu davor hat, soziale Klassenzugehörigkeiten zu überspringen und jugendliche Frechheiten großzügig zu thematisieren und in die Schranken zu weisen. Es geht um Übergriffigkeiten beider Seiten, der Alten wie der Jungen, und um die Bequemlichkeiten des Einrichtens in Selbstgerechtigkeit und Selbstmitleid.
Anders als in späteren Jugendfilmen spielen Kriminalität und explizite Feindschaft keine Rolle; Regisseur Jugert zeigt stattdessen eine Typologie der Kleinstadthonoratioren, die in ihrer geballten Einfalt durchaus auch gefährlich werden können. Auffällig ist das Fehlen der Kirche als sittlicher Autorität – ihr wurde in dieser Funktion schon keine Glaubwürdigkeit mehr zugetraut. Es werden neue Topoi eingeführt, die in Filmen späterer
Jahre wieder auftauchen. Das Hallenbad ist der Treffpunkt der Jugend und der alleinstehende, liberal gesinnte Tierarzt eine gute Partie für eine alleinstehende Frau. Karin Dor als Tochter des Tierarztes und Paul Bösiger als Schüler Bruck sind zwei relativ neue, junge Charaktere im deutschen Film; Rudolf Jugert hatte sich bei allen Erfolgen mit Schmachtfetzen wie Ein Herz spielt falsch (1953) einen Sinn für eine realitätsnahe und typensichere Inszenierung des Kleinstadtlebens bewahrt. Es ist noch die Zeit, da Jean Paul Sartre als Phänomen zwar diskutiert wird, aber als Abiturstoff die klassisch-romantischen Epigonen (Paul Heyse, Felix Dahn, Martin Greif) abgefragt werden. Richard Dehmel gibt mit dem Satz „Ein bißchen Güte von Mensch zu Mensch ist mehr wert als alle Liebe zur Menschheit“ den Tenor der Abituransprache des Direktors vor.
Die Prüfung ist bestanden. Es hätte schlimmer kommen können.
Montag, 23.08.2021
Über Deutschland
Essayistischer Dokumentarfilm nach dem Text „Über Deutschland – О Германии“ von Marina Zwetajewa
Regie: Bernhard Sallmann
Deutschland 2021, 80 min, deutsche Originalfassung (nach Bedarf mit russischen UT!!!)
„Die 17jährige Russin Marina Zwetajewa verbringt den Sommer 1910 im Sanatoriumsort Loschwitz bei Dresden. Im Russland des Kriegskommunismus erinnert sie 1919 diese Zeit und überblendet sie in ihrem Text ‚Über Deutschland’ mit einem Lobpreis der deutschen Kultur. Sie ist auf dem Sprung, eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts zu werden. Der Film denkt mit Zwetajewas Text als Hauptstimme Varianten von und über Deutschland.“
31.8.2021, 20 Uhr 30: Deutschland-Premiere im Kino Krokodil in Anwesenheit des Regisseurs.
Ab Donnerstag, 2.9., zeigt das Kino Krokodil, Greifenhagener Str. 32, 10437 Berlin (Tel. 44049298, ab 19 Uhr), den Film regulär. Auch am 26.9. gibt es als Begleitprogramm zur Deutschland-Wahl eine Vorführung. kinokrokodil@email.de www.kino-krokodil.de
Das FSK am Oranienplatz, Segitzdamm 2, 10969 Berlin-Kreuzberg (Tel. 030 6142464) zeigt den Film am 4.9. (in Anwesenheit von Bernhard Sallmann) und Sonntag, 5.9. www.fsk-kino.peripherfilm.de
Das ACUD-Kino, Veteranenstr. 21, 10119 Berlin-Mitte, zeigt den Film ab Donnerstag, 9.9. (Tel. 030 44359498). Am 14.9., 19 Uhr, ist der Regisseur anwesend. www.acudkino.de
Siehe auch: www.ostwärts-film.de
Sonntag, 15.08.2021
Samstag, 31.07.2021
Sonntag, 27.06.2021
Frederic Rzewski, 1938 – 2021
Gestern, erfahre ich von Stefan Ripplinger, ist Frederic Rzewski gestorben. Wir sahen und hörten ihn im Frühjahr 2019 im Haus der Berliner Festspiele. Er spielte The People United Will Never Be Defeated. 36 Variationen über „El pueblo unido jamás será vencido“ für Klavier (1975), seinen Kommentar zur Zweihundertjahrfeier der USA – raumgreifend, kämpferisch, widerständig auch gegenüber dem aufdringlichen Gebläse der Saallüftung.
Gerd Conradt hat 1966 den Film Frederic Rzewski isst Spaghetti bei Carlone Via della Luce 5 gedreht und Rzewski in den folgenden Jahren und Jahrzehnten immer wieder getroffen und gefilmt.
Turn your Eyes to the Present von 2015 ist hier auf Conradts YouTube-Kanal zu sehen.
Ebenfalls auf dem Kanal (hier): ein Gespräch zwischen Conradt und Rzewski aus dem Jahr 2020.