2008

Donnerstag, 24.01.2008

nach Westen

Auszug aus einem Brief Roger Meltons an Rupert Sent Leger vom 11. Juni 1906:

Mein Lieber Neffe, als du ausgerissen warst, um zur See zu gehen, machte ich mir heimlich meine vielfältigen Handelsverbindungen zunutze, um herauszubekommen, was aus dir geworden sei. Du warst von so abenteuerlicher Natur, dass sogar mein ausgedehntes und weitreichendes System, mit dessen Hilfe ich Informationen sammelte – mein privater Geheimdienst sozusagen -, dir nicht gewachsen war. Mein System reichte eben nur für den Osten aus – im großen und ganzen. Aber du gingst nach Norden und Süden und auch nach Westen, und da betratest du Bereiche, in denen Handel und Angelegenheiten realer Natur keinen Platz haben – Welten der Gedanken, Welten von spiritueller Bedeutung, der psychischen Phänomene – allgemein ausgedrückt die Welt der Geheimnisse. Da ich bei meinen Erkundigungen oft ins Leere stieß, musste ich mein System erweitern und rief zu diesem Zweck – nicht unter eigenem Namen, versteht sich – eine Reihe neuer Magazine ins Leben, die sich mit gewissen Sparten der Forschung und des Abenteuers befassten. Mit Hilfe des „Journals für Abenteuer“, des „Magazins der Geheimnisse“, des „Okkultismus“, „Ballon und Aeroplane“, der Zeitschrift “Unterseeboot“, „Dschungel und Pampas“, „Geister-Welt“, „Der Forscher“, „Wald und Insel“, „Ozean und Flüsse“ war ich sehr oft darüber gut informiert, wo du dich zu welchem Zweck aufhieltest…

(Bram Stoker: Das Geheimnis des schwimmenden Sarges, 1909,
übersetzt von Dr. Ingrid Rothmann, Bastei-Lübbe-Taschenbuch, Bergisch Gladbach, 1982)

Dienstag, 22.01.2008

14/100

Die Geschichte vom Nachwuchsproduzenten, der, möglicherweise aufgrund seiner Anfälligkeit für narkolepsiebedingte Auszeiten, die noch unbelichteten Filmrollen eines Drehtags nachts auf der Rückbank des Taxis vergaß, was den ohnmächtig zwischen Wut und Frustration schwankenden Regisseur dazu nötigte, im darauf folgenden Sommer mit dem gesamten Team einen Nachdreh organisieren zu müssen.

Sonntag, 13.01.2008

The City of the Future

Die Urgeschichte der Zukunft der Stadt sucht Patrick Keiller in den Bildern ihrer Vergangenheit. Das ist sein Projekt an der Londoner Royal Academy of Arts, ein Zwischenergebnis seiner Archivarbeit präsentiert er seit Ende November als Installation im vormaligen NFT (neuerdings BFI Southbank). Angelehnt ist das an einen Gedanken von Bergson, der als Motto fungiert: Wenn die naturgesetzliche Kausalität irgendeine Gültigigkeit habe, müsse doch in der physikalischen Gegenwart eines Abgebildeten das Kommende schon enthalten sein. Mit dieser deterministischen Sottise, die an Laurie Andersons drollige Schallarchäologie in geschlossenen Räumen erinnert, macht Keiller Ernst.

Auf fünf frei hängenden Leinwänden laufen Filme aus der Frühzeit, Newsreel-Material, actualités, hauptsächlich ihrerseits bewegte Bewegtbilder, oft aus Verkehrsmitteln aufgenommen und fast alle ungeschnitten. Großstädtische Straßenszenen, Flüsse, Ausflügler in Dampfbooten, Liverpool, Manchester, Jerusalem, London. Zuschauer können, wenn sie denn endlich an der Reihe sind, die Projektionen von Pulten aus wie eine DVD steuern. Stadtpläne und Landkarten erleichtern die Navigation. Zwischen einer und drei Minuten lang sind die Filme, wie um 1900 eben üblich.

So filmen heute nur noch unbedarfte Amateure oder unverzagte Avantgardisten: die Kamera aus einem fahrenden Vehikel unverdrossen in die Gegend halten. Vor hundert Jahren war es noch eine Attraktion und Stoff genug für Newsreel-Streifen der Marken Biograph, Lumière & Co, von denen Patrick Keiller unzählige gesichtet und 68 ausgewählt hat: “phantom rides”, aufgenommen von fahrenden Bahnen, Wagen, Schiffen; führerlos, kommentarlos; ein Repertoire urbaner Achsen und Adern, ein Panorama der Panoramen. Die Sammlung reizt zum Listenbilden.

Es ergibt sich ein Inventar der Bewegungsvektoren: Ankünfte, Abstiege, raumgreifende Diagonalen und Kreisbeschreibungen, zweigleisige Tracking-Feedbacks beim Filmen eines fahrenden Zugs aus einem parallel fahrenden. Kino und Verkehr überkreuzen sich in einem Blickpassagenprojekt. Menschen kommen auch vor und schauen dann frenetisch winkend zurück. An der Dauer der unmontierten Aufnahmen interessiert Keiller laut Begleittext der prekäre Moment an der Schwelle einer Revolution im Raumbewußtsein des modernen Menschen, dessen Blick dabei aber noch der linearen ganzheitlichen Logik einer vergehenden Epoche verhaftet bleibt, die Sichtweise des Menschen, der des Umbruchs von Undustriezeitalter und Montage noch nicht inne geworden ist.

Solche Spekulationen bleiben leider Rudiment, wie die ganze Installation eher Zwischenstandsbericht als fertiges Werk ist. Einen erklärenden oder komplizierenden Kommentar behält sich Keiller für eine angekündigte Filmfassung vor, von der er live bei einer Begehung der Ausstellung letzte Woche aber schon wieder Abstand genommen hat: Er habe ein fiktionales Format ausprobiert, dann jedoch unbefriedigend gefunden. Das ist tatsächlich unbefriedigend, aber andererseits auch wieder gut. Denn das alles klingt eh weniger originell, als es aussieht – jedenfalls nach ein, zwei Stunden hypnotischer Versenkung. Ohne robinsonesken Überbau kann man sich um so unbeschwerter im Urfilm der vorbeirauschenden Stadtschaft verlieren und auf eigene Faust Zukunft interpolieren. Kann man noch bis 3. Februar 2008, sollte sich jedoch beeilen, die Tasten der unpraktischen Bedienpulte hakeln schon.

Mittwoch, 09.01.2008

La question humaine

Die unverwüstliche Jungenhaftigkeit des Mathieu Amalric. Hier als Erschöpfungszustand gespielt, als Durchlässigkeit gegenüber einer Gegenwart, an der nur noch zu leiden ist. Amalric ist Simon Kessler, leitender Psychologe der Abteilung Human Resources eines französisch-deutschen Chemie-Konzerns, der, damit fängt es an, „SCFarb“ heißt und vor kurzem aus den üblichen Gründen die halbe Belegschaft wegrationalisiert hat. Personalpolitik als effizienter Kurzschluss zwischen individuellen und kollektiven psychischen Systemen, ein Wettlauf zwischen Produktionserwartung und vorab diagnostiziertem Bewerberdefekt. Das dazugehörige Individuum gilt es hinsichtlich seiner Leistungsdaten auch als Privatperson transparent zu machen. Der Netzwerk-Geist des neuen Kapitalismus geistert durch diesen Film bis in die Szenen seiner unmöglichen Verdrängung hinein: der nächtliche Exklusiv-Rave, die grobe Intimität, die keine nicht-öffentlichen Räume mehr findet. Das vermeintlich „Faschistoide“ neoliberaler Verhältnisse verleitet Emmanuel/Klotz/Perceval zu verwirrten Analogiebildungen. Lou Castel gibt dem anhängigen Geschichtsverständnis den (Fremd-)Körper eines Exkludierten, der Sprachkritik übt. Wie der Film sich diese Position Schubert-umwölkt auch figurativ zu Eigen macht – die Fabrikschlote, die Gleise – ist das eine. Wie er ein Dokument aus Lanzmanns Shoah (den von Lanzmann selbst vorgelesenen „Vermerk: Betrifft: Technische Abänderungen an den im Betrieb eingesetzten und an den sich in Herstellung befindlichen Spezialwagen“) inkorporiert und ästhetisch reformatiert, ist unannehmbar. Nicht nur Amalric verliert in diesem fantasierten Kontinuum, das sich, gespeist aus den „Nachwehen der Geschichte“ (Elisabeth Perceval), angeblich immer weiter in die sprachlichen Erfassungstechniken des Globalkapitalismus fortschreibt, bedenklich die Orientierung.

La question humaine F 2007. Regie: Nicolas Klotz, Drehbuch: Elisabeth Perceval, Romanvorlage: Emmanuel Francois, mit Mathieu Amalric, Michael Lonsdale, Lou Castel

Montag, 07.01.2008

Das Leben selbst

„Mit einer von Ironie erfüllten Bewunderung erzählte Stéphane Mallarmé, er habe in einer Londoner Music Hall eine Vorstellung gesehen, die jeden Abend massenhaft Menschen anzog: Die Direktion begnügte sich damit, gegen eine angemessene Vergütung ein Ehepaar auf die Bühne zu bringen, das seinen Abend vor einem Publikum genau so verbrachte, als säße es zu Hause. Man trank Tee, plauderte darüber, was man tagsüber gemacht hatte, besprach Haushaltsfragen, man verbreitete sich vielleicht noch über die Zeitungslektüre: es war das Leben selbst. Und am Ende gingen alle ganz zufrieden zum Schlafen nach Hause. Warum nicht? Ich bin ganz sicher, daß ein Film, dessen Drehbuch sich auf das beschränkte, was die farbloseste gewöhnliche Person der Welt an einem ganz ähnlichen Tag erlebt, und in dem diese Person ganz einfach so gezeigt würde, wie sie den Tag verbringt, durchaus Anklang finden könnte.“

[Paul Valéry: „Meine Theater“ [1942], in: Ders.: Werke. Frankfurter Ausgabe, Band 2: Dialoge und Theater, hg. von Karl Alfred Blüher, Frankfurt/Main: Insel 1990, S. 434-439: 434f.]

Samstag, 05.01.2008

Langtexthinweis

* Michael Baute: Die Retrospektive mit Filmen von Hou Hsiao-Hsien im Sommer 2007 in Berlin im Babylon Mitte


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