Samstag, 07.06.2014

Infrastruktur

The Hello Machine - 1974
The Hello Machine (1974 Carroll Ballard) *** Musik: Richard Rosmini, Kamera: Caleb Deschanel

Euphorie. Leicht zu erklären ist sie nie. In einer wohltemperierten Emulsion aus akustischen und elektronischen Klängen baden Bilderfolgen, die einen Abschiedsmoment zelebrieren: Das allerphantastischste Werkzeug, die menschliche Hand ist im Einsatz um Mechanik durch Elektronik zu ersetzen. Zum letzten Mal scheint das Sichtbare begreiflich, weil Finger es anfassen. Kommentarlos vollzieht sich – in den Farben eines Kindergeburtstags – diese Abschiedsfeier, die ein wunderschöner Irrtum ist. Denn der Hände Arbeit endet nicht. Nie kommen sie zur Ruhe. Arbeit zu erleichtern, Mühsaal abzuschaffen ist eine endlose Beschäftigung. Der Telefonmonopolist AT&T hat der „Informationsgesellschaft“ dieses frühe Denkmal gestiftet. Die Welt als fingerfertig geknüpfter Teppich, ein Gewebe gegenseitiger Grüße.

Operator 1969
Operator (1969 Nell Cox) ***
Musik: The New York Rock & Roll Ensemble, Kamera: Richard Leacock

Saul Bass entwarf 1969 für AT&T / Bell System ein neues Logo und eine Uniform. Abseits dieser Modernisierungskampagne wurde im selben Jahr ein Instruktionsfilm gedreht, über die Arbeit mit Switchboard und Telefonbuch. Zum Glück hat Operator nichts gemein mit jenen tristen Filmen, die aussterbende Berufe dokumentieren wollen. Wer weiß denn schon so genau, welche Berufe wirklich aussterben. Menschen, die am Telefon ihr Geld verdienen, gibt es heute viel mehr als 1969. Es ist gleichermaßen ein Dilemma und ein Glück, wenn aus unbezahlbaren, menschlichen Qualitäten die Instrumente der Berufsausübung werden. An beides, das Dilemma und das Glück, kommt Operator ganz wunderbar nah heran.

Liza's Pioneer Diary (1976 Nell Cox)
Liza’s Pioneer Diary (1976 Nell Cox)***

Nell Cox hat fürs Fernsehen einen Siedler-Western gedreht, in dem Frauen im Mittelpunkt stehen. Das ist der Film, den ich nicht kannte, aber irgendwie erträumte, als alle so begeistert waren von Meek’s Cutoff (2010 Kelly Reichardt). Weibliches Vertrauen in männliche Führer ist hier nicht das Sujet, sondern ausgetauschte Erfahrung; es wird viel geredet, und es wird gemeinsam gesungen. So wichtig wie die Mitgift in John Fords The Quiet Man, so wichtig ist in Liza’s Pioneer Diary ein Klavier. Es geht nicht um Schonung. Das muss vom Mann verstanden werden.

In dem kurzen Kinder-und-Hunde-Kriminalfilm Something Queer at the Library widmete sich Nell Cox 1978 einer interessanten Frage, die zehn Jahre später auch mich zu einem Super-8-Film inspirierte. Die Frage: Wer schneidet Bilder aus den Büchern einer Leihbibliothek?

Storm Center - 1956 - Daniel Taradash

Storm Center (1956 Daniel Taradash) erzählt von politischer Radikalisierung. Schon der von Saul Bass gewohnt grandios gestaltete Vorspann verheißt Ungewöhnliches. Die Bibliothekarin der Public Library soll ein bestimmtes Buch aus dem Bestand entfernen. Den jovialen Stadtväternn ist die stolze Verfechterin demokratischer Grundsätze zwar argumentatorisch überlegen, doch das verhindert nicht ihre Entlassung. Der daraus folgende innere Rückzug mündet in Vereinsamung.

Die Bibliothekarin wird gespielt von Bette Davis. Im „Modern Screen Magazine“ sagte sie: “Librarians almost always have been pictured as dowdy. Movies, novels, and short stories haven’t done right by librarians, and it is time somebody did something about it.” Bette Davis tut das auf ihre eigene höchstgefährliche Art, ganz so wie später unter Robert Aldrichs Regie ist sie nicht um sympathische Wirkung bemüht, sondern erzeugt in unerklärlichen Mischungen und Mengen: Furcht und Mitleid.

Storm Center - 1956 . Daniel Taradash

Das ist aber nur der halbe Film. Storm Center erzählt auch noch von der Radikalisierung eines neunjährigen Bücherwurms. Kritiker schrieben von einander ab, es gäbe für den Wahn des von Kevin Coughlin dargestellten Kindes keine zwingende Erklärung. Dabei gibt es unübersehbar gleich drei: Das Unterlegenheitsgefühl eines ungebildeten Vaters, die Überlegenheitsgefühle unterlegener Frauen, und der gelogene gesellschaftliche Konsens, der Kämpfe überflüssig nennt. Vater, Mutter, Staat. Das Monster mit den drei feuerspeienden Köpfen, das den Kleinen bei der Lektüre von Hawthornes „Wonder Book“ in Furcht versetzt, kann dafür als Gleichnis gelten. ***

public-library-post-card.

Drehbuchautor Daniel Taradash – hochgeschätzt für seine Adaptionen (From Here to Eternitity und Picnic), „a man I admire very much“ (Fritz Lang) – hat nur einen einzigen Film inszeniert. Schön, dass es IMDB-Kommentatoren gibt, die im Unterschied zu herablassenden Kritikern diesem unbekannten amerikanischen Klassiker zeitlose Aktualität bescheinigen. In Deutschland kam Storm Center nie ins Kino. 1975 strahlte der NDR ihn aus. Damals beschäftigte der Radikalenerlass das Bundesverfassungsgericht. Im Selbstvorwurf, nicht genug gekämpft zu haben, und im Schwur, „nur über meine Leiche wird noch mal ein Buch aus meiner Bücherei entfernt“, gibt Bette Davis in Taradashs Film der Demokratie ein Gesicht, das Feuer kennt.

The Wicker Man (1973)
The Wicker Man (1973 Robin Hardy) via

Öffentliche Bibliotheken gelten als „freiwillige“ Leistung. Über viele verschuldete Gemeinden sind sogenannte „Schutzschirme“ gespannt. Daher die „endgültige Maßnahme: Schließung„. Nicht erzwungen, sondern zwanghaft ist der Verzicht. Der Verzicht auf Vermögensteuer. Zudem werden Kapitaleinkünfte geringer besteuert als Arbeitseinkommen. Und so weiter.

Ich erinnere mich, es war 2007. Eine Urlaubsresidenz im Bauhaus-Stil, mit Blick auf beide Buchten von San Sebastian, trug in Schmiedeeisen den deutschen Namen „Verzicht“. Da mussten wir lachen.

Mittwoch, 04.06.2014

Devianz

Jack goes boating (USA 2010) von und mit Philip Seymour Hoffman meint: es schneit, es ist Winter, aber Jack wird mit Connie im Sommer Boot fahren. Die Zeit bis dahin ist der Sicherheitsabstand, den der lebensuntüchtige und schüchterne Jack braucht, um sich mit dem Gedanken vertraut zu machen. (Diese Figur sei „a regular dysfunctional guy rather than a freaky dysfunctional guy“, sagt Simon Hattenstone in ‚The Guardian’, 28.11. 2011). Wie Philip Seymour Hoffman diese Rolle modelliert, ist wunderbar: bestes amerikanisches Kino in der Tradition der Grossstadt-Aussenseiter – der psychisch Angeschlagenen und Zurückgebliebenen. Die Dialoge sind so, dass man eigentlich immer fürchtet, Jack werde etwas ‚Falsches’ sagen – aber er nimmt sich nur ein bisschen Zeit, um zu antworten. (Er selbst fürchtet halt, dass seine Antworten nicht ‚adäquat’ sein könnten.) Hauptsache er sagt etwas: und das ist dann fast regelmässig nur leicht ‚daneben’ und eigentlich schon in Ordnung, ja liebenswert. Es ist letztlich die Art und Weise, wie er sich ausdrückt und die Welt sieht. Gegenüber den ‚normalen’ Ränkespielen, Eifersüchteleien und Begierden wird diese Haltung sich sogar bewähren – fast schon eine antikapitalistische Lektion im new yorker Grossstadtdschungel.
(Der Film basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Robert Glaudini, 2007.)

(Zu sehen gewesen auf arte, am 2.6.2014, um 22 Uhr 15: sicher als späte Hommage an den am 2. Februar dieses Jahres verstorbenen Philip Seymour Hoffman.)

Samstag, 24.05.2014

Film Maudit

Der Abend des „Film Maudit“ von Helmut Färber – ohne Helmut Färber, der nicht nach Berlin kommen konnte, war für mich der bewegendste Filmabend dieses Jahres. Dabei sah ich nur den ersten Teil und passierte in der Pause die Raucher vor der Tür . Was sich einer unter ihnen vorstellte, als er von „Zölibat“ hier schrieb, habe ich nicht verstanden. Denn das Thema des Abends und des schönen Heftchens dazu, das Helmut Färber zusammenstellte, ist ja nicht die bewusste Entsagung, die Enthaltung, die gewählte Askese, sondern im Gegenteil die aufgezwungene Aufgabe, das Unterbrochenwerden, das Zerstörtwerden. Wie schon im einleitenden Zitat von Robert Bresson erkennbar:
„Ich bin sicher, daß um uns Leute sind von Talent und Genie, dessen bin ich sicher, aber die Zufälle des Lebens…Es muß so vieles zusammentreffen, damit es einem Menschen gelingt, etwas von seinem Genie zu haben. Ich habe den Eindruck, daß die Menschen viel intelligenter sind, viel begabter, aber daß das Leben sie platt macht. Schauen Sie die Kinder an, in der Bourgeoisie…Ich nehme die Bourgeoisie, weil das genau dort ist, wo man sie platt macht. Auf der Stelle. Man macht sie platt, denn es gibt nichts, was mehr Angst macht als Talent oder Genie. Man hat eine Heidenangst davor.“
(Bresson 1966, Übersetzung nach Steffen Schneider)

Mittwoch, 07.05.2014

Neben Rauchern vor der Tür

Gleich nach dem Sehen von CHRONIK DES REGENS kam mir der Gedanke eines Films von Novizen, einübend und schon gefangen in ein Zölibat, dessen Charakter sich noch keiner von ihnen bewusst ist.

Kinohinweis Berlin: Carte Blanche für Helmut Färber

Heute, Mittwoch den 7.5., stellt Helmut Färber in zwei Programmen (um 19.00 und 21.15 Uhr) acht Filme vor, im Arsenal, in Berlin.
Im ersten Programm um 19.00 Uhr kann man »Chronik des Regens« wiedersehen, über dessen Produktion Michel Freerix vor ein paar Tagen hier etwas geschrieben hat. Teil des zweiten Programms ist Jean-Marie Straubs »Corneille – Brecht ou Rome l’unique objet de mon ressentiment« von 2009, zu dem Bert Rebhandl heute im Blog von Cargo eine Notiz veröffentlichte.

19:00 Kino 2
*Chronik des Regens Michael Freerix D 1991
35 mm 72 min
Sonate Frans van de Staak Niederlande 1975
16 mm niederl. und engl. OF 4 min
Rückkehr Volkmar Umlauft D 2001
DigiBeta 37 min

21:15 Kino 2
*Wilhelm, der Schäfer Josie Rücker D 2004
35 mm 26 min
Meine Heimat, mijn vaderland Frans van de Staak
Niederlande 1976
16 mm niederl. und deutsche OF 32 min
Sepio Frans van de Staak Niederlande 1996
16 mm engl. OF 34 min
Corneille – Brecht ou Rome l’unique objet de mon ressentiment
Jean-Marie Straub F 2009
Beta SP OmU 26 min
De nåede færgen Sie erreichten die Fähre
Carl Theodor Dreyer Dänemark 1948
35 mm OF 11 min

Donnerstag, 01.05.2014

Amour et cinéma (II)

Robert Desnos verweigert bei seinen Texten zu Filmen (1923-1930) die üblichen Inhaltsangaben – seine Kunst besteht darin, die Filme kenntlich zu machen durch starke Ablehnung und Zustimmung. Er greift dabei natürlich Details aus dem jeweiligen Film auf und lässt es für den ganzen Film sprechen. Hie und da kommt er allerdings nicht umhin, trotzdem ein gedrängtes Resümee zu geben: etwa bei Pudowkins Tempête sur l’Asie / Sturm über Asien, 1928. (Le Merle, 10.5.1929)

Als Les Mystères de New York (The Exploits of Elaine, USA 1914/15) von einem Kino in Paris 1929 aufs Programm gesetzt wird – „verhunzt“ von einem „miserablen französischen Regisseur“ – macht Desnos in starken Worten seinen Lesern klar, was dieser Film der Generation von 1900 (also seiner) während der Deprivation der Kriegszeit bedeutet hat. Das sei die Generation gewesen, die das Kino ganz angenommen habe und „von ihm erzogen worden“ sei. Pearl White, die schöne Heroine der Serie, habe die Gemüter der Kino-Jünglinge durch ihre Sinnlichkeit vollkommen in Bann gezogen und beherrscht. „Und dann folgte ein Film auf den anderen, nach Pearl White kam Musidora, nach Musidora kam Nazimova und danach noch viele andere …“ „Wunderbare Figuren der Liebe, der Bezauberung … Das waren Frauen, wahre Frauen. Ihr Leben war nicht mittelmässing, sondern kostbar, und sie setzten es aufs Spiel.“ (Le Merle, 3.5.1929)

Es versteht sich, dass das Augenmerk des Surrealisten Desnos auf die ‚Zwischenwelten’ des Kinos gerichtet ist – das Traum- und Wachtraumartige der Laufbilder im Dunkel des Kinosaals. Er hat einen Sinn für das ‚unabsichtlich Poetische’ gerade der populären Produktionen und des naiven Ausdrucks: er votiert für die Poesie und gegen die Kunst (das Theatralische der Comédie Française im französischen Kino ist ihm ein Greuel). Unzufrieden ist er allerdings mit den Versuchen, Träume im Film explizit darzustellen – er findet das abstrus und lächerlich und und ruft nach der Imagination eines Marquis de Sade. Er will auch die Wunschvorstellungen und die Begierden, das Triebhafte und den Schrecken der Träume mitverwirklicht sehen. „Der Film von Monsieur Buñuel geht auf die bestgehüteten Geheimnisse der menschlichen Seele in poetischer Weise ein. Ich kenne keinen Film, der so unmittelbar auf den Zuschauer einwirkt, für ihn gemacht ist und mit ihm ein Gespräch, eine intime Beziehung aufnimmt.“ (Un chien andalou, Le Merle, 28.6.1929.)

Gegen den Strich geht ihm natürlich das Moralisierende auf der Leinwand und ausserhalb des Kinos: an den Zehn Geboten (Cecil B. de Mille, 1924) anerkennt er zwar „die Wunder, die der Regisseur und der Kameramann realisiert haben“, verabscheut aber die „puritanische Einfalt“ („niaiserie puritaine“), die der Film vor sich herträgt. (Journal Littéraire, 31.1.1925) Und was die französische Zensur betrifft, nimmt er kein Blatt vor den Mund: der Zensor, ein „Reaktionär“ im Greisenalter, verdamme das französische Kino durch seinen Einfluss dazu, „nur Sentimentalitäten niederster Art und Gemeinplätze eines absurden Nationalismus auszudrücken.“ Den Zensor, den zuständigen Minister, wie auch den dritten im Bunde, den „glücklichen Industriellen“ und „König des Kinos von Frankreich“ („zwischen zwei Ideen, wählt er unfehlbar die stupide“), nennt er bei ihren Namen. (Le Soir, 27.4.1928)
Dann gibt es da das Problem der „figurants“, auf das er öfter zurückkommt: das sind die Neben- und Kleindarsteller im französischen Film, die von „Menschenhändlern“ vermittelt werden, welche dabei unanständig viel von deren Verdienst in die eigene Tasche stecken. (U.a. Le Soir, 25.7., 1.8., 2.8., 5.10.1928)

Hat Desnos nur den Stummfilm geliebt? Nach Einführung des Tonfilms gibt es bei ihm die sinnvolle Unterscheidung zwischen ‚film parlant’ und ‚film sonore’. Er meint, ein ‚Sprechfilm’, der ihm gefallen habe, sei ihm bislang noch nicht begegnet, aber mit dem Ton könne er durchaus etwas anfangen.
„Alles, was auf die Leinwand projiziert werden kann, gehört der Domäne des Kinos an“ (1923 von ihm als Argument zur Beibehaltung der Zwischentitel gesagt): das ist ein Satz, der durchaus weiter trägt, weit in die Filmgeschichte hinein, und formuliert scheint wie für Godard und einige andere. – Desnos hatte ja etwas übrig für die Lakonie von Zwischentiteln wie diesen: „An jenem Abend …“, „Eines Tages …“, „Währenddessen …“; aber auch für die Wucht von „Brüder“ aus dem Panzerkreuzer Potemkin; und aus Nosferatu von Murnau hebt er ausgerechnet jenen Titel hervor, der es auch Serge Daney so angetan hat: „Und sobald er die Brücke überschritten hatte, kamen die Gespenster ihm entgegen.“ (Paris-Journal, 13.4.1923; Le Soir, 26.3.1927, 15.6.1928) Sollte es da vielleicht ‚geheimnisvolle Korrespondenzen’ gegeben haben, Ideenstränge, die unterirdisch oder ganz irdisch verlaufen sind?
(Und siehe da: bei André Breton, in „Die kommunizierenden Röhren“, zuerst 1932, taucht genau diese Stelle ebenfalls auf, sogar mit einem Foto aus Nosferatu und der Legende: „An der Biegung der Kleinen Brücke“.)

Freitag, 25.04.2014

Deöss iss oarg!

Es muss um 1982 herum gewesen sein, dass eine Gruppe junger Österreicher – drei Männer und zwei Frauen – an der Haustür unserer Wohngemeinschaft in Hannover klingelte. Alle Anfang 20, so wie wir selbst, die wir zu fünft in einer großen Altbauwohnung in der Nordstadt gegenüber des Georgengartens und der Herrenhäuser Gärten wohnten – nur einen Katzensprung entfernt zur Fakultät Freiraumplanung und Gartenbau, die unseren studentischen Mittelpunkt bildete. Eine der beiden Frauen war hochschwanger und ihr Freund gehörte zur Gruppe der drei Männer. Sie waren gekommen, um in den Sommerferien in Deutschland bei Continental zu arbeiten, die Schwangere nur um ihren Freund zu begleiten. Das war heftige und ungesunde Arbeit in der Reifenproduktion, aber man konnte zu der Zeit offenbar sehr viel mehr Geld in Deutschland als in Österreich verdienen.

Sie baten um Asyl. Sie waren tatsächlich von Haustür zu Haustür gegangen und hatten die Klingelknöpfe nach Wohngemeinschaftsnamenlisten abgesucht und gefragt, ob es über den Sommer Platz gäbe. Wir konnten vier von ihnen Unterkunft gewähren, da zwei Zimmer urlaubsverwaist waren. Es blieben das Paar und die beiden Männer – kein Paar, aber eine Jungenfreundschaft. Einer von ihnen hieß Michael Glawogger und war mit den anderen aus Graz gekommen.

Zu Zeiten meiner Hannover Tage war ich wahrscheinlich dreimal die Woche im Kino und sammelte die Programmzeitschriften von Apollo- und Raschplatzkino, den Programmkino-Gründungshäusern des späteren Flebbe-Imperiums. Die diskutierten Michael und ich – er nach hartem Arbeitstag, ich nach sehr freiem Studentenalltag – auf meinem Bett liegend Film für Film durch. Er würde später nach San Francisco an die Filmschule gehen wollen. Soviel war schon klar. Selber hatte ich zu dieser Zeit noch nicht den Mut, mich zu Film in ein produktives Verhältnis zu setzen.

Im nächsten Sommer waren die beiden Männer wieder bei uns. Michael war inzwischen tatsächlich kurz in San Francisco gewesen, erzählte von Supermärkten, die man inmitten der Nacht besuchen konnte und wir machten mit der Wohngemeinschaft und den beiden Ösis einen Ausflug nach Hamburg, um den Abend in der FABRIK zu verbringen. Dann endete mein Kontakt zu Michael Glawogger.

Über den Film MIT VERLUST IST ZU RECHNEN von Ulrich Seidl, an dem Michael Glawogger mitgearbeitet hatte, nahm ich in den Neunzigern nach eigenem absolvierten Filmstudium Notiz von seinem Filmschaffen und rief ihn später an, um an alte Zeiten anzuknüpfen. Das gelang aber nicht.

Meine Fremdsprachenkenntnisse des Österreichischen beschränken sich seitdem auf:

Deöss iss a Sandler!
Deöss iss oarg!

Donnerstag, 24.04.2014

Langtexthinweis

* Besuch bei Naum Kleiman

Montag, 21.04.2014

Filme der Fünfziger XII: Geliebtes Fräulein Doktor (1954)

Ulrich Kurowski hat Hans H. Königs Film „Rosen blühen auf dem Heidegrab“ (1952) zu einem Klassiker des Heimat-Schauer-Melodrams erklärt, aber die wenigsten werden überhaupt irgendeinen Film von König gesehen haben. Der Produzent Richard König war der ältere Bruder des Regisseurs Hans und Hans war mit Edith Mill verheiratet, seiner bevorzugten Schauspielerin. Richard dagegen hatte früher als Mitinhaber der Objectiv-Film Josef von Bakys „Und über uns der Himmel“ (1947) und „Der Ruf“ (1948/49) produziert. „Geliebtes Fräulein Doktor“ sei, so Wikipedia, ein Remake des Jenny Jugo Films „Unser Fräulein Doktor“ von 1940. Das stimmt nicht.

Jungen singen im Gleichschritt in den Bergen ein frohes Lied und spielen am Abend dem Lehrer einen Streich; der Lehrer fällt in einen See und kündigt sofort seine Stelle. Es ist nicht der erste Lehrer, den die Internatsklasse von der Schule getrieben hat. An seine Stelle tritt Frau Doktor Maria Hofer (Edith Mill), frisch aus dem Kloster engagiert. Die Kamera fährt bei ihrer Ankunft den Frauenkörper ab und registriert von der altbackenen Frisur bis zu den Haferlschuhen eine graue Provinzmaus mit einem attraktiven Gesicht. Die Jungen hatten sich eine andere Frau als Lehrerin vorgestellt; Klassenprimus Cicero (Hans Clarin) formuliert Liebesbriefe an das Fräulein, die er mit dem Namen des Sportlehrers Dr. Hans Klinger (Helmut Schmid) signiert. Und jeweils am Ende des Briefes gibt es ein Postscriptum, in dem Cicero/Klinger Maria auffordert, sich doch andere Schuhe, andere Strümpfe, eine andere Frisur und ein anderes Kleid zuzulegen. Jetzt mausert sich das Fräulein zu einer aus einem Modeartikel entsprungenen attraktiven jungen Frau – die Litfass-Reklame für Arwa Nylonstrümpfe gibt den letzten Anstoß. Mit der neuen Kleidung wächst auch die Liebe zum heimlichen Verehrer Dr. Klinger, einem Muskelprotz mit Stroh im Kopf, der natürlich von seinen Liebesbriefen gar nichts weiß. Dass er selbst auch schon verliebt ist, muss ihm Pater Anselmus (Robert Freitag) beibringen. Weil der Geistliche wie alle katholischen Pfarrer den Knabenchor leitet, heißt er auch Pater Tralala. Es kommt zu autosuggestiven Vorfällen. Bei einem Gottesdienst wähnt sich die Lehrerin als Braut vor dem Altar und ruft ganz laut und zur allgemeinen Verwunderung „Ja“. Der Junge Cicero verliebt sich auf Grund seiner Liebesbriefe für eine kurze Unsterblichkeit in das Frl. Doktor, aber natürlich finden die beiden Doktores zueinander, mild belächelt vom Direktor des Internats,  einem weiteren Doktor. Zum Schluss gibt es einen Fackelzug,  bei dem die Jungen die klassischen Zeilen des Eingangsliedes singen: „Keine lange Meile/ macht mir lange Weile/ Nur das eine wünsch ich mir/ dass Du nicht schon längst/ Herz und Hand verschenkt.“

Bis auf die weibliche Hauptperson, die mit einer Klosterszene eingeführt wird, hat keine der Personen ein biographisches Vorleben. Versammelt sind die Lieblingsfiguren des Volksgeschmacks. Die Jungen sind eine „Rasselbande“, der Pater ist sportlich und weltoffen, der Direktor (Hans Nielsen) gütig und streng zugleich und der Sportlehrer selbstredend ein guter Kumpel. Nur „Unser Fräulein Doktor“ braucht noch männliche Einflussnahme, um dem Volksbild die lieblich-moderne Note zu geben. Das Internat hat den Charme eines fünfziger Jahre Reformbaus; es liegt zwar auf dem Land, aber doch auch in der Nähe einer Stadt mit Litfaßsäulen. Und dann auch wieder in der Nähe eines mächtigen Gotteshauses.

Der Film wurde im Garutso-Plastorama-Verfahren gedreht, einer der vielen technischen Erfindungen, mit denen man Anfang der 1950er dem 3-D- und dem Cinemascope-Film die Stirn bieten wollte. Der Schauspieler Helmut Schmid, später Ehemann von Lieselotte Pulver, wurde von König entdeckt und spielt hier seine erste Filmrolle. Ein weiterer Filmdebutant ist Christian Doermer, einer der Jungen aus der „Problemklasse“. Pieter Kunheim, der Sohn von Brigitte Helm, trat das erste und allem Anschein nach auch das letzte Mal vor der Kamera auf. Die Musik schrieb Werner Richard Heymann, die Liedtexte Robert Gilbert – für beide war das eine Brotarbeit. Der Kameramann Kurt Hasse wurde wenige Jahre später mit „Himmel ohne Sterne“ bekannt; ihm assistierte Heinz Pehlke. Wahrscheinlich sind diese beiden dafür verantwortlich, dass eine Sequenz im Klassenzimmer in Erinnerung bleibt. Die Jungen müssen Strafe absitzen und skandieren: „Wenn ich nicht im Karzer säße, fräße ich jetzt Harzer Käse“. Dazu Top-Shot Aufnahmen der Klasse, Großaufnahmen von gegeneinanderschlagenden Schuhsohlen auf einer Schulbank und weit im Hintergrund das Gesicht von Hans Clarin. Für solche exzentrischen Aufnahmen war Garutso-Plastorama gut.

Nicht auf DVD, nicht auf Video.
Atelieraufnahmen in Geiselgasteig vom 20. September bis 12. November 1954
Außenaufnahmen vom 14. bis 26. Oktober 1954

Samstag, 19.04.2014

Ostern

ABC 2009
Die Auferstehung des ABC-Cinema am Brüsseler Boulevard Adolphe Max braucht noch Unterstützung.

In einem lokalen Fernsehbericht kann man in dem ehemaligen Pornobioscoop gestapelte 35mm-Kopien sehen, Hunderte nebeneinander. Wie geduldige Zeugen, die vielleicht nie mehr vernommen werden, warten sie da. Jederzeit würden sie vor unbefangenen, vom Bürgersteig weggelockten Geschworenen ihre skandalösen Aussagen wiederholen. Filme mit Stars wie Seka und Serena, Veronica Hart, Jamie Gillis und Ron Jeremy, sie liegen beisammen – Pharaoninnen und Pharaonen gleich – in dieser mit gebührendem Respekt geöffneten Gruft.

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Jede bahnhofsnahe Innenstadt war einst mit Lockung und Versprechen geschmückt. Kein Filmmuseum konnte einer Metropole je diesen Dienst erweisen. Größtenteils anonym und beinah vergessen ist die Kunst des gemalten Filmplakats. Links: Mittelamerika auf einem liebkosten Globus, Around the World with John „The Wadd“ Holmes (1975). August heißt der Grafiker, von dessen Plakat zum Film A Coming of Angels (1977) rechts nur ein kleiner Ausschnitt zu sehen ist. Die treffend benannte Webseite Wrong Side of the Art zeigt es in Gänze, hochaufgelöst. Ebenso: Juliet Anderson (1938 – 2010), Beyond Your Wildest Dreams (1981), vivid color for ladies and gentlemen over 21 years.


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