King Vidors Beyond the Forest (1949) kommt mir wie eine Fortsetzung von John Fords Doctor Bull (1933) vor. Hier wie da ein Kaff, das in einer trostlos gewordenen Vergangenheit verharrt, hier wie da untröstliche Frauen, die wegwollen, aber nicht wegkönnen, hier wie da der Zug, der in die Zukunft fährt („Chicago, Chicago, Chicago!“), aber den keine von ihnen besteigen darf, hier wie da ein Armenarzt, der die Stellung hält (bei Ford gespielt von Will Rogers, bei Vidor von Joseph Cotten).
Ein Unterschied besteht darin, dass es bei Ford schließlich einige doch noch in den Zug schaffen und bei Vidor am Schluss eine Leiche auf dem Bahnsteig liegt. Der zweite wesentliche Unterschied, der sich aus dem ersten unmittelbar ergibt, ist, dass an die Stelle von Fords meisterlich ausgeglichenem Stil ein grandios-manieristischer tritt, der an die Filme Sirks, inbesondere Written on the Wind, erinnert. Bette Davis verleiht ihrer Rolle bei Vidor eine ebenso triebhafte, selbstzerstörerische Kraft wie Dorothy Malone der ihren bei Sirk.
Der deutsche Verleihtitel Der Stachel des Bösen kann sich auf den Vorspruch zu Vidors Film berufen: „This is the story of evil …“ Ja, doch das Böse wird hier aus seiner Wurzel, als „Partikularwille“ (Schelling) entwickelt, es ist (tragische) Potentialität. Das heißt, die Frau, die Vidor zeigt, ist nicht ohne Grund böse, wird nicht ohne Grund zur Mörderin. Sie will sich ganz begreiflicherweise verwirklichen, aber kann es nicht. Beyond the Forest schildert gescheiterte Selbstverwirklichung. Es ist, recht verstanden, ein feministischer Film.
Noël Burch weist in seinem Buch De la beauté des latrines (L’Harmattan 2007), das mich überhaupt auf den Film aufmerksam gemacht hat, auf die Szene hin, in der eine neunfache Mutter, deren „Massenzucht“ Rosa Moline (Davis) gerade noch verspottet hat, über sie sagt, sie sei doch immer etwas Besonderes gewesen, „it’s hard on Rosa to be tied to a town like this“.
Burch arbeitet die feministische Lesart der Melodramen Vidors heraus: „In Beyond the Forest wird, wie schon in Duel in the Sun, die Unterdrückung der Frauen mit der der ‚Farbigen‘ in einen Zusammenhang gebracht.“ In Forest gibt es nämlich eine zweite Rebellin, es ist die indianische Hausangestellte der Molines, Jenny (Dona Drake), die Rosa fast aufs Haar gleicht. Sie hat nicht die geringste Lust auf ihren Putz- und Koch-Job und auf die Großtuerei der Dame des Hauses. Das Double Jenny deutet den tragischen Aufstand der Rosa materialistisch. „Sie macht sich lustig über die Rezepte, die Rosa aus Illustrierten ausgeschnitten hat, und ist überhaupt diejenige, die den Finger auf die Entfremdung Rosas legt.“ Diese Entfremdung äußert sich eben auch in kleinbürgerlichen Abstiegsängsten. Sie formen sich in einer alptraumhaften Passage aus, in der es Rosa, die ihren Mann, den Arzt, verlassen hat und endlich in Chicago ihr Glück machen will, in ein Elendsviertel verschlägt.
Jenny ist es aber wiederum, die der unglücklichen Mitkämpferin in deren Agonie beizustehen versucht. Dieser schockierende Schluss, aber auch die Bilder von den Flammen, die Tag und Nacht aus dem Sägewerk des Kaffs schlagen und Rosa nicht zur Ruhe kommen lassen, prägen sich tief ein (Kamera: Robert Burks).
Burch schreibt, dass die Luzidität dieses Meisterwerks sich nicht Vidor allein verdanken könne, der im selben Jahr The Fountainhead, „einen Film von trauriger Berühmtheit“, drehte. Ein Film wie Beyond the Forest ist immer ein kollektives Werk. Leider vergisst Burch, an dieser Stelle Lenore J. Coffee zu erwähnen, die das Drehbuch schrieb, eine Überlebende jener frühen Zeit des Kinos, die noch von Frauen (als Produzentinnen, Regisseurinnen und Autorinnen) mitbestimmt war.
De la beauté des latrines ist eine polemische Abrechnung mit der herrschenden Kinogeschichtsschreibung, gerade auch der à la parisienne, die Burch mit wenigen Ausnahmen für maskulinistisch und bürgerlich hält (die Bevorzugung von Hawks scheint ihm da ebenso typisch wie die der Coens, von Lynch oder Tarantino). Er überzieht oft, auch frage ich mich, ob er sich immer die richtigen Gegner wählt (sein Titel bezieht sich auf die Autonomieästhetik von Théophile Gautier, der einmal schrieb, Kunst dürfe kein nützlicher Ort sein, denn der nützlichste Ort im Haus sei immer der Abort. Doch wer Gautiers Gedichte liest, etwa die Sammlung Émaux et Camées, wird sie eher elegant als elitär finden. Sie sind insofern nützliche Begleiter, oft liedhaft, durchaus populär). Dennoch ist Burchs Streitschrift höchst anregend, allein schon wegen solcher Analysen wie der der Melodramen von King Vidor.