Donnerstag, 02.02.2012


Zeile 6: „Hierbei“, lies „Hierher“
[23. September 1979]

Mittwoch, 01.02.2012

Bresson forever

 

 

 

 

 

 

 

 

Balthazar und die beiden Männer erreichen eine Hügelkuppe, bleiben stehen, hören Stimmen, dann Warnrufe: “Stehenbleiben! Zoll!” Die Männer kehren schnell um und laufen zurück den Hang hinunter. Balthazar steht wie angewurzelt. Er schaut und horcht, nah sein Kopf, die großen Augen. Mehrere Schüsse fallen. Bei einem zuckt er zusammen, läuft los, auch den Hang hinunter. Später, die Sonne ist aufgegangen, steht er reglos in einem Unterholz, trabt langsam heraus, man sieht die Wunde an seinem rechten Vorderschenkel. Er trabt über steinige Bergwiesen, das erste Mal im Film eröffnet sich eine weite Landschaft. Das erste Mal im Film ist der Esel allein, ohne den Menschen, der ihn ankettet, tritt, prügelt. Er bleibt stehen, wirkt verloren, aber auch frei. Ein idyllisches Bild. Seine Ohren lauschen in den Wind. Entfernte Glöckchen werden hörbar. Weiter unten am Hang trippeln Schafe hinter Gebüsch hervor, von den Hunden bellend dirigiert. In der nächsten Aufnahme sind im Vordergrund Schafe und verhüllen den nun halb liegenden Balthazar. Er befindet sich inmitten einer Herde, einige Schafe beschnuppern ihn, ziehen weiter, der Kreis um ihn öffnet sich wieder. Die Hunde treiben die Schafe weiter. Unablässig läuten die Glöckchen. Dazu die Schubert-Sonate. Balthazar liegt ausgestreckt und stirbt.

Zum soundsovielten Mal kommen mir die Tränen mit den Schafen. Es ist der Tod, wie im Himmel. Erst mit den wuscheligen Lämmern nimmt die Trauer ihren Lauf. Das Handeln der Menschen in diesem Dorf zu sortieren, kommt später.

Als einziger Film Bressons zeigt dieser einen kompletten ‘Lauf des Schicksals’ – das gesamte Leben Balthazars. Das macht ihn fast lehrfilmhaft, die Kette der Stationen spult sich ab, in unabwendbarer Eigendynamik.
Warum ist Gérard von Anfang an so böse? Warum reizt Marie von Anfang an seine Verwegenheit, warum will sie weg aus dem Dorf? Warum ist der Vater so stolz und stur? Warum trinkt Arnold? Warum ist der Händler geizig? Alle Todsünden sind vertreten. Materielles Denken, Egoismus, Mißachtung von Nächstenliebe und Gemeinsinn sind die gemeinsamen Nenner. Auch die Bäckersfrau behandelt Gérard nur gut, weil sie sich einen Sohn wünscht. Und hofft, ihn mit Geschenken zu gewinnen. Die Menschen behandeln sich untereinander nicht anders als den Esel. Hierarchien und Standesunterschiede, das Streben nach materiellen Gütern und seine Konsequenzen, bilden die unüberwindlichen Barrieren zu einem besseren Leben. Ein Esel ist nur das Vehikel im Stall.

Indem Bresson nicht erklärt und deutet, sondern konkrete Abläufe zeigt, muss der Zuschauer seine eigenen Urteile fällen. Das gezeigte Universum läßt wenig Hoffnung auf das Gute im Menschen. Aber in den Bildern, den Gesichtern, Handlungen leuchten auch immer wieder ganz konkret Unschuld, Schönheit, Mut, Mitempfinden, Unsicherheit… Es überträgt sich ein Impuls der Empörung auf den Zuschauer und diesen will der Regisseur erreichen. Und dazu hat er seine speziellen Methoden entwickelt.

Als ich die Filme Bressons vor etwa 30 Jahren zum ersten Mal sah, empfand ich die gleiche Bewunderung, damals gepaart mit Irritation und Ratlosigkeit über den schrecklichen Taten und aussichtslosen Perspektiven. Seine formale Radikalität zog mich in den Bann und beeinflusste mich, auch nach Strukturen zu suchen, gegen die konventionellen Dramaturgien. Und trennte mich von Leuten, die nicht affiziert wurden von diesen Filmen. Heute sehe ich hinter ihnen bewußter den Mann aus einer anderen Generation, behalte eine größere Distanz zu den Inhalten, sehe und genieße die Klarheit seiner Werke, die Koordinaten seines Denkens, die sich für mich nur etwas anders formulieren. Es ist nur der Lauf der Zeit, eine historische Oberflächenveränderung, das religiöse Vokabular kann übersetzt werden. Wie ketzerisch ist das Ende von LE PROCES DE JEANNE D’ARC – ein kleiner Hund schaut verwundert hoch zu Jeanne und den Menschenreihen rechts und links und dann geht das Kreuz selbst in Rauch auf. Und wie beeindruckend ist Bressons eigener Weg der Radikalisierung besonders mit seinen letzten Filmen, die zeigen wie sehr er in der Gegenwart lebte. Wenn ich heute in der Zeitung lese, dass in USA mehr Leute im Gefängnis sitzen als jemals in Stalins Gulags – denke ich an Bresson.

Kim Novak badete nie im See von Genezareth

Das ist kein aktuelles Buch, es erschien erstmals 1998 auf deutsch. Hakan Nesser ist vor allem als Krimi-Autor bekannt.
„Kim Novak“ ist eigentlich gar kein Krimi; das Buch erzählt die Geschichte eines Sommers im Jahr 1962 aus der Sicht eines 14jährigen Jungen. Er verehrt eine junge Frau, die wie Kim Novak aussieht – daher der Titel. Das ist lakonisch, witzig und ohne grosse Schnörkelei geschrieben; Comics, Pop-Musik, Perry Mason und Redewendungen aus Film- und Fernsehserien haben einen festen Platz in dem Leben der Heranwachsenden. Und dann geschieht das SCHRECKLICHE.

Dienstag, 31.01.2012

Cattelan – Bresson ?

In einem langen Artikel zu einer Ausstellung von Maurizio Cattelan nimmt der Autor Barry Schwabsky am Ende Bezug auf zwei Filme von Robert Bresson. Die Filme sind in NY gerade gezeigt worden und werden offensichtlich reflektiert.

The Nation, Jan 30, 2012
(….. /end of article:)

At times, while looking at this exhibition, I couldn’t help thinking of Robert Bresson’s Au hasard Balthazar, a strange film in which a long-suffering donkey is finally shown to be a kind of saint through its endurance of work and pain. I know this allusion will seem absurd to those who revere Bresson as a saint of cinema, a paragon of formal and spiritual purity, whereas Cattelan seems to be a mocker, a wiseguy. But when I look at that Novecento hanging in the Guggenheim—it was once the hide of a living thing named Tiramisu—I can’t persuade myself to believe that Cattelan is kidding, no matter how sophisticated I might be if I could. The same goes for Not Afraid of Love (2000), the sculpture of a baby elephant trying to hide under a white sheet with tiny eyeholes and one great big hole for its trunk. Its alarmed little eyes—do artificial eyes really have expression, or is this my illusion?—can only, I imagine, be those of a certain Cattelan in the moment when it occurs to him that his art of evasion, his eternal Torno subito, can never disguise him for long. For Spector, the white sheet with the holes conjures up visions of the Ku Klux Klan and their robes. I see her point, but I can’t quite see it like that. I think of the similar-looking robes worn by Catholic penitents, most notably by the Nazarenos of the Holy Week processions in Seville. Cattelan’s art is full of the imagery of Catholicism, just as Bresson’s was. His mother’s piety must have left its mark on him.

In another Bresson film, the main character, a self-righteously rebellious young man, gets into a political conversation with someone on the bus, and passengers nearby chime in with opinions. “It’s the masses who determine events,” says one. Another asks, “So who is it that makes a mockery of humanity? Who’s leading us by the nose?” A third passenger responds, “The devil, probably,” as the bus crashes. Cattelan may have stepped off the bus just in time.

Montag, 30.01.2012

Filme der Fünfziger II

In „Das Hollandmädel“ (1953) spielte Grete Weiser Frau Quietsch und Gunnar Möller verkörperte die männliche Hauptrolle. 1957 war die Weiser die „Tante Wanda aus Uganda“ und Georg Thomalla hiess in dem Film Jonas Edelmuth.  In „Die sieben Kleider der Kathrin“ (1953) ist Thomalla Graf Hohenstein, von Beruf Karikaturist und Witzbold vom Dienst.  Er fährt ein schwarz-weißes BMW Cabriolet, das aussieht wie der überdimensionierte Halbschuh eines Gigolo. Grete Weiser spielt einen Kurgast und die Besitzerin eines Modesalons; ihre Hauptaufgabe besteht darin, nicht auf den Mund gefallen zu sein. Gunnar Möller dagegen ist ein Pilot, der ein zartes Verhältnis mit Sonja Ziemann hat. Sonja Ziemann wohnt als Vollwaise bei Tante Therese und Onkel Philipp. Tante Therese (Käthe Haak) leidet tapfer am Herzen. Anhand der sieben Kleider soll der Lebensweg von Katrin (Sonja Ziemann) erzählt werden; so etwas kann interessant sein, wenn die Kleider eine besondere Aura haben. Aber bei der Regie von Hans Deppe muss man damit rechnen, dass alles von der Stange ist – und dann hat man noch Glück gehabt. Es geht immer noch schlimmer.

Gunnar Möller wird als Liebhaber gleich in den ersten Minuten wieder abgelegt; vorher durften Möller und Ziemann in einer Art  Heimatfilmroutine noch die hübsche Aussicht auf ein Tal geniessen.  Katrin lernt Herrn Pall  kennen, Reiseschriftsteller und, drunter tun wir‘s nicht,  der reichste Mann Europas. Der Reiseschriftsteller ist ein inzwischen ausgestorbener Filmberuf, der in den vierziger und fünfziger Jahren  sehr populär war. Darüber hinaus ist Herr Pall in Wirklichkeit Wolf Albach-Retty, der Vater Romy Schneiders, die just zur selben Zeit in Wiesbaden ihren ersten Film „Wenn der weisse Flieder wieder blüht“ dreht, in dem man übrigens  in einem Cafe die hübsche Aussicht auf ein Tal genießt. Herr Pall macht Katrin ein unsittliches Angebot; er führt sie auch ins Spielcasino in Wiesbaden, wo Katrin ein Malheur passiert, das zu ihrer Festnahme führt, bei der sich Herr Pall sehr unritterlich verhält. Überhaupt ist Spielcasino unseriös. Man gewinnt auf seriöse Art im Lotto oder beim Quiz.
Als Tante Therese von der Verhaftung Katrins hört, fällt sie tot um. Onkel Philipp verkauft sein Haus und Katrin ist nun ganz allein. Für einen Moment weht das Flüchtlingsschicksal vorbei.  „Was wollen Sie denn tun?“ fragt Dr. Schörg (Paul Klinger); Dr. Schörg ist der Arzt, der  Tante Therese behandelt hatte und praktiziert in einem Sanatorium, in dem gerade Grete Weise kurt. „Etwas nützliches“ antwortet das Mädel und bekommt am Ende den Arzt.

Wir sollten unbedingt noch wissen, dass Paul Klinger zur selben Zeit in Wiesbaden in „Wenn der weisse Flieder wieder blüht“ die Rolle des Peter Schröder spielt, der sich rührend um Magda Schneider, die Mutter von Romy, kümmert, die übrigens einen Modesalon führt.  Weil Wolf Albach-Retty, der Vater von Romy, in den „Sieben Kleidern“ nicht von Sonja Ziemann lassen kann, wäre beinahe aus der Heirat von Paul Klinger und Sonja Ziemann nichts geworden. Und wenn Grete Weiser die Katrin nicht in ihrem Modesalon als Mannequin angestellt hätte, wäre Katrin vielleicht noch unter die Räder gekommen oder sogar in ihrer Not mit Wolf Albach-Retty nach Ägypten gefahren, wo sie dann später Romy und Karlheinz Böhm in ihrem Palast empfangen hätten. Oder war das in Spanien?
Merkwürdigerweise ist der Film in schwarz/weiss; Sonja Ziemann, die eine ausgebildete Balletttänzerin und Sängerin war, trägt zwischendurch ein Showkostüm, das freizügig sein soll und unzüchtig wirkt. Vorher  sieht man sie in einer Schwesterntracht, davor in  etwas Dirndlartigem – beide Kleider wirken im Vergleich zum Showkostüm subtil und erotisch. Trude Ullrich, von der so gut wie nichts bekannt ist, entwarf die Kostüme.

The Complete Bresson T-shirt

In a joint venture (like quite often) the MOMA, NY, and the Harvard Film Archive, Boston, present a complete retrospective of all Bresson feature films. On the occasion, and this is a novelty at least for the decade I am attending this theatre, the HFA sells a T-shirt. If someone over there in Germany is interested, I am willing to organise transportation.

Claire Denis als Extra bei LES QUATRE NUITS D’UN REVEUR

Notizen – Claire Denis berichtete über ihre Woche als Statistin bei Bressons Dreharbeiten von LES 4 NUITS D’UN REVEUR am 29.1.2012 im Harvard Film Archive

When she was entering film school, Bresson was there like an obscure planet. On the set he was intimidating, not only mysterious. He used to position people by grabbing them at their neck, walking them like animals. He was very good looking, like a prince from the Italian renaissance.
Denis admired the heroine (Isabelle Weingarten), impressed by the perfection of her white skin and the shiny black hair. Nobody was allowed to speak directly to Bresson, exception Mylène (van der Mersch/ assistant dir). Mostly they were only whispering on the set, full of respect of the director – for her taste a little too much respect.
LES QUATRE NUITS D’UN REVEUR seemed for her like from another age, later she identified much more with LE DIABLE PROBABLEMENT, that represented her generation much better.

Sonntag, 29.01.2012

Karton

Ein Link zu meinem Lieblingsgitarrensolo im letzten Jahr. Und ein Foto (von Erik Goertz) zu meinem Eintrag vom Montag. Passend dazu noch ein Link zu einem Kurzfilm über die Schließung eines sehr alten Ladens in Little Italy: Closing Time (2006 Veronica Diaferia).

Samstag, 28.01.2012

L’ARGENT, Bresson

Wenn Yvon Targe das alte Gefängnis verläßt, ist er nicht mehr in der selben Welt. Bildfüllend leuchtet das Schild “Hotel Moderne” im Stil der Jahrhundertwende. Dann betrachtet er das Schaufenster eines Spielzeugladens, wie eine ferne Erinnerung. Dabei wird er von der altmodisch schwarz gekleideten Frau bemerkt, die bei der Tele Communications ihre monatliche Rente empfängt. Yvon folgt der Frau, weil er das Geld in ihrer Tasche gesehen hat, scheinbar bis an den Rand der Stadt, zu einem ländlichen Anwesen, es geht über einen Steg, einen Graben, durch den Garten, es wird Gemüse angebaut. Alles in dem Haus ist alt, die Familie scheint wie im 19. Jahrhundert zu leben. Die Frau schrubbt die Wäsche am Fluß, erntet die eigenen Kartoffeln. Die Kaffeekanne wird in heißem Wasser warmgehalten. Die Küche, das Geschirr, wie aus dem Museum. Der Mann spielt Klavier. Er trinkt Wein dazu, das Glas kippt auf die alten Dielen. Die Frau entschuldigt sein Trinken, er mache das seit dem Tod seiner Frau. Auch hier ist der Alkohol anwesend.

Der anschließende, so schwer begreifliche Mord an dieser Familie – die Yvon doch wissentlich aufnimmt und menschlich behandelt – wird vom Film visuell in eine andere Zeit zurückversetzt, die der Vorlage Tolstois. Bresson dockt die Gegenwart an die Vergangenheit. Zurück zu Schuld und Sühne in einem anderen Kanon. Eine  effektive Rückkopplung – das Geld, Lüge und Verrat, bürgerliche Scheinheiligkeit, die ganze Litanei, regieren unverändert in der modernen Welt. Und der Protagonist, als tragischer Held, kann nur alles zerschlagen.

Freitag, 27.01.2012


[17. Juli 1979]


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