2013

Mittwoch, 27.02.2013

Beim jüngsten Gericht/ Erschienen sie nicht

Richard v. Schirach, Die Nacht der Physiker. Heisenberg, Hahn, Weizsäcker und die deutsche Bombe, 2012, Berenberg Verlag,

Hier geht es nicht nur um die nicht gebaute „deutsche Bombe“, sondern auch um die Bombe, die die Amerikaner bauten und warfen und sich damit als erste schuldig machten. Deshalb stimmt das Buch sehr, sehr nachdenklich. Die Erleichterung, dass nicht Nazi-Deutschland den Wettlauf gewann, wird vom Horror von Hiroshima und Nagasaki, den das Buch noch einmal vergegenwärtigt, verdrängt. Die verantwortlichen amerikanischen Wissenschaftler wie Robert Oppenheimer kamen nicht mehr zur Ruhe: „Wir wussten, dass die Welt nicht mehr dieselbe sein würde…Ich erinnerte mich der Zeilen aus der Hindu-Schrift, der Bhagavadgita: ’Jetzt bin ich zum Tod geworden, zum Zerstörer der Welten.’ Ich nehme an, dass wir alle in der einen oder anderen Weise so dachten.“ Eisenhower, der Oberkommandierende der alliierten Truppen begründete damals seine Ablehnung des Bombenabwurfs so: „Einmal waren die Japaner bereit zu kapitulieren, und es war nicht notwendig, sie mit dieser furchtbaren Waffe zu schlagen. Zum andern war mir der Gedanke verhasst, dass unser Land als Erstes eine solche Waffe einsetzen sollte.“
Schirachs Buch zeigt nachvollziehbar, wie bei den 1945 von den Alliierten internierten deutschen Physikern (u. a. Otto Hahn, Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker) ein Umdenken einsetzt, aber wie verhältnismäßig komfortabel es doch für sie ist, dass sie keine Chance hatten, direkt schuldig zu werden, weil ihre Forschung noch weit zurück lag. Die Abhörprotokolle aus dem englischen Landsitz Farm Hall zeigen die Entwicklungen in den Monaten der Isolation. Ich wünschte mir beim Lesen, dass jemand daraus eine schöne Fernsehserie machen würde, mit all den tragischen und komischen Bestandteilen, die den Beteiligten selbst klar waren und mit Elementen des alten Bildungsfernsehens, wo die Geheimnisse des Atoms sich mir dann auch erschließen würden.
Carl Friedrich von Weizsäcker, der sich dort die Zeit mit dem Dichten von Sonetten und Limericks vertrieb, trägt seinen Kollegen kurz vor der Entlassung aus der Gefangenschaft diese erstaunlichen Verse vor – von der Erleichterung wohl zur frivolen Verdrehung ermutigt:
„Es waren zehn Forscher in Farm Hall,
Die galten als fürchterlich harmvoll.
Beim jüngsten Gericht
Erschienen sie nicht,
Denn sie saßen noch immer in Farm Hall.“

Montag, 25.02.2013

Fast vergessen ist die Zeit…

Fast vergessen ist die zeit
„… als in Titisee (1949), Schluchsee (1950), Bacharach (1950), Lindau (1952) und auch noch in Bad Ems (ab 1953) …“

(Enno Patalas, Filmkritik, April 1961)

Donnerstag, 14.02.2013

Eine Einstellung zur Arbeit

* Antje Ehmann & Harun Farocki, Eine Einstellung zur Arbeit | Labour in a Single Shot

Planetary Projection

* Planetary Projection. An Oral History of Film Projection.

how to write

»Sechstens also die große Frage, weshalb einer überhaupt eine Bahn einschlagen muss. […] Hat einer schon deshalb versagt, weil er die Bescheidenheit nicht aufbringen kann, sein Leben lang stur dasselbe zu tun?«

[Stefan Ripplinger: Schiefe Bahn. Künstler, die schreiben, Berlin: Wiens Verlag 2013; Heft 1 der schönen Reihe how to write, in der zeitgleich Hefte von Jimmie Durham, Dieter Roth, Hague Yang und Tomas Schmit erschienen sind]

Montag, 04.02.2013

Le Bachfilm

bachfilm

© Sammlung Heiner Roß / Nachlaß Joachim Wolf (Kinemathek Hamburg) im Filmmuseum München


Reichhaltiges Material ist erschienen zur Chronik der Anna Magdalena Bach und zu Jean-Marie Straubs achtzigstem Geburtstag: 2 DVDs, ein Begleitbuch von 154 Seiten, viele bislang unbekannte Fotographien und Dokumente. (Subskriptionsangebot bei éditionsmontparnasse)

Danièle Huillet und Jean-Marie Straub sind, wie Benoît Turquety in seinem Aufsatz „Jeunesses musicales. L’invention de Chronik der Anna Magdalena Bach“ ausführt, durch die Musik zum Film gekommen: die Chronik war ihr erstes Projekt, zu datieren auf den November 1954. Schönbergs Moses und Aron, ihr zweites Projekt, geht auf die Jahre 1958/59 zurück. Die Chronik, schreibt Turquety, war entscheidend für alles, was danach gefolgt ist: „Die Idee war, mit einem musikalischen Text so zu verfahren, wie Bresson es mit einem literarischen Text – dem Tagebuch eines Landpfarrers (1951) – von Bernanos gemacht hatte. Musik sollte darin als Materie wahrgenommen und als solche respektiert werden, keine ‚Filmmusik’ sein, sondern das Angebot eines besonderen Hörens durch die Kinematographie.“ Eine Tat war es dann, den noch unbekannten Musiker und Dirigenten Gustav Leonhardt zu entdecken und dreizehn Jahre später mit ihm, Nikolaus Harnoncourt, Christiane Lang-Drewanz und vielen andern den Film zu realisieren. Die frühe Wahl erfolgte, Turquety hebt das hervor, ausschliesslich über das Hören einer Platte Leonhardts: „Der ist es!“ Wie dieses Medium (und das Medium Film) die Musik erneut hören lässt (im einmaligen historischen Zugriff), so sei es darum gegangen, Bach neu und so zu hören, wie er seit langem nicht mehr gehört worden sei. Es habe sich nicht darum gehandelt, „Bach auf historischen Instrumenten so zu interpretieren, als sei seither nichts passiert, sondern diese Interpretation gegen das zu stellen, was seither gemacht worden sei.“ (Er nennt die Namen Karajan oder Gould.) In dem der Chronik vorangestellten Péguy-Zitat sieht Turquety einen Ausfluss dessen, was da musikalisch vor sich geht und sich dann politisch auflädt: „Faire la révolution c’est aussi remettre en place des choses très anciennes mais oubliées.“

Die Chronik der Anna Magdalena Bach (BRD 1967; Uraufführung 3.2.1968 in Utrecht) gibt es in der deutschen Originalversion mit Untertiteln in vier verschiedenen Sprachen: aber so ziemlich vergessen war, dass Huillet & Straub damals den Off-Kommentar auch französisch aufgenommen und nur die Dialoge untertitelt haben. „Dann sind wir auf den Geschmack gekommen“, sagt Straub, „und haben die niederländische, die englische und die italienische Version des Kommentars erarbeitet.“ Die Chronik – Chronique – Cronicle – Cronaca – Kroniek der Anna Magdalena Bach gibt es also nun in fünf Sprachversionen auf DVD 1, auf DVD 2 eine Filmdokumentation von Henk de By (Signalement de Jean-Marie Straub, 1968, 41 Minuten; einer der drei Kameraleute war Johan van der Keuken), ein Gespräch mit der ‚Anna Magdalena’ des Films, Christiane Lang-Drewanz (2012, 30 Minuten), Erinnerungen von Nikolaus Harnoncourt an die Dreharbeiten (2012, 21 Minuten), Gilles Deleuzes „Qu’est-ce que l’acte de création?“ (Vortrag bei der Femis vom 17. März 1987, 8 Minuten) plus unbekannte Fotographien und Dokumente.

Unbedingt erwähnenswert noch das ausführliche Gespräch (passagenweise übersetzt von Bernard Eisenschitz), das Helmut Färber mit Jean-Marie Straub über die Chronik an drei Tagen im Mai 2010 geführt hat: es geht hier wirklich, Rolle auf Rolle, um Einstellungen und Zusammenhänge, die sich nur aus diesem Blick aufs Detail ergeben. (Färber stützt sich dabei auf das Cinemathek-Bändchen 23 von 1969 über die Chronik, das ja von ihm damals im Verlag Filmkritik redaktionell betreut worden ist).
Dies alles, ebenso wie ein einführender Text von Barbara Ulrich und eine „découpage intégral du film“, also im Begleitband der Kassette.

Radiohinweis

Der Verbrecher produziert einen Eindruck, teils moralisch, teils tragisch, je nachdem, und leistet so der Bewegung der moralischen und ästhetischen Gefühle des Publikums einen »Dienst«. Er produziert nicht nur Kompendien über das Kriminalrecht, nicht nur Strafgesetzbücher und damit Strafgesetzgeber, sondern auch Kunst, schöne Literatur, Romane und sogar Tragödien, wie nicht nur Müllners »Schuld« und Schillers »Räuber«, sondern selbst »Ödipus« und »Richard der Dritte« beweisen. Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es damit vor Stagnation und ruft jene unruhige Spannung und Beweglichkeit hervor, ohne die selbst der Stachel der Konkurrenz abstumpfen würde. Er gibt so den produktiven Kräften einen Sporn.
Karl Marx: Abschweifung über produktive Arbeit

Deutschlandfunk 5. Februar 2013 19.15 Uhr

Kindermord und Ordnungswahn
Fritz Langs erster Tonfilm > M < Feature von Werner Dütsch

Montag, 28.01.2013

Zeitbild Berlin

Im Berliner Zeughauskino werden begleitend zu der Ausstellung „Zerstörte Vielfalt. Berlin 1933-1938“ Spielfilme aus den letzten Jahren der Weimarer Republik und aus der Zeit des Nationalsozialismus gezeigt, die Bilder von Berlin, vor und nach der „Bereinigung“ zeigen, alle aber vor der Zerstörung durch den Bombenkrieg, der letzte davon Großstadtmelodie (R: Wolfgang Liebeneiner) von 1943. Im Programmheft heißt es dazu so schön: „Ein letztes Mal erstrahlt Berlin in Großstadtmelodie im alten Glanz auf der Leinwand. Kurz danach vernichteten die Bombenangriffe das Gesicht einer Stadt, deren Seele – Toleranz und Vielfalt – schon viel früher zerstört worden war.“

Ich freue mich vor allem auf Emil und die Detektive(1931) von Gerhard Lamprecht (am 16.3. und 17.3) und Die vier Gesellen (1938) (R: Carl Fröhlich) mit Ingrid Bergmann in ihrem ersten und einzigen deutschen Vorkriegfilm. (27.2.)

Zeitbild Berlin – 1. Februar bis 31. März im Zeughauskino

Dienstag, 22.01.2013

Sklaverei

Mit Spielbergs „Lincoln“ und Tarantinos „Django Unchained“ wird das Thema Sklaverei gerade auf der Leinwand verhandelt. Wer aber legte die geistigen Grundlagen für die Abschaffung, wie wurde der Skandal der Sklaverei der Menschheit zu Bewusstsein gebracht? In der ersten deutschsprachigen Biographie wird der zwanzigjährige Kampf des Briten William Wilberforce gegen die Sklaverei geschildert, der schließlich zum Sieg im Britischen Empire führte.

Wir erfahren auch einiges über die Gegner, einer davon scheint einem Tarantino-Film entsprungen: „…Banastre Tarleton, einer der rücksichtslosesten und prinzipienlosesten Gegner der Abschaffung des Sklavenhandels, was einiges heißen wollte. Der schneidige Tarleton hatte sich im amerikanischen Revolutionskrieg einen Namen als grausamer Schlächter gemacht…Unter anderem zwang er die Witwe eines amerikanischen Generals, dem Leichnam ihres exhumierten Mannes eine Mahlzeit zu servieren.“ 

Eric Metaxas, William Wilberforce. Der Mann der die Sklaverei abschaffte, SCM Hänssler,

Samstag, 12.01.2013

Letzte Versuchungen

Martin Scorseses Film “The Last Temptation of Christ” (USA, 1988) ist morgen, am 13. 1. um 19 Uhr im Berliner Kino Arsenal in der OF zu sehen.

Einige meiner Überlegungen zu diesem Film finden sich in den Zeitschriften shomingeki Nr.23, 2011 und in der Ausgabe der Zeitschrift Fuge Nr. 9 „Angesichts der Anfechtungen“, inspiriert von Überlegungen zum Ebenbild von Max Picard, die mich ebenso verstörten wie der Film:

„Christus wurde, als er die Gestalt des Menschen annahm, in der Menschengestalt ans Kreuz geschlagen: darum ist die Menschengestalt für immer getroffen, zu Ende getroffen, sie ist geächtet. Der Mensch hätte eigentlich von diesem Augenblick an aufhören müssen, auszusehen, wie ein Mensch. Es ist ein Wagnis, so auszusehen, wie ein Mensch, da Gott vergebens es gewagt hatte, wie ein Mensch auszusehen.“ 

Der großartigste Moment dieses Films ist für mich die Erweckung des Lazarus. In diesem Moment gibt der Film Jesus alle Macht, die er ihm sonst bestreitet.


atasehir escort atasehir escort kadikoy escort kartal escort bostanci escort