Niu Pi (Jiayin, 2005): Wer 110 durch 23 teilt, die Dauer des Films durch die Anzahl seiner Takes, kommt auf einen Wert von 4,7826. Als Durchschnittslänge jeder Einstellung wäre das weniger extrem, wenn sich die Kamera bewegte oder der Ausschnitt etwas weiter kadriert wäre. Weil das Bild so verwaschen und matt ist, dass Gesichter schwer zu erkennen sind, sind wir auf ein mehrfaches Außen verwiesen: Den Ton, die Dialoge. Vater, Mutter, Kind, gepielt von der (und als die) Familie der 23jährigen Filmemacherin. Handarbeit an Ledertaschen, gemeinsames Essen, Existenzangst. Das Wort „Discount“ spielt eine wichtige Rolle. Könnte man mit „Reduktion“ übersetzen; verblüffende Radikalisierung des Homemovies. ++++ Die Vogelpredigt oder Das Schreien der Mönche (Klopfenstein, 2005): Im über Gebühr langen Katalogtext fallen früh und gleich hintereinander die Worte „Schalk“, „Jux“ und „Ulk“, allesamt Begriffe, die bei mir für Ingrid Steeger, Klimbim und artverwandten, altherrenhumorigen Ulknudelsalat reserviert sind. Klopfenstein selbst bezeichnet den Film (im Jux allerdings) als „vierten Teil der Berner Männer-Trilogie“ und wurschtelt sich ärgerlich defensiv durch die Geschichte von zwei abgehalfterten Schauspielern, die den Regisseur „Klopfi“ in Italien besuchen, um ihn von einem tollen Wüstenprojekt zu überzeugen. Sowas als „gute Unterhaltung“ zu rechtfertigen, verdirbt die Preise. Auch Ursula Andress als Madonna holt keine Kastanien aus dem Feuer, wenn der ganze verdammte Laden in Flammen steht. ++++ Rois et Reine (Desplechin, 2004): In Kafkas „Urteil“ steigt der schwerkranke Vater plötzlich aufs Bett, hält seinem Sohn mit donnernder Stimme die Falschheiten der letzten Jahre vor und verurteilt ihn zum Tod durch Selbstmord. Louis Jenssens, dessen Morphiumdosis seine Tochter Nora erhöht, um das Krebsleiden abzukürzen, ist weniger direkt. Im Manuskript liest Nora nach dem Tod, wie er alle Taten der uns als erfolgreiche Mittdreissigerin vorgestellten Frau auf Egoismus, Härte und Gefühlskälte zurückführt. Desplechin lässt das Gift, das unter und über der Oberfläche die Beziehungen seiner Figuren prägt, langsam aber nachhaltig einwirken. „I had a single guideline: be brutal.“ Glücklich verwundet aus dem Kino getaumelt. ++++
2005
Dienstag, 15.02.2005
Montag, 14.02.2005
L’Intrus (Denis, 2004): Michel Subor könnte ich problemlos drei Stunden lang zukucken; jedenfalls, wenn Agnès Godard ihn filmt. Der Film ist zwei Verfilmungen, die eines Texts von Jean-Luc Nancy und eines von Robert L. Stevenson. Nancys Buch ist bei Merve als „Das fremde Herz“ erschienen, das bekannteste von Stevenson heißt bekanntlich „Die Schatzinsel“. Für Claire Denis muss es wie die Entdeckung eines Schatzes gewesen sein, als sie auf den Film „Le Reflux“ von Paul Gégauff (1962) stieß. Die Südsee-Aufnahmen mit dem 27jährigen Subor, die in „L’Intrus“ als Rückblende implantiert sind, bilden eines der vielen fremden, angeeigneten Herzen, die in dem kristallklaren Film pochen. ++++ Lakposhtha Hâm Parvaz Mikonand (Ghobadi, 2004): Bei einem kurdischsprachigen Film, der mit iranischem Geld im irakischen Grenzgebiet zwischen amerikanischen Tretminen spielt und das Elend in den Flüchtlingslagern wenige Wochen vor der zweiten US-Invasion im Jahre 2003 zum Thema hat, haben sicher eine Menge Leute mitzureden. Erste Einstellung, close up, ein Mädchengesicht im Halbprofil, hinter dem Gesicht unscharf ein Abgrund. Zweite Einstellung, close up, ihre Füße, die sich näher an die Klippe herantasten. Dritte Einstellung, close up, sie streift ihre Schuhe ab. Vierte Einstellung: Sie springt, und man sieht ihre Füße in Zeitlupe. Diese Zeitlupenidee, hoffe ich, vielleicht sogar die ganze vierte Einstellung, kommt nicht von Ghobadi. ++++ Skagafjordur (Hutton, 2004): Hier war schon von zwei Benningfilmen die Rede, und nach ein paar Einstellungen Hutton könnte man denken: Ah, kiek ma an, wie der Benning. Nach einer Weile merkt man: Nein, das Gegenteil ist der Fall. Landschaft ist noch lange nicht Landschaft, Blick ist noch lange nicht Blick. Huttons Island ist ein Märchenland, das wohl auch aufgrund der stummen Tonspur weit ins Imaginäre entrückt ist. Das Glitzern des Meeres, zuerst schwarz-weiss, dann bunt, ist immer auch anderes, mehr als es selbst oder weniger. In dieser Diskrepanz steckt auch eine Beunruhigung. Man kann dabei an Dieter Roths tausende von Island-Dias erinnert sein. ++++ Los Muertos (Alonso, 2004): Untergrund-Viennale, dritter Teil. Hier in Berlin wird das Wiener Festival auf dem Filmmarkt verramscht. Für jemanden wie mich, der nicht da war, dankbare Gelegenheiten. Über „Los Muertos“ ist von berufener Seite schon einiges geschrieben worden. Wenn „zeigen, was der Fall ist“ als Materialismus gelten kann, ist Alonsos Film so materialistisch wie die Filme Bennings. Die Kamera hat ein fast gespenstisches Gespür für Entfernungen gegenüber Vargas, dem entlassenen Mörder. Als er vom Polizei-Pickup abgesetzt wird, fahren wir langsam weiter mit und sehen ihn kleiner werden. Später eins der unerlöstesten Schlussbilder der Filmgeschichte. Erlösung könnte danach höchstens der Anfang des Films bringen. ++++
Sonntag, 13.02.2005
13 Lakes (Benning, 2004): Ein Roadmovie, dessen Strassen sich in den Schwarzbildern zwischen den Seen verstecken. Der Kontinent, die zurückgelegten Wege im Auto. Die Anstrengung des Sehens und Hörens: sedimentierte Arbeit, von der man sich zehn Minuten lang pro See erholen kann. Bennings Filme sind großzügige Gesten gegenüber den Zuschauern; er teilt Blicke und Zeit. Dass Großzügigkeit als Zumutung aufgefasst werden kann und das Geschenkte wie Gestohlenes, erzählt etwas über den Sehenden. Die empörte Frau, die bis Minute Fünfzehn neben mir sitzt, atmet beim ersten Bild von See 2 geräuschvoll ein. Das überwältigte Einatmen des Benning-Fans, der sich auf ihren Platz setzt, klingt genauso. +++ Le Pont des Arts (Green, 2004): Zwei Paare lieben aneinander vorbei, ohne davon zu wissen. Eine singt Barockmusik und springt von der Brücke. Einer schmeißt sein Studium und verliebt sich in ihre Stimme, ohne von dem Selbstmord zu wissen. Die Stimme der Toten lässt ihn den Kopf aus dem Gasherd zurückziehen. Was bei Green nicht aneinander vorbeigeht, sind die Blicke und die Kamera. Es ist ein Schock, bei vielen Dialogen frontal angeblickt zu werden, man fühlt sich ertappt. Wenn es gelingt, zurückzublicken, sieht man einen Film, der auf eine Weise mit Garrel, Eustache und Bresson zu tun hat, die in hundert Worten unmöglich zu beschreiben ist. +++ Miscellanea III (Emigholz, 2005): Verbindungen, Scharnierstücke, Gelenkstellen zwischen den Eigennamen-Filmen der „Photographie und Jenseits“-Reihe. Ein ausgetrockneter kleiner Flusslauf im amerikanischen Westen, der stehengebliebene „Chicago Stock Exchange Arch“ von Louis H. Sullivan. Was der Bogen trug, ist 1972 abgerissen worden. Besuch bei den Gräbern von Sullivan und Goff. Abtastende Schwenks. „Unique to the design is a sparkling chunk of blue glass cullet salvaged from the tragically burned Price house in Bartlesville, Oklahoma. The metal, glass, and stone reflect the light, always an essential element of Goff’s architecture. The marker reads: Bruce Goff Architect 1904-1982 in a handmade typeface which Goff often used on his drawings.“ +++ D’Annunzios Höhle (Emigholz, 2005): Emigholz ist besser, wenn er Dinge filmt und hört, die er liebt. Deshalb ist die Denunziation D’Annunzios deutlich schwächer als die respektvolle Verneigung vor Sullivans Banken oder Goffs Gebäuden. Der Durchgang durch die Räume in D’Annunzios Gruselkabinett zeichnet sich durch eine programmatische Nachlässigkeit aus, die sich schneller erschöpft als der geduldige Blick und das immer wieder neue Staunen, das in jeder Einstellung des Goff-Films liegt. Hier spricht der Hass, und ihn durch Bilder sprechen zu lassen, ist gar nicht so einfach. Daher die durcheinander quatschenden Computerstimmen. Plunder, Lächerlichkeit, Kunstreligion, Lifestyle, Faschismus, das kommt einem irgendwann vor wie eine trübe Suppe. +++ The Basis of Make Up III (Emigholz, 2005): Der Sullivanfilm, der Maillartfilm und der Gofffilm gehören von der UNESCO refinanziert. „The Basis of Make Up“ ist etwas anderes als ein abgefilmtes Textarchiv. An den 38 Heften, restlos vollgeschrieben, bemalt und -collagiert ist vielmehr im Zeitraffer erkennbar, wie die Seiten schon als Trickfilm inszeniert sind. Schwarze, eckige Schlangen fressen sich einmal von den Rändern aus durchs Karopapier, umzingeln die Schrift und ziehen sich wieder zurück. Dazwischen Einstellungen von Ornamentalem, ein Wand- oder Bodenmosaik, hallende Geräusche. Diesmal Fotos aus D’Annunzios Geisterbahn. Man frisst sich durch mehrere Jahre Emigholz, und der müsste eigentlich altern, während der Film durch den Projektor läuft. +++ Dumplings (Chan, 2004): B. hatte Fruit Chan empfohlen und dann hinterher geschoben, dass die Filme „manchmal etwas seltsam“ seien. Hier ist es eine Dorian Gray-Geschichte, statt eines Paktes und eines Bildes besteht die Verjüngungskur im regelmäßigen Verspeisen junger Föten. Eine Abtreibung mit gehörigem Nachbluten und auch sonst einige Ekelhaftigstkeiten gibt’s zu sehen, mal auf Horror gebürstet, mal ins Komische überschraubt. Christopher Doyles Kamera nervt weniger – Kunststück – als bei 2046, der leersten Affektpose der letzten Kinomonate. Dass der Doyle nebst seinen unzähligen Epigonen an die Wand gestellt gehört, sagt M. später im Arsenal-Foyer in gutgelaunt-stalinistischem Tonfall. Nach der Revolution wird alles besser. +++ Stadt als Beute (von Alberti, Gronenborn, Dehne, 2005): Erzählen, das sich jung wähnt und dabei weder das eine noch das andere ist. Nicht jung und kaum Erzählen. Das Tolle an Omnibusfilmen ist, dass die einzelnen Teile sich unterscheiden; hier allerdings zeigt erst der Abspann, dass verschiedene Leute Regie gemacht haben. Die Stadt, von der im Titel die Rede ist, kommt nicht vor, der Film ist ohne es zu wissen die Beute, gegen die in Polleschs Stück so zornig gewütet wird. Drei Individualgeschichten von Schauspielern, die, wie René bei den Proben immer wieder lässig einschärft, „einen Bezug zum Stück“ finden sollen. Am Schluss lachen alle wie auf dem Kindergeburtstag. +++ Ten Skies (Benning, 2004): Wenn ich einen Begriff finden sollte, um die letzten fünf Filme von Benning zu beschreiben, wäre es nicht „Reduktion“ oder „Konzept“. Vielleicht würde ich „Elementary Filmmaking“ sagen. Sehen und Hören, eine Rückkehr zu den elementarsten Funktionen der Kinematographie. „Paying attention“: komischer Ausdruck – Aufmerksamkeitsökonomie. Der Himmel als Funktion der Landschaft. Die Landschaft als Funktion der Zeit. Man denkt den Himmel immer im Scope-Format, hier ist er in 16mm, wie durch das Dachfenster von Bennings Bekanntem, wenn er in der Badewanne liegt. Die Politik des Rahmens. Die Politik des Tons. Die Politik des Bildes. De rerum naturae. Alles andere als ein Naturfilm. +++
Mittwoch, 09.02.2005
100 Worte Lola
Wie eine frisch aufgezogene Spieluhr tanzen die Tänzerinnen im Club, in dem, vor dem sich manche Wege kreuzen. Was sich verfehlt, was trifft, bei all den Begegnungen, von denen die Kamera berichtet, die sie herbeiführt – ohne dass die Beteiligten davon erfahren müssen – bleibt allerdings schwer zu sagen. Vielleicht deshalb, weil jede Szene loslegt wie eine frisch aufgezogene Spieluhr und vieles nebeneinander her, aneinander vorbei tanzt, vor und in der Kulisse von Nantes. Das Schicksal stellt sich zuletzt ein, aufgezogene, tanzende, abbrechende, neu ansetzende Fata dazwischen. Widerhaken im Trivialen: Die Zeitlupe, der Existenzialismus. „Lola“: Nouvelle Vague ohne Neorealismus, aber mit Coutard.
Samstag, 05.02.2005
Lola (100 Worte)
Demy, sagt M, setzt die Welt, die er aufstellt, nicht unter Druck, was verschiedene Formen von Unbeschwertheit ermöglicht, die bei mir den Wunsch nach Erdung hervorrufen. Gravity als Desiderat: wenigstens eine halbwegs physische Matrosenbewegung; Hopper in Harringtons Night Tide oder eben gleich das komplette Querelle-Programm. Eine Leichtigkeit, die figurativ elaboriert gebaut ist und deshalb nur kurz unter Poesieverdacht gerät. Auf dem Spiel steht dabei trotzdem wenig; zu wenig, finde ich. French-Feingeistigkeit ist codierter Populismus, für die, die immer Ophüls dazu denken mögen. Ungerecht ist ein solches Reden über diesen Film natürlich auch, etwa weil es diese wunderbar triviale Zeitlupen-Sequenz gibt.
Objektwahl
Ein Lacher in einem Film von Raymond Depardon, das kommt nicht oft vor. In Profils paysans II nun diese Stelle: Die 87jährige Bäuerin geht spazieren. Ihre Hände zittern stark, sie macht kleine Schritte, die Kamera bleibt halbnah auf Distanz. Eine Nachbarin tritt ins Bild und begreift die Situation. „Filmen die mich?“ Bäuerin: „Oui.“ Nachbarin: „Mais pourquoi faire?“ Bäuerin: „Parceque vous êtes là.“ Vielleicht der beste Lumière-Witz, im Moment seiner Entstehung.
marxelinho
Freitag, 04.02.2005
Lola (100 Worte)
Wie ich jeden Augenblick damit rechne: gleich fangen sie an zu singen. Wie die Dialoge nicht richtig an den Figuren zu haften scheinen und die Figuren nicht richtig an der Stadt, durch die sie sich bewegen. Wie Raoul Coutards Fotografie die schwankenden Bewegungen zusammensetzt zu einer Strömung, die als Poesie falsch zu verstehen leicht fällt. Wie das ein Musical fast ohne Lieder und beinah ohne Körper ist, aber mitten in einem realen Nantes des Jahres 1960. Im amerikanischen Musical sticht die Hyperkörperlichkeit der Tänzer aus dem künstlichen Dekor des Studios hervor. Hier, so kommt es mir vor, ist es andersrum.
Lola
Frankreich / Italien 1961
Regie: Jacques Demy
Montag, 31.01.2005
Viel zu spät aber immer wieder
Meine 17 Kinoinseln 2004 (ohne Hierarchie):
DIES IRAE – Carl Theodor Dreyer; MYSTIC RIVER – Clint Eastwood; THE FUGITIVE – John Ford; THE SUN SHINES BRIGHT – John Ford; WAGONMASTER – John Ford; EIN BESUCH IM LOUVRE – Straub/Huillet; LAND DER VERNICHTUNG – Romuald Karmakar; BIG BUSINESS – Leo McCarey; WHAT TIME IS IT THERE? – Tsai Ming-Liang; SOBIBOR – Claude Lanzmann; ELEPHANT – Gus Van Sant; ALBUM – Matthias Müller; JARMARK EUROPA – Minze Tummescheit; HAT WOLF VON AMERONGEN KONKURSDELIKTE BEGANGEN? – Gerhard Friedl; DOWN WITH LOVE – Peyton Reed; NICHT OHNE RISIKO – Harun Farocki; 21 GRAMS – Alejandro Inarritu.
MICHAEL GIRKE
Freitag, 28.01.2005
Tropical Malady (100 Worte)
„Der Tiger folgt dir wie ein Schatten“, sagt der Affe auf dem Baum zu Keng. Dabei ist es der Film selbst, der mit seiner Schattenwelt uns schließlich gefangen nimmt. Bild und Tonspur erzeugen eine körperliche Präsenz und sinnliche Emphase, bei der im Dickicht der Erzählung thailändische Fabel, schamanistische Mythologie, moderne Metropole und die Liebesgeschichte zwischen dem Soldaten Keng und dem jüngeren Tong als Orte und Motive der Handlung aufeinandertreffen. Der originale Titel des Films (Sud Pralad) legt die Vermutung nahe, dass dieses hybride Monster den Blick des Zuschauers aufsaugt, um ihn als Jäger nach dem Rätsel der Bilder wieder auszuspeien.
Tropical Malady (Sud Pralad)
Thailand/F/D/I 2004
Regie: Apichatpong Weerasethakul
Samstag, 22.01.2005
Milchwald (Christoph Hochhäusler) D 2003
So riesig, übermannshoch, daß es, beim Radlabsperren, mim Kopf nach unten, also mit kopfstehenden Buchstaben, in fremder Sprache, sich reindrückt, das Plakat im Kinofoyer: „Les Bois Lacté“ – den Euro-Markt im Visier.
Eine Reminiszenz an Dylan Thomas‘ „Unterm Milchwald“ sei es nicht, sagt Christoph Hochhäusler.
Der Titel macht die Vorgabe, es handele sich um Sowaswiengedicht.
Milchwald – Weißwasser, immerhin scheut sich Hochhäusler nicht vor geographischer Bestimmtheit; eine Landkarte spielt mit, auf der dieser Ort verzeichnet ist. Der große Anspruch des Überall, die allgemeine Gültigkeit, also nicht.
Daß die Pampa unserer Breitengrade ein prima Gelände für eine Erzählweise abgibt, die eher Bericht ist als dramaturgisches Quetschwerk, indem sie sich zunächst von selbst der Übertreibung entzieht, war schon in Petzolds „Wolfsburg“ zu sehen.
Hochhäusler ist nah an die Grenze gegangen, Deutschland-Polen. Da fliegen die Pollen bollenweise, von der Windmaschine übers Feld getrieben der Stiefmutter um die Ohren, als sie vergebens nach den Kindern ruft, die sie zuvor wütend aus dem Auto warf.
Die Straße, über die sie in der ersten Einstellung gefahren kommt, hat Wellenform, ein ungewöhnliches Auf und Ab, auf das die Kamera mithilfe langer Fingerzeigbrennweite angeberisch hinweist. Der Schwenk mit dem Fahrzeug kurz darauf endet unvermeidlich mit dem Blick in die Hochspannungsleitungsraumtiefe.
Dann aber wieder das herrlich trübe Haus mit aufgeklebten Fensterkreuzen, gefliesten Fluren, Zimmern aus gipsverspachtelten Trockenbauwänden, in dem gevögelt und die Vermißtengeschichte durchlitten wird.
Gerne steigt man gelegentlich, wie Wim, aufs Hoteldach und nimmt die Leuchtschrift von hinten.
Das rotzige Mosern der Kinder, die strichmündige Betrübtheit der Stiefmutter, die dem Mann und sorgenvollen Vater nicht verrät, daß sie selbst die Bälger ausetzte und ihr von Filmen abgegucktes Leidenschaftsspiel im Sexgebiet – das von Hochhäusler ungebremste oder herausgeforderte Overacting wird in seiner Übertriebenheit spätestens erkennbar, wenn es sich messen muß mit dem Mittelmaß an Erregbarkeit von Miroslaw Baka, bekannt aus z.B. Kliers „Überall ist es besser, wo wir nicht sind“ und Kieslowskis “ … Töten“ – eine ihm aus der Erinnerung zugewiesene Rolle, die mich kindisch auf eine sich entpuppende Grausamkeit warten läßt. Hochhäusler sagt, daß – in seinem Film – dieser reisende Auffüller von Seifenspendern ein freies Leben führe. Vielleicht muß er deshalb Kuba heißen.
Weil es wirklich sehr gut gemeint ist, gibt es Musik nicht aus der Konserve und auch nicht vom Synthi, sondern eigens komponiert und eingespielt, mit Pauken und später auch Trompeten – nicht jedoch kitschig symphonisch, sondern kitschig angeschrägt, daß der Wald auch recht unheimlich märchelt.
Mir schien, als habe sich bei diesem „Kunstfilm“(M.H. in taz, 11.11.2004) der eine Hochhäusler nicht gegen den anderen durchsetzen können. Der Vorsatz zur Schlichtheit war im Ringen mit dem Marketingspekulanten nicht durchzuhalten.
Nun glaube ich zu wissen, warum im Veranstaltungsprogramm stand: Wir freuen uns auf den nächsten Hochhäusler-Film.