Ein Toast auf Aimé !

Ein kleines Dossier zum neuen Film von Jean-Marie Straub – L’AQUARIUM ET LA NATION

Ein kleines Dossier zum neuen Film von Jean-Marie Straub – L’AQUARIUM ET LA NATION
Morgen, Dienstag 24.11., findet ab 20.30 Uhr eine »Night for James Agee« statt, im Image Movement, Oranienburger Strasse 18, die »Book Release + Film Screening + Reading« beinhaltet. Weiteres dazu im Kommentarfeld unten.
»Paul Sharits, July 8 [1982]: shot with a shotgun in the doorway of some dingy Buffalo bar. Mistaken identity, the mistook him for somebody else. Spleen removed.
Paul Sharits, 1981: went to a friend’s house. Couldn’t remember where his friend hid the key, tried to get into the house through the roof window. Fell down. Broke his pelvis.
Paul Sharits, 1980: stabbed in Buffalo bar, during an argument with a stranger. I was with Paul in a New York bar once when he turned to a young woman who was there with a man and he said, „Why are you with that guy? Have a drink with me.“ The woman ignored him. That time he was lucky.
[…]
Paul Sharits, 1990: smoke was noticed in Anthology’s lobby. Manager called the Fire Department. The smoke was coming from the toilet room. There was Paul Sharits with a fire thrower in his hands and a young woman in strange garb. Paul was burning holes in her dress. He had decided to become a fashion designer. He was producing his first dress.«
[Jonas Mekas: Anecdotes from the Life of Paul Sharits… As Far as I Remember]
– veröffentlicht in PAUL SHARITS, dem imposanten, 2642 g schweren, jetzt erschienenen „Katalog und Werkverzeichnis“, hg. von Susanne Pfeffer, London: Koenig Books / Friedericianum 2015
Mary-Pickford-Fans aus dem Raum Saarlorlux, die die Retrospektiven 1965 in Paris und 2015 in San Francisco verpasst haben, können sich am 20./21.11. in der Kinowerkstatt St. Ingbert einige ihrer schönsten Werke anschauen. Ich führe jeweils kurz in die Filme ein.
Nächste Woche in München, von Donnerstag bis Sonntag, vom 12. bis 15. November: die Filme von Wolf-Eckart Bühler, hoffentlich in Anwesenheit von Wolf-Eckart Bühler. Wer sich für die Geschichte der Zeitschrift „Filmkritik“ interessiert, für Filmkritik allgemein, auch dafür, wie das Fernsehen einmal Filmgeschichte vermittelte, und für einen Menschen, der viel zu erzählen haben dürfte, der sollte sich rasch noch auf die Suche nach einem Sparpreis der Bahn begeben.
Bei Brinkmann und Bose sind vor einiger Zeit die „Commentaires“-Bände Chris Markers in deutscher Übersetzung erschienen:
Chris Marker. Kommentare 1 + Kommentare 2
Aus dem Französischen v. Erich Brinkmann u. Rike Felka
Bd. 1: Br., 176 Seiten, ca. 300 Abb., 28 EUR, ISBN 978-3-940048-21-9
Bd. 2: Br., 176 Seiten, ca. 300 Abb., 28 EUR, ISBN 978-3-940048-22-6
Die französischen Erstausgaben erschienen 1961 und 1967 und seit Jahrzehnten vergriffen. Hier drucken wir mit freundlicher Genehmigung des Verlags einen Auszug aus Bd. 2 ab; die ersten Minuten von Si j’avais quatre dromadaires (1966).
Sich mit einem fremden Objekt befassen – nicht aus dem Weltraum, sondern aus dem eigenen Kulturraum, dem europäisch-deutschen (Zittau im Dreiländereck Deutschland, Tschechien, Polen). Ein irdisches Objekt also, von dem wir uns geschichtlich so weit entfernt – uns ihm entfremdet – haben, dass es uns tatsächlich vorkommt wie von einem andern Stern. Ein Objekt allerdings, das eine ganz vertraute Geschichte erzählt, in Bildern und Worten spricht, die an etwas rühren, das uns von altersher bekannt sein müsste.
Mehrfache Arbeit, die dieser Film leistet: er bringt uns optisch / kinematographisch die Bilderzählung nahe, die auf dem Grossen Zittauer Fastentuch in einer Folge von neunzig Bildern dargestellt ist – und findet eine Sprache für dieses (aus dem Alten und dem Neuen Testament) Dargestellte. Er begibt sich in die Bilder hinein, spricht aus ihnen heraus, transponiert den darin enthaltenen Ausdruck samt den Legenden in ein heute verständliches Deutsch. Dann bestimmt er – historisch, materiell, ideell – den Charakter dieses Objekts, situiert es durch Interviews mit Personen, die dazu massgeblich etwas zu sagen haben, aus heutiger Perspektive neu.
Das macht, dass uns dieses fremde Objekt sehr nahe kommt – und doch der notwendige (weil gegebene) Abstand gewahrt bleibt. Ein mittelalterliches Weltbild eröffnet sich, das ganz im Glauben lebt, innig ist, von naiver Frömmigkeit. Den da dargestellten biblischen Figuren haftet überwiegend der Gesichtsausdruck eines kindlichen Staunens an, wie wenn der oder die (anonymen) Maler einfach die schöne Einfalt aufgegriffen hätten des gläubigen Volkes um sie herum.
Schon die Bezeichnungen, mit denen wir diese Welt charakterisieren, entfernt sie von uns, macht den Abstand und die ‚Verlorenheit’ klar. (Es sei denn, wir gucken ein bisschen unseren Kindern und vielleicht den Simpeln und Toren zu.) Aber lautet die Lektion nicht vielmehr: verloren waren nicht die Menschen dieser vergangenen Welt, verloren sind vielmehr wir. Wir haben uns (mit unseren heutigen Fantasmen, im Bann der „Technosphäre“, dem „Diktat des Augenblicks“) gut erheben über ein ‚geschlossenes Weltbild’ (das immerhin für eine gewisse Geborgenheit bürgte) – in ein paar Jahrzehnten schon wird man unser heutiges Weltbild als genauso antiquiert ansehen. ‚Was haben die sich bloss eingebildet, damals!’ (Vorausgesetzt irgendeine Art Urteilsvermögen ist noch in Kraft in der künftigen Menschheitsgeschichte.) Und wenn man sich vor Augen hält, dass der Abstand zum Fastentuch-Weltbild (vor dem Hintergrund der ‚Schöpfungsgeschichte’, den ca. 4,6 Milliarden Jahren Evolution auf dem Planeten) eigentlich nicht mehr ist als ein Wimpernschlag, will einem scheinen, dass diese Art Überstürzung und Überhebung nur im Nichts (woher wir gekommen sind) enden kann.
Fastentuch 1472 – Film von Bernhard Sallmann (D 2015, 93 Minuten).
Der Film läuft am 28., 29. und 31.10.2015 auf der Dok-Leipzig. Und am 24. November 2015 in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin.
1: Die Handlung wird ausschließlich über die im Film überall vorhandenen GoPros [Achtung: Werbelink] erzählt, wobei darauf verzichtet wird, die GoPro-Einstellungen jedes Mal durch ein darüber gelegtes Raster sowie eingeblendete Schrift kenntlich zu machen. Besonders die Over-shoulder-Kamera, die immer prominent im Bild zu sehen ist, liefert eine dynamische Perspektive, die im aktuellen Film aber kaum eingesetzt wird.
2: Aufgrund der großen Distanz entsteht bei der finalen Rettungsaktion am Schluss eine zwölfminütige Verzögerung beim Funkverkehr vom Mars zu Erde. Diese wird für den Zuschauer des „Marsianers“ natürlich nur kurz erwähnt, aber nicht ausgespielt. Dabei wäre das Insistieren auf den zeitlichen Realismus hier die Gelegenheit gewesen, endlich mal jemanden beim Warten zu zeigen. Mark Watney verbringt über ein Jahr alleine auf dem Mars, statt Kontemplation setzt Scott aber ausschließlich auf Aktion.
3: Als sie auf der Erde mitbekommen haben, dass Mark Watney lebt, fragen sie sich, was er jetzt wohl tut. Daraufhin gibt es einen Schnitt auf einen weiteren schlauen Logbuch-Eintrag des Marsianers, anstatt ihn endlich mal beim Onanieren zu zeigen.
4: Es ist sehr ermüdend fast zweieinhalb Stunden Matt Damon beim Schauspielversuch zuzuschauen. Die Rolle ist für die meisten Schauspieler eine undankbare, weil kaum zu lösende Aufgabe. Warum hier nicht auf vorhandene Passgenauigkeit zurückgreifen und die Rolle des Marsianers mit zwei Schauspielern besetzen? Für den ersten Teil und die dort herrschende Verzweiflung böte sich Nicolas Cage an. Und im zweiten Teil hätte der ausgemergelte und fusselbärtige Mark Watney von Willem Dafoe gegeben werden können.
5: Filmhandlung kann subtil mit Popsongs kommentiert werden. Im „Marsianer“ werden die Songs aber allein aufgrund der überdeutlich passenden Lyrics ausgewählt. Zum Abspann läuft „I will survive“ von Gloria Gaynor! Hier hätte man die Lyrics von jedem Song mittels Karaoke-Untertiteln zum Mitsingen im Film einblenden können, um den Aspekt des Handlungskommentars deutlicher herauszuarbeiten.
Aus Karsten Heins Fotoroman „Das vierte Album“ wird ein Kinoereignis: Lesung, Filmmusik und Leinwand-Projektion.
Kino fsk, Oranienplatz, Berlin, Montag, 19. Oktober 2015, 20 Uhr, mit Diskussion.
Am Freitag und Samstag zeigt arte in der „Komischen Oper“ Stummfilme mit Live-Musik in der Art wie sie früher im Kino gezeigt wurden – d.h. mit Vorprogramm und Bühnenschau (Konzept und Produktion: Nina Goslar, Ulrich Lenz, Rainer Simon). Am 16. 10. laufen The Immigrant (1917) von Charles Chaplin, Manhatta (1921) von Paul Strand und Regeneration (1915) von Raoul Walsh.
Am 2. Abend (17.10.) laufen die Kurzfilme „Wenn die Filmkleberin gebummelt hat“, „Die Pritzelpuppe“ und F.W.Murnaus „Tartüff“ (1925).
Frank Strobel, der Dirigent des 2. Abends, hat dem Tip (21/2015) ein Interview gegeben. „Wir sehen Stummfilme heute zu langsam. Mit gemeinhin 18 Bildern pro Sekunde. Dabei gehen wir von einem Realitätsempfinden aus, das vom Tonfilm geprägt wurde. Wir betrachten Bewegungen, die zu schnell erfolgen, als unnatürlich. Nur: Die schnellere Bewegung war ein Stilmittel der d damaligen Zeit.“ Und: „Film, zu Zeiten des Stummfilms, war nicht als reales Abbild unserer Welt gedacht. Sondern als etwas Künstliches. Das ist der Grundirrtum, dem wir heute zumeist unterliegen.“
Das kann man noch etwas zuspitzen. Nicht wir unterliegen diesem Grundirrtum, sondern wir werden in diesem Irrtum gehalten, denn nahezu alle Stummfilme, die auf DVD angeboten werden, laufen in der falschen Geschwindigkeit. Prominentestes Beispiel ist „Metropolis“, der nach Angaben des Komponisten mit 28 Bildern/sec. laufen sollte. Dann wird aus „Metropolis“ ein Ballett, also ein ganz anderer Film.
Hier einige Angaben zu den Laufbildgeschwindigkeiten von Stummfilmen – sozusagen am Wegesrand notiert:
Fridericus Rex (1922/23): 25 B/sec, diverse Einstellungen langsamer
Alt-Heidelberg (1922/23): 14 – 24 Bilder/sec. 24 Bilder werden als Normaltempo bezeichnet.
Zur Chronik von Grieshuus (1925): 25 – 27 Bilder/sec
Metropolis (1925/26): 28 Bilder/sec
Der Mann im Feuer (1926): 26 Bilder/sec
Luther (1927): 27 Bilder/sec
Das Ende von St. Petersburg (1927): 26 – 27 Bilder/sec
Wenn ein Weib den Weg verliert (Cafe Electric) (1928): 30 Bilder/sec
Küsse, die töten (Verheimlichte Sünden): 28 Bilder/sec
Dorine und der Zufall (1928): 28 Bilder/sec
Saxofon-Susie (1928): 28 Bilder/ sec
Die tolle Komtess (1928): 28 Bilder/sec
Aus dem Tagebuch eines Junggesellen (1928): 28 Bilder/ sec
Manche Filmhistoriker glauben, diese forcierte Geschwindigkeit sei auf die Geschäftstüchtigkeit der Filmtheater-Besitzer zurückzuführen. Je schneller der Film läuft, desto mehr Vorstellungen konnten pro Tag angesetzt werden. Da ist was dran und es ist trotzdem falsch. Die Laufbildgeschwindigkeiten, die ich oben angeführt habe, sind zum überwiegenden Teil Angaben des Verleihs und der vom Verleih beauftragten Kapellmeister – unter ihnen übrigens auch Paul Dessau.
Wenn wir Stummfilme überwiegend in falscher Geschwindigkeit sehen – haben wir dann nicht einen ganz falschen Eindruck von der Wirkung dieser Filme? Richten wir uns also die Vergangenheit gemütlich zurecht und reden dabei gleichzeitig von der Beschleunigung der Wahrnehmung, ohne die früherer Zeiten wahrnehmen zu wollen? Und – interessiert das jemanden? Ehrlich gesagt: niemanden. Das ist ja das Dilemma.
Ich bin jedenfalls gespannt, mit welcher Geschwindigkeit „Tartüff“ in der Komischen Oper unter dem Dirigat von Frank Strobel laufen wird.