Donnerstag, 05.05.2011

Telefon (9)


How to Use the Dial Telephone (1927)


I Have to Dial My Own Phone (1949)


Dial M for Murder (Alfred Hitchcock, 1954) *

In der Mitte des Films: plötzlich das Bild der Maschinerie, die verlässlich die Anschlüsse verbindet. Kein Fräulein vom Amt ist da, nur eine Maschine, kein Mensch, der rettend eingreifen könnte.

Anthony Dawson, Grace Kelly, Ray Milland. Weil die Sympathievergabe vom Willen nicht gesteuert, unwillkürlich vonstattengeht, ist zu diesem Zeitpunkt die Überforderung vollkommen.

Truffaut im Gespräch mit Hitchcock: „Ehe wir Dial M for Murder verlassen, über den wir gesprochen haben, als sei es einer ihrer kleineren Filme, möchte ich doch sagen, dass das einer von denen ist, die ich mir am häufigsten ansehe…“

Und wenn – durchaus möglich – in Dial M for Murder der Schlüssel zum Verständnis der dunkelsten Geheimnisse des Kinos zu finden wäre, wie würde derjenige, der wüsste, in welches Schloss dieser Schlüssel passt, am Ende dastehen?

Dienstag, 03.05.2011

Kinohinweis (Berlin)

Mittwoch, 4. Mai, 19.00 Uhr, Arsenal, Kino 1 (Wiederholung: 9.5.)

Die endlose Nacht (BRD 1962, Regie: Will Tremper)

In SigiGötz Entertainments »Kanon des deutschen Films« schreibt Rainer Knepperges:
»Der nie kopierte Prototyp eines wirklich neuen deutschen Films. Nebel über Tempelhof, das war der (bessere) Arbeitstitel. Nicht »endlos« ist diese Nacht im Flughafen, sondern ewig gegenwärtig, als stünde die Zeit still. Improvisiertes Monumentalkino in Schwarz-weiß und Ultrascope, als läge Berlin in Italien. Mit Harald Leipnitz (Tremper: »mein Jack Palance«).«

Sonntag, 01.05.2011

Film maudit / Introduction / World Cinema

Auf der Website des Caboose-Verlags ist ein sehr schöner Scan des Katalogs zum »Festival du film maudit, Biarritz, France, July–August 1949« herunterzuladen (PDF, 56,5 MB).

***

JEAN‐LUC GODARD: But maybe I should explain a little what’s happened, that I’ve come here, that I have an agreement with the Conservatory…

SERGE LOSIQUE: I already explained that.

You explained it? All right, we’ll . . . Oh, I can explain it, maybe I’ll explain it a little differently.

SERGE LOSIQUE: If you like, by all means, you’re the head gardener.

You spoke about gardening?

SERGE LOSIQUE: Exactly.

Für 2012 beim gleichen Verlag angekündigt: Die Englische Erstübersetzung von Godards »Introduction to a True History of Film and Television«. Eher als um eine Übersetzung handelt es sich dabei um eine komplette Neutranskription nach der Videoaufzeichnung der Veranstaltungsreihe von 1978. Wie stark sich diese Fassung von der Französischen Buchversion (und von Frieda Grafes & Enno Patalas‘ Deutscher Übersetzung) unterscheiden wird, lassen zwei kurze Auszüge ahnen:

* First Voyage, Part One, Friday 14 April 1978

* Third Voyage, Part One, Friday 9 June 1978

***

Auch interessant: Die Reihe Critical Filmographies of World Cinema, deren Band zu Südamerika hier verfügbar ist.

Amerikanische Kinos (3)

Im Alamo Drafthouse nehmen die Kellner kurz vor dem Film die Bestellung auf, servieren im ersten Akt das Essen und die Getränke, bringen nach dem zweiten die Rechnung und nehmen die Kreditkarten mit, um spätestens beim Abspann die Quittung unterschreiben zu lassen. Dass dies nicht stört, ist zu gleichen Teilen der Unauffälligkeit des Personals und der Dienstbarkeitsarchitektur des Kinosaals geschuldet: Die Verkehrswege der Kellner sind tiefergelegt, statt durch die Sichtachse der Zuschauer laufen sie hinter dem Rücken der fünf Fuß tieferen Vorderreihe entlang.

Das Grilled Chicken Club Sandwich kann ich empfehlen, es kostet $ 9,99.

Im SXSW-Programm war mein Blick auf ROAD TO NOWHERE von Monte Hellman gefallen, eine Nachmittagsvorstellung um 5 pm. Zwei Stunden früher läuft ein anderer Film, INSIDE AMERICA, von einer österreichischen Regisseurin. Sechs Teenager an einer texanischen High School. Die Highschool-Schönheit, die in Wirklichkeit unglücklich ist, der schüchterne Idiot, die gangmäßigen Latino-Prolls. Deren Linien, man ahnt es, werden sich im weiteren Verlauf des Films kreuzen. Jetzt wird der österreichische Kontingenzfilm tatsächlich schon nach Amerika exportiert!

Hellmanns Film ist toll. Ludger Blanke hätte bei so einem Film landen können, wenn er weitergemacht hätte mit dem Filmen. Der TOD-DES-GOLDSUCHERS-Blanke, mit dem Aus-der-Rolle-Fallen und der unangestrengten Freiheit, die sich für das Erzählen daraus ergibt. Man würde das nicht denken bei ROAD TO NOWHERE, wenn man liest, dass hier zum x-ten mal die Geschichte vom Filmregisseur erzählt wird, der mit seinem Film nicht zu Rande kommt.

Der Film ist mit dem Canon-Fotoapparat gedreht, von dem seit Cannes 2010 alle reden. Ein krispes, beinah überscharfes Bild, das mich an den Moment erinnert, an dem ich als Jugendlicher meine erste Brille bekam. Ich wusste nicht (oder hatte es vergessen), dass die Welt auch in scharf existierte. Niemand hatte mich auf diesen Schock vorbereitet, aber ich gewöhnte mich daran so schnell ich mich hier an den neuen Bildtypus gewöhne. Ich würde sagen, dass die Glätte der Oberflächen und Konturen aus dem hochauflösenden Video kommt und die Raumverhältnisse aus dem klassischen Kino. Der Regisseur des Films, der in Hellmans Film gedreht wird, liegt zwischendurch dreimal mit der Hauptdarstellerin auf dem Bett und guckt Filme auf einem großen Plasma-Schirm. Einmal einen Noir mit Barbara Stanwyck, dann Erices SECRETS OF THE BEEHIVE, dann DAS SIEBENTE SIEGEL von Bergmann. Nach den Filmsichtungen ist er immer völlig erschöpft. »Fuckin’ Masterpiece« sagt er frustriert, als der Abspann von SECRETS OF THE BEEHIVE über den Bildschirm rollt.

Hellman selbst ist zur SXSW-Vorstellung nicht da, aber seine Tochter, die den Film produziert hat. Vor dem Film bittet sie um einen Applaus für Warren Oates’ Tochter, die auch im Saal sitzt. Als ich aus dem Kino komme, scheint die Sonne noch auf den Mall-Komplex, in dem das Alamo South Lamar liegt.

[Mittwoch, 16. März 2011, Alamo South Lamar, 1120 South Lamar Boulevard, Austin, TX 78704]

Donnerstag, 28.04.2011

Look, he even spells out “at!”

Interior, Bistro, Lower Manhattan.

Hal Hartley (early-fifties, laid-back but troubled) sits and frowns at a page deep in the middle of Roberto Belano’s The Savage Detectives. He turns over a page, finishes a chapter, and removes his reading glasses. He contemplates his double espresso. Meanwhile, to his left three casually well-dressed young executives continue a heated discussion…

CHET: It’s outrageous!

LOLA: Let me see.

Chet holds out his mobile device and shows Lola a text message. Their friend, Kurt, paces nearby, scheming distractedly.

CHET: Why text “would you like to meet for drinks at seven?

KURT (stops and turns): Did he spell “seven” or just use a number?

LOLA: He spells it out!

CHET: Now that’s just verbose.

KURT (his suspicions confirmed): Or worse!

LOLA: “Drinks at numeral seven question mark” is like I guess beneath his dignity? Look, he even spells out “at!”

KURT: (fatigued) This is more complicated than I thought.

Hartley decides it’s probably a good time to evaporate. He leaves some bills on the small table and heads for the door with his book. Lola notices him and grabs Chet’s arm…

LOLA: Hey, is that?

CHET: You mean?

LOLA: The guy who made, oh, you know, what’s it called?

KURT: You mean with the girl and the book and the guy from the television repair shop?

LOLA: Something like that. It’s unimportant, really. I was moved, true. But I was young.

* This week Hal Hartley started a blog in the form of a screenplay charting his fictional adventures in the all-too-real world: action, adventure, romance, endless digression, furious debate, shameless self-promotion…

Samstag, 23.04.2011

OUR TIMES / Wahl in Iran 2001

Ein ganz anderer Film, direkt aus dem Iran, über die Wahl 2001. Die Regisseurin Rakschan Bani-Etemad filmt ihre Tochter, die wie viele ihrer Generation engagierte Wahlhilfe für den Reformen versprechenden Kandidaten Khatami leistet. Dieser Aufbruch der Jugend markiert schon den Beginn der grünen Revolution von 2009. Bei dieser Wahl bewerben sich etwa 300 Frauen (!) für die Präsidentschaft. Aus Skeptik gegenüber Khatami interessiert sich Bani-Etemad für diese Frauen und porträtiert im Hauptteil ihres Films eine dieser Kandidatinnen.

Eine geschiedene Frau im Alltagsstress, die ihre blinde Mutter und eine Tochter ernährt. Die leichte Lösung – sie ist sehr attraktiv – einer erneuten Heirat schließt sie aufgrund der Erfahrung mit dem ersten Mann aus. Der Film zeigt ihren Kampf um Unabhängigkeit, indem er ihr schlicht bei der Wohnungssuche folgt – worin eine alleinstehende Frau so gut wie keine Chancen hat. Als ihr Boss sie nach drei Tagen angemeldeter Abwesenheit einfach entläßt, bricht diese starke Frau tatsächlich in Tränen aus. Der Film ist ihr sehr nah und dennoch kommt keine falsche Intimität auf. Und die persönliche und politische Dimension bleibt ungeteilt.

The Green Wave

Vor den Wahlen 2009 erhob sich das iranische Volk in spontanen Massendemonstrationen, um Reformen zu verlangen und den Oppositionskandidaten Moussavi zu unterstützen. Die Bewegung nannte sich und trug grün: Fähnchen, Armbänder, T-shirts, eine lange grüne Stoffbahn schwebte durch Teherans Straßen. Die Farbe grün symbolisierte Hoffnung und – als Farbe des Islam und Element der Landesflagge – auch eine Art Loyalität gegenüber dem Staat.

Der Film THE GREEN WAVE dokumentiert die Ereignisse anhand einiger Interviews, Amateurfilmmaterial und Textquellen aus der Kommunikation im Internet. Zu etwa einem Drittel besteht der Film aus gezeichneten Animationen (ein wenig spröder als in “Waltz with Bashir”), die diese tagebuchartigen persönlichen Schilderungen illustrieren.

Das Gros der Iraner wählt Moussavi, doch das Regime verkündet eine Mehrheit der Stimmen für Ahmadinedjad und schlägt im Folgenden die Protestbewegung brutal nieder. Es gibt Tote, zahlreiche Verletzte, Verhaftungen, Folter. Der Film fängt sowohl die Euphorie vor der Wahl als auch das folgende humanitäre Desaster in den Bildanimationen ein und rührt viele Zuschauer in der zweiten Hälfte zu Tränen. Der Schnitt (B.Toennieshen/A.Menn) flechtet geschickt das wenige Dokumentarmaterial in die gezeichnete Welt ein. Der Film, produziert mit Arte, zirkuliert auf Festivals und sein menschenrechtliches Anliegen wurde gerade mit dem Grimme-Preis belohnt.

THE GREEN WAVE hebt auf die mit den Ereignissen verknüpften Emotionen ab – liefert jedoch wenig politische Analyse oder komplexe Zusammenhänge. Wenn man ihn mit Filmen von z.B. Patricio Guzman vergleicht, bleibt ein schales Gefühl zurück. Daß der Regisseur Ali Samadi Ahadi auf das für TV typische reenactment mit Schauspielern verzichtet und den neuen Weg des motion comic geht, rechnen ihm viele Filmbesprechungen hoch an. Aber warum dürfen heutige Dokumentarfilme nicht mehr brechtisch, puristisch, fragmentarisch, selbstreflexiv, medienkritisch sein, sondern müssen ein Drama mit klarer storyline aufbieten? Die Dinge selbst treten vergleichsweise in den Hintergrund. Seinen stärksten Moment hatte der Film für mich mit dem Zeigen der linientreuen Erklärung Khatamis nach der Wahl und nicht mit der Ermordung des Kindes, das Joghurt kauft.

Dienstag, 19.04.2011

Telefon (8) – No, I’m not at any place where you can reach me

Romy ScheiderLes choses de la vie (Claude Sautet, 1970)

Michel Piccoli hatte ein paar Stunden vorher von einem Postamt auf dem Land angerufen. Romy Schneider war nicht zuhause und er hatte bei der Vermittlung die Nachricht hinterlassen, die sie hier hört. Bestellen Sie ihr bitte, sie wird heute Abend erwartet, in Rennes, im Hotel Duguesclin, und zwar sehnsüchtig. Augenblicklich wird sich Romy Schneider nach Rennes aufmachen, ihn zu treffen, das Versprechen einer Versöhnung mit Piccoli bestürzt sie, das Glück darin versucht sie festzuhalten mit beiden Händen. Aber in der Zwischenzeit, die vergangen ist zwischen dem Sagen der Nachricht und ihrem Empfangen, hatte er einen Autounfall auf einer Landstraße und wird gerade jetzt ins Krankenhaus eingeliefert, wahrscheinlich wird er sterben. Romy Schneider kann das nicht wissen.

Karen BlackThe Outfit (John Flynn, 1973)

Audio MP3

Karen Black telefoniert mit ihrem Vater. Sie sucht Zuflucht vor dem Drifterleben, in das sie gerutscht ist. Robert Duvall hat sie gegen Anfang des Films widerwillig die fünf Zigarettenbrandlöcher auf ihrem Unterarm gezeigt, mit denen die Gangster des Syndikats sie gezeichnet hatten. Gegen das Syndikat geht Duvall mit entschlossener Effizienz an, weil er findet, sie haben eine Rechnung mit ihm offen, eine unbeglichene Schuld, deren Anerkennung ihm verweigert wird. Seiner Existenz als Krimineller gibt sein Vorgehen Form, Richtung und Würde. Karen Black ist ihm dabei kaum Komplizin. Sie gibt ihm nur noch mehr Vorschub für den Kampf. In der Szene hier wird klar, dass es nicht ihr Kampf ist, es ist allein Duvalls, und sie will aussteigen, und erstmal fällt ihr nichts besseres ein als ihren Vater anzurufen. Operator, I’d like to call Pittsburgh… Vermutlich wurde für die DVD die Nummer entfernt, die Karen Black der Vermittlung nennt. Nachdem sie durchgestellt worden ist, wechselt sie ihre Stimmlage in die eines kleinen Mädchens. Listen Daddy, be it alright if I came home for a while. Sie wünscht sich zurück aus dem ziellosen Drift der Gegenwart in die behütete Vergangenheit des kleinen Mädchens und zärtlich streichelt sie ob der Möglichkeit der Wunscherfüllung das Metall der Telefonzelle. Es ist an ihrer Reaktion zu erahnen wie brüsk ihr Vater den Rückkehrwunsch ablehnt. Dem erhofften Schutz aus der Vergangenheit, für den sie ihre Stimme in die des kleinen Mädchens zurückverwandelt, das sie einmal war, und den sie zärtlich mit dem Streichen ihrer Hand über das Metall unterstützt, misstraut der Film von Beginn der Einstellung an. Karen Black ist nur ein gleichgültiger Bestandteil von vielen in diesem Bild, die Straße und die vorbeifahrenden Autos, die sich in der Glassscheibe spiegeln, die vorbeigehenden Passanten, die schwarze Frau in der zweiten Telefonzelle, die Geräusche des Verkehrs. In diesem Zuviel an Welt und Gegenwart sollte Karen Black keine Hoffnung hegen auf Rettung und keinen Trost erwarten von der Vergangenheit. No, I’m not at any place where you can reach me. Wenig später im Film sieht man Karen Black in einem beklemmenden Bild auf der Rückbank des Wagens Kaffee aus einer Thermoskanne eingießen für Duvall, aus dem vorgestellten Kind ist ein Muttertier geworden.

Sonntag, 17.04.2011

Amerikanische Kinos (2)

Das „Zeitgeist“ in New Orleans ist kein Kino, es nennt sich Multi-Disciplinary Arts Center. Was nach unterkühltem Kunstort klingt, ist ein angenehm provisorischer, großer Raum mit zusammengewürfelten Sitzmöbeln. Seit 1986 gibt es „Zeitgeist“, sie haben nie einen Dollar Subventionsgelder erhalten, betont der stämmige Mann in Shorts, der vor den Filmen ein paar Worte sagt. Vorher verkauft er Bier an der Theke. Er weist auch darauf hin, dass man, wenn man während der Vorstellung aufs Klo gehe, das Licht erst dann anmachen soll, wenn die Klotür zu ist, sonst scheint es in den Projektionssaal hinein. Bevor er das Wort an den Organisator des Abends übergibt, macht er Werbung für die Filme von Helen Hill, die man – auf DVD – an der Kasse für 20 Dollar kaufen kann. Mit dem Geld soll eine Filmkopie finanziert werden, damit ihr letzter Film fertiggestellt und auf einem Festival gezeigt werden kann. Helen Hill ist am 4. Januar 2007 in ihrem Haus in New Orleans ermordet worden, sie war 36 Jahre alt.

An diesem Abend werden zwei Projektionsperformances von Luis Recoder und Sandra Gibson gezeigt. Die beiden haben ihre Arbeiten nachmittags auf der Konferenz vorgestellt, dies ist nun der praktische Teil. Ich habe vergessen, wie die beiden Performances heißen, aber beide basieren (wie die meisten Arbeiten von Recoder/Gibson) auf kleineren oder größeren Modifikationen der 16mm-Projektoren. Bei ihrer Präsentation nachmittags gab es eine Arbeit zu sehen, bei der in einer Galerie ein Projektor steht, dem die Auffangspule fehlt. Das Filmmaterial fällt auf den Boden der Galerie und türmt sich dort zu einem verknäulten Berg, solange die Ausstellung dauert.

Die Eingriffe bei den beiden Arbeiten heute abend sind komplizierter. Bei der ersten, etwa 30 Minuten lang, kommen zwei Projektoren zum Einsatz, die unscharfe und an den Rändern ausgefranste Farbflächen projizieren. Die beiden Bilder lagern sich übereinander, lösen sich von der Wand ab, bekommen eine flüchtige Räumlichkeit, geraten ins Flattern. Wie der atmosphärische elektronische Klang damit zusammenhängt, ist nicht ganz klar. Als eines der Bilder zwischendurch einmal etwas an Schärfe gewinnt, merkt man, dass den abstrakten Farbflächen ein konventioneller Erzählfilm zugrundeliegt, man kann Schuss- Gegenschuss-Passagen ausmachen. Ein besonders gut präparierter Filmkonferenzteilnehmer wird später in der Lage sein, den Film zu identifizieren. Die beiden Künstler sagen aber, dass ihnen der Film egal ist, es gehe ihnen nur um die Farben und Rhythmen (Komisch, denke ich, was soll denn Film anderes sein als Farben und Rhythmen).

In der zweiten, stummen Performance hat das Bild zwar rechts und links Grenzen, aber oben und unten setzen sich seine Farben als bunte, vertikale Streifen auf dem Boden und die Decke entlang wie ein langer, schmaler Vorhang fort, der sich wogend nach links und rechts bewegt. Ich bin mir nicht sicher, ob dies der perfekte Film für Tapetenverkäufer oder im Gegenteil ihr Alptraum ist. Man könnte, sollte oder müsste bei dieser Performance vielleicht aufstehen und im Raum umhergehen. Aber um mich herum steht niemand auf und geht im Raum umher, und also stehe auch ich nicht auf und gehe im Raum umher.

[Freitag, 11. März, Zeitgeist Multidisciplinary Arts Center, 1618 Oretha Castle Haley Blvd., New Orleans, LA 70113-1311]

Donnerstag, 14.04.2011

A TOUT PRENDRE (Alles in allem)

Dir: Claude Jutra

Ein Schwarzweißfilm in 1:1,33 aus Quebec, 1963. Ein Mann erzählt seine Liebschaft mit einer wunderschönen Frau – die auf einer Party, ein kreolisches Lied singend, in sein unabhängiges Singledasein hereinbricht wie die aufgehende Sonne. Pure Lebenslust, Sinnesfreude, Freiheit, Vertrauen, manchmal auch etwas Schwermut strahlen aus den Bildern ihrer Begegnungen, Bewegungen, Umarmungen. Alles ist leicht, beschwingt, fragmentarisch erzählt, in diesem frischen Atem des Aufbruchs der 60er – mit meisterhafter „Handlungslosigkeit“ und doch alles in Bewegung. Die Hälfte des Films spielt im winzigen Apartment des Mannes, das nicht viel mehr als ein Bettsofa enthält. Das schmale Fenster fungiert als Ersatztür zum Nachbarn, wenn man sich Whisky oder Schallplatten ausleiht. Und als schmaler Ausblick in die Welt, wo Kinder Cowboy spielen und Männer erschießen, die Frauen küssen.

Der autobiografische Spielfilm (Jutra selbst spielt den Protagonisten) strotzt von visuellen Einfällen und ist gedreht in cinema direct-Stil (gewidmet Norman McLaren und Jean Rouch), aufgemischt mit Phantasiesequenzen, in denen Gangster und schwule Ledertypen den Mann verfolgen, oder Ausflügen in die Filmwelt (der Protagonist agiert als Regisseur bei einem Dreh/charmant demonstriert François Truffaut der Kreolin einen Zigarettentrick). Wenig synchrone Dialogszenen, musikuntermalte Montagen, in knappen selbstironischen Sätzen kommentiert der Mann die Ereignisse.

Das Drama nimmt seinen Lauf, als die schöne Frau schwanger wird. Der bisher so verliebte Mann, der trotz mehreren Seitensprüngen doch schon selbst ans Heiraten gedacht hat, gerät plötzlich ins Schwanken. Jutra montiert Bilder eines Hausabrisses in einen langen Wortwechsel des Paares über die Zukunft zu dritt.

Der Mann konsultiert seine Mutter, eine moderne Frau, die die Finanzen der wohlhabenden Familie im Griff hält und ansonsten ihre Hunde liebt, um ihre Meinung zum Heiratsprojekt zu hören: sie schildert sehr rational, was das für ihn bedeuten wird, dass er seinen freizügigen Lebensstil ändern, finanzielle Verpflichtungen und Verantwortung übernehmen müsse… Und der Mann läßt auch die blumig moralischen Platitüden eines befreundeten Priesters über sich ergehen.

Und dann tatsächlich kündigt der Mann seine Liebe auf. Einfach am Telefon, ein Schlag ins Gesicht. Unter dem moralischen Druck der Situation (und eines alten Freundes der Frau) leiht er sich Geld von seiner Bank, kein Problem, welches er der Frau für die Kosten einer Abtreibung schickt. Sie – hockt in Tränen vor seiner Tür, schreibt verzweifelte Briefe. Später enthält einer die Nachricht, dass sie das Kind auf natürliche Weise verloren habe. Der Mann hat Selbstmordvisionen, lebt aber weiter. Und der Film endet, einfach so, und liefert keinen anderen Grund als den unlösbaren sozialen Konflikt. Ein weißer Mann aus guter Familie heiratet kein schwarzes Fotomodell.

– Dagmar Kamlah –


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