September 2010
Samstag, 25.09.2010
Mittwoch, 22.09.2010
Suffragettenfilme
Ich erinnere, dass meine Oma, 1906 kam sie auf die Welt, oft über die Suffragetten schimpfte, aber ich nicht verstand, was sie damit meinte. Als meine Oma über die Suffragetten schimpfte, das war in den 1970er Jahren und im Fernsehen war oft Alice Schwarzer zu sehen, da war ich 5, 6, 7, 8, 9 Jahre alt und das Wort »Suffragetten« hatte einen geheimnisvollen Klang und wenn man nachmittags italienische Sandalenfilme gesehen hatte, verband sich der schön mit anderen Namen — Dyraden, Zyklopen und Minotauren. Später lernte ich mehr. Die Suffragetten waren zur Zeit, als meine Oma aufwuchs und bestimmt auch oft ins Kino ging, allgegenwärtig. Eine erste audiovisuell verarbeitete Protestkultur. Auch deshalb wird meine Oma das Wort noch in den 70ern erinnert haben. Dieses Jahr in in der Frühkinosonderreihe vom Festival in Oberhausen gab es ein Programm mit Suffragettenfilmen zu sehen, mit Aktualitäten von damals, Komödien, Karikaturen, Dramen – politischer Film. Das war sehr klug ausgewählt und kommentiert von Madeleine Bernstorff und Mariann Lewinsky. Viele, tolle, merkwürdige Sachen. Noch mehr Suffragettenfilme sind jetzt ab morgen, Donnerstag, 23.9. und bis Montag, 27.9. im Zeughauskino in Berlin anzugucken. Super Untertitel: Extremistinnen der Sichtbarkeit. Das Programm stellt – ich zitiere aus den Programmnotizen – » Filme über, für und gegen die Suffragetten vor und präsentiert außerdem frühe Filme zu weiblicher Arbeit und Klassenverhältnissen, zu Geschlechter-Inszenierungen, Crossdressing und Hysterie, zu frühen Stars und athletischen Artistinnen. Anhand rarer Filmbeispiele vor allem aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist ein noch wenig normiertes Kino zu entdecken: ein Kino, das sich selbst beim Erfinden zusieht und das gerade im Begriff ist, sich ein eigenes Publikum zu schaffen.«
Hier kann man sich schon mal einen der vielen Filme angucken, »Un duello allo schrapnell« (Italien 1913, Regie: Ernesto Vaser), in dem die Sache mit dem Penisneid ein wenig anders gedacht ist.
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Programmtexte und -daten: Madeleine Bernstorff | Zeughauskino
Montag, 20.09.2010
Schlingensief ohne Pause
Volksbühne Berlin, 1993. „Kühnen 94 – Bring mir den Kopf von Adolf Hitler“.
Das Stück wurde ohne Pause gespielt, so dass es keine bequeme Möglichkeit zu entkommen gab. Deshalb schloss ich mehrmals meine Augen, wie sonst nur bei Filmen. Es war aber nicht nur das Bühnengeschehen, sondern auch das, was auf zwei Leinwänden eingespielt wurde, was die Zumutung darstellte…Das Thema neuer und unbewältigter Nationalsozialismus wurde in einer Show verhandelt, mit einer gespielten Diskussionsrunde und einer Techno-Einlage, die zugleich brutal und lustig war…Der Regisseur trat selbst auf und sprach von sich in der dritten Person: „Was der Schlingensief sich alles traut!“ rief er fröhlich. Und immer wieder – begleitet von seinem Dackel: „Tabubruch! Noch ein Tabubruch!“ Das waren für mich die schönsten Momente.
Davor und danach war tatsächlich einiges auf der Bühne zu sehen, was ich noch nie dort gesehen hatte und auch nicht zu sehen wünschte…-
Wenn ich meine alten Notizen wieder lese, kommen sie mir so rückständig vor. Aber das liegt daran, dass man das Werk eines Menschen erst von seinem Tod aus beurteilen kann. So wie er selbst dann wohl auch, von draußen.
In seinem Buch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“ schreibt er an sich selbst: „Schau Christoph, versuch es doch, schreibe oder male irgendetwas, schau, dass du deine Sachen in Gedanken weiterführst. Und wenn du nicht mehr kannst , dann machst du halt eine Pause. Oder du schreibst drauf: „Pause“.“
Ganz lange Pause.
Donnerstag, 09.09.2010
Montag, 06.09.2010
Tränen vor der Leinwand
Wer glaubt, dass der Film – und ganz besonders als ein Produkt, das die von ihm ausgelösten Tränen im voraus kalkuliert, wie ein weepie – konkurrenzlos ist auf dem Gebiet der Künste, hat noch nie davon gehört, was Gemälde anrichten können – so wie ich bisher.
Belehrt wurde ich darüber durch die außergewöhnliche Zeitschrift Fuge. Journal für Religion & Moderne. In der aktuellen Nummer erzählt der Kunsthistoriker Horst Bredekamp dort in einem Interview von Pictures and Tears, einem Buch von James Elkins: „Der Autor stellt sich die Frage, warum Menschen vor Kunstwerken weinen, und beginnt mit einer eindrucksvollen Szene im Atelier von Rothko. Im Jahre 1967 kommt der Kunstkritiker Ulrich Middeldorf in Begleitung einer Kunstkritikerin, die auch Theologin ist, in Rothkos Atelier. Die beiden Besucher wenden sich den Werken des Künstlers zu, und die Kunstkritikerin bricht, ohne den Vorgang kontrollieren zu können, minutenlang in Tränen aus…Es scheint gewiss, dass vor den Werken keines anderen Künstlers des 20. Jahrhunderts Menschen öfter und länger geweint haben als vor den Gemälden Rothkos. An zweiter Stelle folgt dann Barnett Newman. Ich vermute, dass sich die Kontinuität des Religiösen an der Oberfläche abstrakter Malerei sich hier so unbezwingbar aufdrängt, dass der Mensch ergriffen wird. Er ist konfrontiert mit einer Oberfläche, die ihm die Gewissheit entzieht, dass diese Oberfläche nur Oberfläche sei.“
Zu finden in der Nummer 6/2010 der Fuge.
Samstag, 04.09.2010
Der Garten Eden
Da er vom Niederrhein stammt, interessiert sich Lutz Mommartz, in seinem Film von 1977, für eine Legende, „wonach der Paradiesgarten, der Garten Eden, im alten Mündungsdelta des Rheins, irgendwo am heutigen linken Niederrhein, im Grenzgebiet zwischen Deutschland und Holland gelegen haben soll.“ Es ist sehr viel gemalt worden in dieser Gegend in allen Jahrhunderten. Aber es gibt nur wenige Filme, denen anzusehen ist, dass sie dort entstanden sind. Die räumliche Freiheit, die unerhörte Höhe des Himmels, sagt ein Experte im Film, habe der Niederrheiner verinnerlicht.
Der Garten Eden ist wie jeder Garten: Menschenwerk. Im großen Urstromtal ist durch mehrfache Verlagerung des Flusses eine Art Sumpfaue entstanden, die, schon im Mittelalter durch Entwässerung in fruchtbares Weideland umgewandelt, zur Existenzgrundlage der Bauern wurde. Die lebten im Wesentlichen vom Erzeugen von Milch und Fleisch – nicht vom Ackerbau. Das war ein Leben, das vielleicht weniger problematisch war, jedenfalls weniger mühsam und weniger strapaziös als das der eigentlichen Feldbauern. Daher mag es kommen, meint der Experte, dass die niederrheinischen Bauern ihre Landschaft als das Paradies empfunden haben.
In der planmäßigen Befragung von Passanten und erst recht beim Auftritt eines angereisten Aktionskünstlers hängt der Film spürbar in den Seilen seiner Konzeption, aber das Schöne ist, er merkt es zeitig und wählt den Weg ins Freie, raus in den asynchronen Ton und rein in die Zufallsbekanntschaft. Mir war ganz komisch, als wären all die Leute auf den Straßen mit mir über Ecken verwandt. Und es wundert mich, wie selten dieses Gefühl doch ist.
Von den Preußen wurden sie als ausgesprochen faul und liederlich bezeichnet. Denn, was die Menschen am linken Niederrhein zum Leben brauchten, war dort mit geringerem Fleiß zu erwerben als im Nordosten. Der Experte, mit grauer Samtfliege, ist tatsächlich ein Experte, denn er weiß: „Die Menschen der Rheinischen Tiefebene sind nicht von der unverbindlichen Lustigkeit, wie wir sie im Rheinland gewöhnt sind. Die Leute der Niederung neigen eher zum Depressiven, sind eher in sich gekehrt, ohne abweisend zu sein.
Witzig sind die Niederrheiner schon, aber nicht auf eine unverbindliche Weise, eher auf eine aggressive. Sie halten denjenigen auf dessen Kosten sie einen Witz gemacht haben, allerdings schadlos durch ihre Gastfreundschaft – gleich im nächsten Augenblick.“
Ein leichtes Gruseln begleitet den Film Die Schiller aus dem Jahre 1976. Das liegt auch an den gesprochenen Eingangsworten; Lutz Mommartz wollte einen Film „über Düsseldorf“ und die „Neurosen der Zeit“ machen und hielt wohl tatsächlich die Freundin eines alten Freundes für ein „Medium, das in der Lage war die inhaltliche Leere der Stadt darzustellen“.
In meinen Augen triumphiert Brigitte Schiller unzweifelhaft über diese finstere Absicht. Indem sie ein ungeheuer eloquentes Plädoyer improvisiert: für die ziellose Schönheit des Flirts. Und auch indem sie sich beim Gefilmtwerden persönlich herausgefordert fühlt durch den Filmmacher. Es geht ihr nicht um Mitteilung sondern um das, „was sich“ – so sagt sie es Mommartz direkt in die Kamera – „zwischen dir und mir abspielt“. Nicht das vermeintlich Symptomatische an ihr ist für das Vorhaben des Filmemachers wertvoll, sondern das einzigartig Sympathische an ihr ist für den Film die Rettung. Die Schiller dokumentiert keine inzwischen vergangene Gegenwart, sondern verlebendigt auf alle Zeit die Zukunft.
Die Schiller (30 Minuten), Der Garten Eden (in 2 Teilen von 75 und 79 Minuten) und viele andere Filme von Lutz Mommartz kann man sich glücklicherweise anschauen in der „German Cinema Collection“ im Internet Archive, auch den paradiesisch schönen Weg zum Nachbarn, mit Renate Meves (10 Minuten, 1968).