Donnerstag, 31.07.2014

Harun

Gestern Abend ist Harun Farocki gestorben. Bevor wir 2001 die new filmkritik aufmachten, fragten wir ihn, ob wir den Namen der Filmkritik übernehmen können. Harun war deren Redakteur, bis 1984, als sie aufhören mussten. Von seinen Filmen, seinen Texten – »Was ein Schneideraum ist«, »Notwendige Abwechslung und Vielfalt«, »Schuß-Gegenschuß: der wichtigste Ausdruck im Wertgesetz Film«, »Von Godard sprechen«, »Quereinfluss/Weiche Montage« – lerne ich andauernd. Ich bin von der Nachricht bestürzt und sehr traurig. Hier würdigt Alexander Horwath im Gespräch mit dem Deutschlandfunk Harun.

Mittwoch, 23.07.2014

Finding Vivian Maier (J. Maloof/C. Siskel, USA 2013)

Sie hat ein ganzes Leben in Fotonegativen hinterlassen, zusammen mit den sehr überschaubaren Besitztümern ihrer Existenz, in Kisten und Koffern verpackt. Aus diesen wird ihr Leben rekonstruiert, ja geradezu reanimiert. Sie hat scheinbar manisch fotografiert, doch nur selten Abzüge gemacht und auch viele Filme unentwickelt in Kisten gepackt. Das Fotografieren, der fotografische Moment war wohl ihre Manie, nicht das fertige Bild oder die ‚Aura des Kunstwerks’, mit der sie sich nicht beschäftigte. Gleichzeitig nahm sie Gespräche mit sich und anderen auf Kassetten auf, sprach mit Menschen auf der Straße. Sie war wohl von der Seele her Reporterin, hat diesen Berufswunsch so nie formuliert oder verfolgt. Sie sah sich selber als ‚Spionin’, die auf Kinder aufpasste, ein Job, den sie ihr Leben lang machte. Und nur durch Zufall blieben ihre Negative erhalten, gerieten in die Hände eines Menschen, der mehr darin sah und sich dann auf die Suche nach dieser Frau ohne Identität machte.

Der Film erzählt das Herausschälen dieses Lebensweges wie einen Krimi, mit vielen Geheimnissen, Fragezeichen und Spuren, die ins Nichts führen. Vielleicht steckt gar nichts besonderes dahinter, nur ein Leben, im Geheimen verbracht, nichts Ungewöhnliches, das durch die Nachforschungen verrätselt wird? Und vielleicht auch schön, das es Menschen gibt, die einfach tun, was sie tun, weil es sie interessiert, und nicht ehrgeizig damit beschäftigt sind, auch noch bedeutende Künstler’ sein zu wollen.

– Michel Freerix –

Sonntag, 20.07.2014

Medien und Traditionsgeister

Neue und Traditionsgeister eingetroffen, Juli 2014

„Über 90 Jahre Geisterbahn-Erfahrung – Neue und Traditionsgeister eingetroffen!“ (Kirmes in Düsseldorf, im Juli 2014)

Freud schreibt 1919, „dass der Sprachgebrauch das Heimliche in seinen Gegensatz, das Unheimliche übergehen lässt, denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist.“

Fritz Wepper - Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn - 1967 - Rolf Olsen
Fritz Wepper, Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn (1967 Rolf Olsen)

Hinter den Büchern: eine Pistole. Hinter dem Anschein: der Machtbeweis. Hinter dem Sohn: der Vater. „Dieser Film ist ein Tatsachenbericht“, ein St. Pauli-Krimi und ein Anti-LSD-Melodram. Kein Generationskonflikt, sondern die Verschmelzung von Vater und Sohn forciert das Drama. Eine Hamburger Ophelia halluziniert folgenschwer, sie verwechselt ihren Angebeteten mit dessen Papa! Die Alten und die Neuen, ununterscheidbar im Jahre 1967! Rolf Olsens Genrefilme sind – meist von ihm selbst geschrieben – so brachial wie subtil. Chirurgische Meißel.

Sein Mondo-Film Reise ins Jenseits (1975) ist ein weltumspannendes Grusel-Kompendium voll zwielichtiger Gestalten: Zahnärzte, Exorzisten und Elektroplasma-Experten, lauter schräge Onkels. Programmatisch ist die leibliche Präsenz des Gespenstigen, in Fleisch und Blut. Die internationalistische Geisterbahnfahrt rund um die Welt führt zuletzt in einen brasilianischen Verein, in dessen Partyräumen einander alle gegenseitig rituell und exzessiv vom Wahn befreien.

Stately Ghosts of England - 1965 - Frank de Felitta
Margaret Rutherford in The Stately Ghosts of England (1965 Frank de Felitta): „Shakespeare“

Ein kleiner Exkurs. Ein dokumentarisches Road-Movie. Die Miss-Marple-Darstellerin und ihr Ehemann (Stringer Davis), beide als sie selbst, sind unterwegs auf Gespensterjagd. Die Stationen ihrer Reise sind malerische Spukschlösser, deren Bewohner höflich Auskunft geben, während Portraits von den Wänden herabschauen. In einem leeren Flur, der so leer ist und furchteinflößend ausdrucksvoll wie sonst nur die Flure in Freddie Francis‘ Filmen, wird über Nacht eine Filmkamera als Wächter aufgestellt. Eine verborgene Treppe hinterm Bücherschrank ist in dieser Atmosphäre nichts weiter Bemerkenswertes. Unter gotischen Bögen soll der Gesang toter Zisterziensermönche mit einem Nagra-Tonbandgerät aufgezeichnet werden. Man lauscht ins Dunkel der Nacht. Bis der Abspann vorbei ist. Dann huscht noch die Schriftspur eines Fettstifts über den Filmstreifen. *

the
Die New York Times berichtete 1965, es seien 7.000 Meter Film beim Entwickeln flaschengrün geworden.

„Durch Rigipswand und Verstand / Nicht nur über die Leitung von der Telefonschnur / Die Mutter hört stundenlang stur Telefonstimmen zu und sagt: Ja, Ja./ Irgendjemand benutzt sie.“ (Das weiße Pferd: Inland Empire – „Höhere Gewalt“, 2013)

Sebastian Haffner schreibt über die Dämonen: „Sie haben sich in den Maschinen häuslich niedergelassen und verwirren von dort aus in althergebrachter Weise das Leben der Menschen.“ („Der Dämon in der Hörmuschel“, 1936)

Derrida hat ganz Ähnliches weniger gut formuliert. Sein Buch über „Marx‘ Gespenster“ griff ich mir aus einem Regal und las drin rum, bis ich endlich was fand, das mir gefiel: „… dass jeder mit seinen Gespenstern liest, denkt, handelt, schreibt, auch wenn er es auf die Gespenster des anderen abgesehen hat.“ Marx ereifert sich über Max Stirner, „der wie er von den Gespenstern besessen“ … „noch vor ihm “ … „alle Exorzismen ausprobiert, und mit welcher Eloquenz, mit welchem Jubel, mit welchem Genuss!“ In Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“ (1844) spukt Alles; „auch die sogenannte Menschheit ist als solche nur ein Gedanke (Spuk); ihre Wirklichkeit sind die Einzelnen.“

Night of the Demon
Dana Andrews in Night of the Demon (1957 Jacques Tourneur)

Wovon Marx tatsächlich besessen war, erfuhr ich erst aus Günter Schultes „Kennen Sie Marx?“ (1992). In vergleichbar „aufschlussreiches Erschrecken“ versetzte mich nur „Die grausame Wahrheit der Bibel“ (1995).
Ich hatte ja keine Ahnung, wie sehr es im „Kapital“ spukt. Dass dort ein Tisch nicht lange „ein ordinäres sinnliches Ding“ bleibt, denn „sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.
Die Ware ist ein Weibsteufel, ein Nachtgespenst namens Lilith. So bedrohlich weiblich wie Pamela Prati in Sukkubus (1989 Georg Tressler). Die Ware zerrt ihren Erzeuger in den Vergleich und durchs Verglichenwerden ins Verderben.

Und was geschieht mit den Töchtern? Das ist die wilde Sorge in einigen der schönsten Gruselfilme. Der gleiche brennendheiße Kummer befeuert aber auch Rolf Olsens Anti-LSD-Melodram Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn – und die Marxschen Schriften und den Fundamentalismus.

„Pelikan und Igel wohnen dort, darinnen hausen Eule und Rabe. Die Messschnur der Leere spannt er darüber aus…“ (Jesaia 34/11)

Stockstadt (Main)

Zughalt auf der Strecke Köln – Nürnberg, in Stockstadt am Main.
Es wäre doch schön, wenn ein solcher Wohnungsbau mal gleichermaßen effektvoll in Szene gesetzt würde, wie es einst mit den Spukschlössern gelang.

„Bei allem, dessen ich bisher Zeuge gewesen bin, und ebenfalls bei all den Wundern, die von den Amateuren des Geheimnisvollen in unserem Jahrhundert berichtet worden sind, wurde ein menschliches Medium benötigt.“ (Edward Bulwer-Lytton: „The Haunters and the Haunted“, 1859)

Reginald Beckwith in Night of the Demon (1957 Jacques Tourneur), Zelda Rubinstein in Poltergeist (1982 Tobe Hooper), Geraldine Chaplin in El Orfanato (2007 J.A. Bayona), Vera Farmiga in The Conjuring (2013 James Wan). Diese vier Medien fallen mir ein, ohne lange nachzudenken.

Stefan Ertl gab mir den Hinweis auf Rolf Olsens Dokumentarfilm über den schwedischen Jenseitsforscher Friedrich Jürgenson. Schon vor langer Zeit war ich in „Gdinetmaõ“ auf dessen Autobiografie eingegangen. Nun protokollierte ich in SGE#23 den von Olsen verfassten Kommentartext seines nur auf VHS vermarkteten und deshalb recht unbekannten Films.

1987 - Die Brücke zur Unsterblichkeit - Rolf Olsen

Last Gate To Eternity – Die Brücke zur Unsterblichkeit – Friedrich Jürgenson und seine andere Welt (Gestaltung, Kommentar und Realisation: Rolf Olsen; Regieassistenz: Ilse Olsen-Peternell; Schnitt: Barbara Riekel; Kamera und MAZ-Bearbeitung: Hubert Eisner; 1987 Scout Movies Production, München. Länge: 62 Minuten). *

Abtippen ist nicht mein Plaisir, aber Sätze wie die folgenden machen mir Freude: „Spätherbst – auch im Leben dieses Mannes, der in der Weisheit seines Alters, dem Frieden seiner Umgebung, nunmehr sein Lebenswerk vollenden möchte… Der ehemalige Opernsänger, Historiker und Archäologe verdient sich seinen Lebensunterhalt als Maler, dessen Bilder sich großer Beliebtheit erfreuen. Das versetzt ihn in die Lage, sich sein bedeutsames Hobby, die aufwendige Tonbandstimmenforschung, leisten zu können und dafür auch die nötige Zeit und Geduld mitzubringen.“

The Conjuring
The Conjuring (2013 James Wan)

Teleskop und Mikroskop machten vor langer Zeit das Unsichtbare sichtbar. In diese Traditionsreihe stellt Friedrich Jürgenson sein Instrument: das Audioskop, das Unhörbares hörbar macht. Die Stimme der verstorbenen Mama war es, die er eines Tages mit Vogelstimmen zusammen aufzeichnete, und die ihn mit Nachdruck auf die vielen anderen hinwies, mit denen es von nun an zu kommunizieren galt. Der Empfang der Totenstimmen verlief über eine Mittelwellenfrequenz, auf der Skala zwischen Moskau und Wien. Das Unvermeidliche, der Tod, das Schwert über uns, es verliere seine Bedrohlichkeit, sagt Jürgenson, sobald man die Toten singen und scherzen hört.

Friedrich Jürgenson - Erste Jahre der Forschung in Mölnbo
Friedrich Jürgenson, Jahre der Forschung in Mölnbo

HÖÖR, SÜDSCHWEDEN, NOVEMBER 1986. „Heute lebt Jürgenson mit seiner Lebensgefährtin im beschaulichen Städtchen Höör im gemütlichen Haus seines ehemaligen Freundes, des dahingeschiedenen Mannes von seiner jetzigen Partnerin.“ Dessen Mitteilungen aus dem Jenseits sind die schönsten im ganzen Film, weil sie durch einen lauten Sturm von Mittelwellenrauschen hindurch vom frohen Viervierteltakt eines Schlagers getragen und von Jürgenson einmal nicht geduldig wiederholt werden, bis mit Mühe zu verstehen ist, was er versteht, sondern hier der Forscher schubweise in den rhythmischen Gesang des Geistes einfällt in munterem Schwung. Es muss auch erwähnt werden, dass der Anblick von Jürgensons rotem Pullover neben der mit Pferden bedruckten roten Bluse seiner Lebensgefährtin vor dunkelroten Topfpflanzen im Bildhintergrund, als wildharmonische Bildvariante trauten Glücks, hier in der Mitte des Films einem Sich-Sträuben auf die Sprünge hilft, nicht mehr nur ganz Ohr zu sein, stattdessen schauen zu wollen – an diesem beschaulichen Ort namens Höör.

the uninvited 1944
Blick aufs Meer in The Uninvited (1944 Lewis Allens)

Als Friedrich Jürgenson zu Besuch bei einer Anhängerin, die Radiobotschaft „Hundekontakt in Vemmenhög“ erläutert, rauscht mitten hinein ins mühsam Unverständliche eine diagonale Wischblende und entführt uns von einem weißgetünchten, offenen Kamin auf eine regennasse und laut befahrene Straße. „Düsseldorf. Hier in der lebendigen Großstadt, Zentrum für Mode und zeitgemäße Industrie, ist auch der Sitz von Deutschlands größtem Tonbandstimmenforscherverein.“

Der Vereinsvorsitzende, Diplompsychologe und Schriftsachverständige Fidelio Köberle nahm Jürgensons Buch mit dem Titel „Sprechfunk mit Verstorbenen – Praktische Kontaktherstellung mit dem Jenseits“ als Skeptiker in die Hand, aber schon nach wenigen Seiten war er bekehrt und fand: „Der Mann ist echt, da ist was dran.“ – „Wie können Sie denn feststellen,“ wird Köberle gefragt, „ob es sich um ein paranormales Phänomen oder um einen Irrtum oder gar um eine Täuschung handelt?“ Nach nüchterner Darstellung zahlreicher verläßlicher Kriterien spricht der Experte von hochprozentiger Sicherheit. Aber auf die Frage „Kann man also Irreführungen aller Art so gut wie ausschließen?“ antwortet Köberle mit einem überraschend gutgelaunten: Nein. Man kann tricksen. Das ist sogar leicht, sagt er schmunzelnd. Gegen einen tricksenden Fachmann wären die Prüfer machtlos, sagt er ernst. Gefragt, ob es denn Betrüger gäbe, sagt er nachdenklich: „Im Anfang war es sicher kein bewußter Betrug, sondern Selbsttäuschung.“ Der Mann ist echt, das möchte man auch über Fidelio Köberle sagen.

Fidelio Köberle - 1987 - Die Brücke zur Unsterblichkeit
Fidelio Köberle

Mir gefallen auch die Räume, die Köberle bewohnt, die wahlweise mit Holzfurnier oder mit Audiokassetten dicht an dicht getäfelt sind.
Die großen Gespensterfilme, von The Uninvited (1944) bis The Conjuring (2013), stellen in ihr architektonisches Kraftfeld hinein, mitten ins ängstigende Mobiliar, die Maschinen der Melancholie: ein Klavier oder einen Kassettenrekorder.

13 Monde gingen vorüber, bis sich mein Interesse am „NSA-Skandal“ regte. Die Radiomeldung, der NSA-Untersuchungsausschuss erwäge, um sich vor Ausspähung zu schützen, den Rückgriff auf mechanische Schreibmaschinen, hielt ich erst für einen Scherz. Dann las ich es schwarz auf weiß. Bei einem der letzten Treffen wurde aus Gründen der Abhörsicherheit bereits laute Musik eingesetzt: Griegs Klavierkonzert.
Was wird gespielt, und was wird zu hören sein, wenn sich nach der Sommerpause ein Nordrhein-Westfälischer NSU-Untersuchungsausschuss dem ungleich größeren, dem NSU-Skandal widmet?

Der 91jährige Lewis Allen gab im Interview mit Tom Weaver, 1997, Auskunft über das Geheimnis, wie man einen wirklich guten Geisterfilm macht: „Nun, ich denke das Entscheidende ist, so ehrlich und geradeaus zu sein, wie Du kannst. Kein Schwindler zu sein. Ich behandelte The Uninvited, als ob ich daran glaubte. Das ist meine ganze Erklärung.“

Room 666
JLG in Room 666 (1982 Wim Wenders)

Fernsehen und Video waren die Gespenster im Hotel Martinez in Room 666, während der Filmfestspiele in Cannes (1982). Godard nahm sich Zeit, um das Kleine (den TV-Schirm), das Große (Hollywood) und das Kurze (die Werbung) als böse Mächte zu benennen, vor denen die Menschen machtlos „wie Kinder“ seien. Unter den vielen, die auf Wenders‘ Wunsch über den nahenden Tod des Kinos nachdenken sollten, bekamen nur zwei Musikuntermalung: JLG und RWF*. Fassbinder zog einen Bannkreis um sich und beschwor das „ganz nationale Kino Einzelner“.

Spielberg hingegen warnte vor Investoren, die das Zehnfache des Ausgegebenen als Einspielergebnis fordern. Sie seien geradezu gefährlich in ihrem Desinteresse an Filmemachern, die beispielsweise von ihrer Schulzeit erzählen wollen, oder davon wie es war, zum ersten Mal zu onanieren.
E.T. ist trotzdem entstanden, und lief als Abschlussfilm in Cannes.

Das „Heimliche-Heimische“ kehre als Unheimliches aus der Verdrängung wieder, schrieb Freud 1919. Doch: „Nicht alles was an verdrängte Wunschregungen und überwundene Denkweisen der individuellen Vorzeit und der Völkerurzeit mahnt, ist darum auch unheimlich.“

Ich versuche mir vorzustellen, Rolf Olsen (1919 – 1998) wäre mit einem Film in Cannes gewesen. Immerhin war 1982 Romero mit Creepshow eingeladen. Aber Olsens letzter Spielfilm – im Jahr zuvor – trug den Titel Ein Kaktus ist kein Lutschbonbon.

Georg Gerlich, Schloss am Meer 1965 Museum Charlotte Zander Bönnigheim
Georg Gerlich, „Schloss am Meer“, 1965, Museum Charlotte Zander, Bönnigheim. Mein Lieblingsmuseum.

Im Archiv: Mehr Verborgenes hinter Bücherregalen und mehr über E.T.

Freitag, 18.07.2014

Gelegenheiten

Heute, am 18. Juli 2014, werde ich aus meinem neuen Buch „Gelegenheiten“ (Edition Nachtgänge, Berlin, 2014) vorlesen. Die Lesung findet um 20:00 Uhr im Antiquariat Andreas Weigelt in der Proskauer Straße 4 in 10247 Berlin-Friedrichshain statt.
Besonderer Dank geht an Rüdiger Tomczak, in dessen Zeitschrift shomingeki zwei der Texte zuvor erschienen sind!

Donnerstag, 10.07.2014

Kein Fernsehbild

Eine vernachlässigte Synagoge in einer abgelegenen israelischen Siedlung rund um ein Forschungsprojekt am Rand der Wüste wird an einem 9. November Opfer eines Anschlags, bei dem eine Thorarolle verbrennt. Bald stellt sich heraus, dass diese Aggression aus der Mitte der Gesellschaft kam, von einem jungen jüdischen Mann aus bürgerlicher Familie ausging, Kriegsdienstverweigerer, Atheist, Veganer, der seinen Platz bisher nicht finden konnte.
Die Erzählung beginnt zwei Monate früher: „Der elfte September war ein Dienstag. Abi, der am Montag nichts in sein Tagebuch geschrieben hatte, begann seine Eintragung am Dienstagmorgen über den Terroranschlag auf Nahariya am Sonntag, dem neunten September, nachdem er erst gestern mit einem Tag Verspätung davon erfahren hatte. Der Anschlag in Nahariya war kein guter Auftakt für die neue Woche, doch inzwischen waren solche Zwischenfälle alltäglich, so dass sich der Überraschungseffekt abgenutzt hatte…“ Die Verspätung ergibt sich daraus, dass das Einwandererpaar Abi und Livia keinen Fernseher besitzt. Ein täglicher Blick am Morgen in die im Supermarkt ausliegenden Zeitungen mit den großen Schlagzeilen muss genügen. Oder die Information kommt über das Telefon: „Schon gehört, was passiert ist?“ „Was meinst du?“ „Der Anschlag.“ „In Nahariya?“ „In New York.“ „Nein, nichts davon gehört.“ Danach gibt Abi seiner Frau die Schilderungen weiter: „Sie scheinen unter Schock zu stehen. Sie wurden erstmals auf eigenem Gebiet angegriffen.“ Aber Bilder von den Ereignissen beschaffen sie sich nicht.-
In diesen Tagen ist der Roman eine rare Möglichkeit, die Blickrichtung einmal zu wechseln.
Chaim Noll. Die Synagoge, Roman, Verbrecher Verlag, Berlin, 2014,

Freitag, 04.07.2014

Heute

Mädchen, Mädchen (1967 Roger Fritz) 21:00 Zeughauskino Berlin
Nakinureta haru no onna yo (1933 Hiroshi Shimizu) 21:45 Sala Scorsese Bologna
Solo (1970 Jean-Pierre Mocky) 21:45 Cinémathèque française Paris
Rocker (1971 Klaus Lemke) 22:30 Münchner Freiheit

Mittwoch, 02.07.2014

Filme der Fünfziger XIII: Die Dritte von rechts

Der Revuefilm wurde im „Dritten Reich“ als deutsche Variante und Ersatz des amerikanischen Musicals entwickelt. Mit dem bundesdeutschen Film der 1950er Jahre wird das Genre nicht verbunden; immerhin nennt Wikipedia für die Zeit nach 1945 noch 19 Filmtitel, reichlich unscharf allerdings auch Hans Deppes „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“ (1953) oder „Bonjour Kathrin“ (1955). Es werden also deutlich weniger sein.

Geza von Cziffra, schon im Stummfilm aktiv, hatte 1943 mit der Eiskunstlaufrevue „Der weiße Traum“ eine der erfolgreichsten Produktionen des „Dritten Reiches“ realisiert; Anfang 1950 drehte er für die Real-Film in Hamburg den ersten Nachkriegsfilm mit Zarah Leander „Gabriela“ und machte darin das deutsche Publikum mit seiner Entdeckung, der Schauspielerin Vera Molnar, bekannt. Die Real-Film, 1947 von Walter Koppel mit Gyula Trebitsch gegründet, produzierte 1950 mit „Die Dritte von rechts“ bereits ihren siebzehnten Spielfilm. Nur die DEFA hatte mehr Filme gemacht.

Im Sommer 1950 wurde auf dem Real-Film Gelände ein großes neues Filmatelier errichtet, am 27. September fiel die erste Klappe für „Die Dritte von rechts“ und bereits am 1. Weihnachtstag war Premiere in Berlin. Cziffra war ein Routinier, ein schneller und verlässlicher Arbeiter. „Ich stehe auf dem Standpunkt, dass ein Film kein Kunstwerk sein kann. Ein Kunstwerk kann nur ein einzelner schaffen, bei der Herstellung eines Films wirken aber mindestens zehn Personen mit.“ Diese skurrile Formel äußert Cziffra in seiner zweiten Autobiografie „Ungelogen“ (1988), einer gekürzten und um einige Invektiven gegen den schon damals nicht mehr Jungen Deutschen Film angereicherten Fassung von „Kauf Dir einen bunten Luftballon“ (1975).

„Die Dritte von rechts“ war der erste deutsche Revuefilm nach dem Krieg. Vera Molnar ist innerhalb des Handlungsverlaufs zunächst nur eine kleine Tänzerin, die ein Star werden will, was dann auch wirklich eintritt. Dafür sorgt der schmierige Finanzier des Revuetheaters (Oskar Sima), der die Tänzerin in seine Wohnung lockt und vor Erfüllung seiner Wünsche angeschossen wird. Er fällt geradewegs aus der Senkrechten in die Waagerechte auf den gedeckten Abendtisch. Zu der Handlung gehören ein umtriebiger Kriminalkommissar (Willi Rose), ein spielsüchtiger Dirigent und Chef der Showtruppe (Peter van Eyck), seine enttäuschte Geliebte (Marianne Wischmann), ein Faktotum (Paul Kemp) und eine gute Kameradin (Grete Weiser), ein zwielichtiger Cabaret-Besitzer (Rudolf Platte) und ein blasser Tänzer (Robert Lindner), der Partner von Vera Molnar. Eva Pflug, die später durch die Fernsehserie „Raumpatrouille“ deutschlandweit bekannt wurde, ist ein Mitglied der Girltruppe.

Zwischen den Revueszenen und der Handlung gibt es keinerlei Verbindung; deshalb kündigt auch ein Nummerngirl auf Rollschuhen die Revuebilder aus Gesang, Ballett und Show-Orchester an. Alles gibt es doppelt und vielfach, die schiere Masse steht für das, was fehlt im Leben: Reichtum, Glanz und Sorglosigkeit, Lustreisen und die Erotik. Das ist das Zeitkolorit eines Films ohne Gegenwart oder Vergangenheit. Laya Raki tanzt mit Blütenkospen auf den Brüsten einen Schönheitstanz, Gerhard Wendland singt als Bill aus Mexiko (das Bild heißt „Mexikanische Vision“), Evelyn Künneke hat Auftritte als singende Pariser Puffmutter („Winke, winke, winke, winke, mit den Augen, mit den Händen, mit dem Mund“) und südländische Bardame („Wo sind die Männer noch so voll Glut und Leidenschaft, die soviel Freuden schafft…“). Noch ein Zigeunerlied und dann intoniert Bruce Low, mit viel Theaterschminke maskiert, die „Heimkehr des alten Negers auf dem Missouri, der enttäuscht die große Stadt verlässt und in seine paradiesisch schöne Tropenheimat zurückkehrt“. Alles, was Palmen hat und mit ihnen oder dem eigenen Körper wedeln kann, wiegt sich auf der Bühne am Ufer des Missouri. Nur ein nackter Busen, von Cziffra ins Bild gesetzt, musste aus dem Film entfernt werden.

Weil die Handlung etwas dürftig ist und die Revue so opulent, ist Vera Molnar, die gerade etwas tanzen und singen gelernt hatte, nicht sehr prominent ins Bild gesetzt. Sie war auch vom Pech verfolgt. Im Vorfeld des Films war bekannt geworden, dass sie wegen Schwarzhandels im Gefängnis gesessen hatte; im Frühjahr 1950 kam sie nach einem Verkehrsunfall mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus. Vorbei waren die Filmpläne mit Jean Cocteau und Helmut Käutner.

Bei den vielen Tanz- und Gesangsnummernwirkt die üppige Architektur von Herbert Kirchhoff fast schon selbstverständlich; Willy Winterstein, der Kameramann des Films, wurde kritisiert, weil er so statische Bilder geschaffen habe. Die Kritik verglich die Revue mit dem amerikanischen Musical – „The Barkleys of Broadway“ in Technicolor mit Fred Astaire lief zur gleichen Zeit in den Kinos – und senkte den Daumen. Aber der Revuefilm wollte gar kein Musical sein; in ihm jubilierte es vor und um die Kamera und alles sollte von vorn gesehen werden. Die spektakuläre Szenerie lehnt sich an die  Kino-Erlebnisse aus NS-Zeiten; alles war so schön wie früher, jetzt eben mit Paris. Mexiko, Amerika, dem „Negersänger Bruce Low und den Sunshines“, nur ohne nackte Busen. Die mussten auf Drängen der FSK herausgeschnitten werden.

Gleichzeitig mit dem Film erschienen auch die Lieder auf Schallplatte. Der katholische „film-dienst“ tat der Real-Film den Gefallen, „Die Dritte von rechts“ wegen „Pansexualisierung der Öffentlichkeit“ mit 3 = Abzuraten einzustufen. Hinter dem „Doppelten Lottchen“ und noch vor der „Sünderin“ rangierte die Revue 1951 auf Platz zwei der umsatzstärksten Filme.

Alle Zitate aus dem Pressematerial im Schriftgutarchiv der SDK. Kein Video, keine DVD.

Was nicht im filmportal steht:
Standfotograf: Michael Michaelis; Filmverleih: Allianz Film
Es singen: Evelyn Künneke, Iska Geri, Kurt Reimann, Bruce Low, Gerhard Wendland, Das Gellert Quintett, Vier Sunshines
Es spielen: Gerhard Gregor auf der Rundfunkorgel des NWDR Hamburg; Alfred Hause, der virtuose Geiger; Laszlo Nyaky, der ungarische Cymbal-Virtuose; das Horst-Wende-Trio und das verstärkte Unterhaltungsorchester des NWDR
Es tanzen: Vera Molnar, Robert Lindner, Maria Litto, Erwin Bredow, LayaRaki, Gabor Orban und Die Original Hiller-Girls unter der Leitung von Gertrude Söderling-Hiller.
Ausserdem: Hagenbecks Seelöwentruppe, Juan Coll’s Schimpansentruppe

Platten auf Ariston:
Vera Molnar und Gellert Quintett: Wenn ich will…
Evelyn Künneke und die drei Glorias: Winke, Winke/ Oh Juan.
Bruce Low: Leise rauscht es am Missouri.
Fritz Sengl: Du und das Glück/ Des Zigeuners Geige.

Auf Odeon:
Wenn ich will/ Leise rauscht es am Missouri

Auf Polydor (Grammophon):
Winke/Winke

In der Deutschen Kinemathek gibt es im Nachlass Kirchhoff/Becker (Signatur: 198904) 19 Architekturskizzen, ein Drehbuch, Graue Literatur, 932 s/w Fotos (incl. Negative), Presseausschnitte und Verträge.

Donnerstag, 26.06.2014

Plansequenzen sind eine Frage der Moral

In der inzwischen schon berühmten vierten Folge der HBO-Serie True Detective dringt Detective Rust Cohle (Matthew McConaughey), undercover getarnt mit White-Scum-Bikern, in ein housing complex ein, um Drogenproduzenten und -dealer auszurauben. Die Szene ist voll von Stereotypen: mehrere der schwarzen Drogendealer sind dick, alle haben moderne Schnellfeuerwaffen, hören Rap-Musik, Frauen und Kinder sind in den Räumen, in denen Drogengeld aufbewahrt wird und Drogen hergestellt werden, (das Kind, das alleine vor einem Fernseher sitzt (!), wird von Cohle in Sicherheit gebracht (!!)), die Frauen sind leicht bekleidet und in die Geschäfte involviert. Ist diese Darstellung rassistisch? (Das ist sicher nicht die erste Szene, wo man diese Frage, wie auch die nach dem Sexismus der Serie stellen könnte.) Relativierend könnte man anführen, dass in der selben Folge genau zuvor der Biker’s Club ebenso ausführlich wie stereotyp gezeigt wurde: skinny old men, Schmutz, nackte Stripperinnen, Brutalität, Wahnsinn. Ein Unterschied ist jedoch, dass die Biker sich nicht in einer Wohnsiedlung verschanzen, keine Kinder vor Ort sind und von den Frauen keine Gefahr ausgeht, weil eher ausgebeutet und Opfer. Es gibt aber noch einen Unterschied. Der Überfall des Drogenhauses ist in einer virtuosen Plansequenz gedreht, die gleich nach der Ausstrahlung die Zuschauer begeisterte, wie sich im Internet leicht ablesen lässt. Wer nun also die berühmte Plansequenz aus True Detective sucht, der sieht, wie Weiße in Polizeiuniform (die Tarnung der Biker) in ein Schwarzenghetto eindringen, das ziemlich verwahrlost ist, wo die Gewalt sofort eskaliert und Schießereien entstehen, weil dort so viele Waffen im Umlauf sind. Und wer die ganze Episode gesehen hat, wird sich speziell diese Szene auch mehrmals ansehen, wenn man sich für die Technik begeistert. Und so sieht man auch, wie Weiße (Darsteller McConaughey, der die ganze Szene über ruhig und kontrolliert auftritt, Regisseur Cary Fukunaga, Kameramann Adam Arkapaw und Komponist T Bone Burnett, der das ganze mit düsteren Klängen untermalt) furios den schwarzen Chaos-Dschungel bewältigen. An den Biker’s Club erinnert man sich erst mal nicht mehr, der war konventionell aufgelöst. Mit dem Internet und der Möglichkeit des instant replay wird die Plansequenz zu einem nicht zu unterschätzenden Mittel der Schwerpunktsetzung.

Sonntag, 22.06.2014

Sonntag

„Eine gewisse Neigung hatte er für das Kino und forderte Isolde schon am ersten Abend auf, ihn in eines zu begleiten. Isolde schlug ihm verschiedene vor : da war ein Kriminalfall, ein Wild-West-Drama, etwas Belehrendes über die Gefahren der Trunksucht, ein Sportstück und eine Liebestragödie. „Gehen wir in das nächste,“ sagte Strowisch; es ist mir gleich, was ich sehe.“ Isolde war erstaunt und fragte,warum er so gern gehe, wenn das Stück ihn doch nicht interessiere. „Es ist mir angenehm,“ sagte er, „wenn Bilder an mir vorübergleiten. Es gibt mir das Gefühl, auf Reisen zu sein.“ “
Diese Romanfigur ist aber zuvor durch eine weitaus exzentrischere Äußerung eingeführt worden. „Als er etwa sechs Jahre alt war, beunruhigte er uns Geschwister einmal durch die Erklärung, er könne nicht an Gott glauben. Wir drangen in ihn, das sei durchaus notwendig, und warum er es denn nicht tun wolle; da sagte er: wenn es einen richtigen Gott gäbe, so hätte er nicht nach sechs Tagen Arbeit schon auszuruhen brauchen, woraus dann der lausige Sonntag entstanden sei…Wir anderen pflegten uns wie die Narren auf den Sonntag zu freuen, er dagegen sagte, der Sonntag mache ihm übel und er möchte ihn ausspucken, weil man da nicht arbeiten dürfe.“

(Ricarda Huch, Der wiederkehrende Christus, eine groteske Erzählung, 1926)

Dienstag, 17.06.2014

Remember Chicago

* Kevin B. Lee: TRANSFORMERS: THE PREMAKE (complete version)

[jetzt auch auf vimeo, ohne Zugangssperren]


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